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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 27.05.2008
Aktenzeichen: B 2 U 5/07 R
Rechtsgebiete: SGG, VwZG, ZPO


Vorschriften:

SGG § 67 Abs 1
SGG § 85 Abs 3 S 2
SGG § 87 Abs 1 S 1
SGG § 87 Abs 2
SGG § 64 Abs 2 S 1
VwZG § 3 Abs 3
ZPO § 180 S 1
ZPO § 180 S 2

Entscheidung wurde am 23.10.2008 korrigiert: die Rechtsgebiete, die Vorschriften und der Verfahrensgang wurden geändert, Stichworte und ein amtlicher Leitsatz wurden hinzugefügt
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand scheidet aus, wenn der Prozessbevollmächtigte durch seine Büroorganisation nicht sichergestellt hat, dass eine an einem Samstag eingehende Sendung auch den Eingangsstempel dieses Samstags und nicht den des darauf folgenden Werktags erhält.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 2 U 5/07 R

Der 2. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 27. Mai 2008 durch den Vorsitzenden Richter Steege, die Richter Mütze und Dr. Becker sowie die ehrenamtlichen Richter Schneidinger und Lippert für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 2007 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.

Der Streitwert wird auf 33.982,22 Euro festgesetzt.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem die Beklagte die Klägerin für rückständige Unfallversicherungsbeiträge eines von ihr beauftragten Unternehmens in die Haftung nimmt.

Die klagende Aktiengesellschaft ist im Baugewerbe tätig. Sie beauftragte die W. P. GmbH & Co KG (W-KG) als Nachunternehmer mit der Erbringung von Bauleistungen. Über das Vermögen der W-KG wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Paderborn vom 1. Januar 2004 das Insolvenzverfahren eröffnet.

Nach Anhörung nahm die beklagte Berufsgenossenschaft die Klägerin mit Haftungsbescheid vom 14. Februar 2005 wegen eines Teils der rückständigen Beiträge der W-KG in Höhe von 33.982,22 Euro in Anspruch. Den Widerspruch gegen diesen Bescheid wies sie zurück. Der Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2005 wurde laut Postzustellungsurkunde am Samstag, dem 24. Dezember 2005 (Heiligabend), in den Briefkasten der Kanzlei des von der Klägerin bevollmächtigten Rechtsanwaltes eingelegt, in der sich zu diesem Zeitpunkt niemand aufhielt.

Die hiergegen von dem Bevollmächtigten der Klägerin erhobene Klage ist am 27. Januar 2006 beim Sozialgericht (SG) eingegangen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Juli 2006), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 26. Januar 2007). Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist der streitige Haftungsbescheid rechtmäßig ergangen. Die Beklagte habe einen entsprechenden Anspruch auf der Grundlage des § 150 Abs 3 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) iVm § 28e Abs 3a Viertes Buch Sozialgesetzbuch.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts, insbesondere von Art 3 und Art 12 des Grundgesetzes, Art 49 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft sowie der §§ 168, 150 SGB VII geltend. Zweifel an der Einhaltung der Klagefrist, mit denen sie erstmals im Revisionsverfahren konfrontiert worden sei, seien nicht begründet. Beim Einwurf des Widerspruchsbescheides in den Briefkasten am 24. Dezember 2005 sei die Kanzlei nicht besetzt gewesen, sodass nicht mehr mit einem Zugang an diesem Tag habe gerechnet werden können. Sollte die Klagefrist gleichwohl versäumt sein, müsse ihr jedenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Der Widerspruchsbescheid sei von einer der beiden wechselseitig mit der Postbehandlung und Fristenbearbeitung betrauten Angestellten, die in diesen Fragen geschult, überwacht, erfahren und zuverlässig seien, erst am nächsten Werktag, dem 27. Dezember 2005, aus dem Briefkasten genommen und mit dem aktuellen Eingangsstempel versehen worden. Entsprechend den Weisungen der Kanzlei sei der Briefumschlag hinter den Bescheid geheftet worden. Weiterhin sei als Fristablauf der 27. Januar 2006 sowie eine Vorfrist für den 21. Januar 2006 und eine zweite Vorfrist für den 25. Januar 2006 eingetragen worden. Dabei sei versehentlich der Fristberechnung nicht das Zustelldatum, sondern das Datum des Eingangsstempels zugrunde gelegt worden. Aufgrund der bisherigen sorgfältigen und fehlerlosen Arbeit der Angestellten habe für den bearbeitenden Rechtsanwalt bei Vorlage der Sache keine Veranlassung bestanden, die Richtigkeit der eingetragenen Frist zu überprüfen. Daher sei erst am 27. Januar 2006 Klage erhoben worden. Da auch das SG und das LSG die Verfristung nicht bemerkt hätten, sei die Einhaltung der Jahresfrist des § 67 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgrund höherer Gewalt nicht möglich gewesen.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Januar 2007 und des Sozialgerichts Detmold vom 12. Juli 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die zulässige Revision ist unbegründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht die Berufung gegen das Urteil des SG zurückgewiesen (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG). Allerdings war bereits die Klage unzulässig, sodass das SG keine Sachentscheidung hätte treffen dürfen. Die Zulässigkeit der Klage ist eine von Amts wegen auch im Revisionsverfahren zu beachtende Prozessvoraussetzung (BSGE 10, 218, 219; 42, 212, 215; Meyer-Ladewig in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 160 RdNr 28d).

Die Klage ist unzulässig, weil die Klagefrist nicht eingehalten wurde (dazu unter 1) und die Voraussetzungen für die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorliegen (dazu unter 2).

1. Die Klagefrist bestimmt sich nach § 87 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGG. Sie beträgt einen Monat nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides.

Der Widerspruchsbescheid wurde dem Bevollmächtigten der Klägerin am 24. Dezember 2005 durch Zustellung per Postzustellungsurkunde bekannt gegeben. Zwar muss ein Widerspruchsbescheid nicht grundsätzlich zugestellt werden (vgl § 85 Abs 3 Satz 1 SGG). Wählt die Behörde jedoch den Bekanntgabeweg der Zustellung, so gelten gemäß § 85 Abs 3 Satz 2 SGG die §§ 2 bis 15 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG). Für die Zustellung mittels Postzustellungsurkunde verweist § 3 Abs 3 VwZG (in der bis zum 31. Januar 2006 in Kraft gewesenen, hier noch maßgebenden Fassung) auf die §§ 177 bis 181 der Zivilprozessordnung (ZPO). Danach kann, wenn in der Kanzlei (dem "Geschäftsraum") des bevollmächtigten Rechtsanwalts niemand angetroffen wird, die Zustellung durch Einlegen in den Briefkasten bewirkt werden (§ 180 Abs 1 ZPO). Dass die Voraussetzungen für eine solche Ersatzzustellung vorgelegen haben, ist durch die Zustellungsurkunde gemäß § 182 Abs 1 Satz 2, § 418 Abs 1 ZPO bewiesen. Ein Gegenbeweis iS des § 418 Abs 2 ZPO wurde nicht geführt. Nach § 180 Satz 2 ZPO wird mit der Einlegung des Schriftstücks in den Briefkasten die Zustellung fingiert. Das bedeutet, dass es für die Wirksamkeit der Zustellung nicht darauf ankommt, ob und wann der Betroffene von dem zugestellten Schriftstück tatsächlich Kenntnis erlangt (vgl BVerwG NJW 2007, 3222; BGH NJW 2007, 2186; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl 2006, § 180 RdNr 7). Daher ist es entgegen der Ansicht der Klägerin unerheblich, ob zum Zeitpunkt der Zustellung am 24. Dezember 2005 noch am selben Tag mit einer Leerung des Briefkastens der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten gerechnet werden konnte. Die in diesem Zusammenhang von der Klägerin in Bezug genommene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zu der Bekanntgabe einer Willenserklärung nach § 130 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB> (vgl Urteil vom 5. Dezember 2007 - XII ZR 148/05 - NJW 2008, 843) kann nicht auf die vorliegende Konstellation übertragen werden, da im Falle des § 130 BGB gerade keine Fiktion der Bekanntgabe geregelt ist.

Gilt der Widerspruchsbescheid damit als am 24. Dezember 2005 bekannt gegeben, so endete die Klagefrist nach § 87 Abs 1 Satz 1, § 64 Abs 2 Satz 1 SGG am Dienstag, dem 24. Januar 2006. Fristverlängernde Tatbestände iS des § 64 Abs 3 SGG sind nicht ersichtlich. Auch war die Rechtsbehelfsbelehrung des Widerspruchsbescheides ordnungsgemäß, sodass nicht etwa die Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG zum Tragen kommt. Der Eingang der Klage beim SG am 27. Januar 2006 war damit verfristet.

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG kommt nicht in Betracht. Zwar kann grundsätzlich auch in der Revisionsinstanz hinsichtlich der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden und es können insoweit vom Revisionsgericht auch Feststellungen getroffen werden (vgl BSG Urteil vom 12. November 1981 - 7 RAr 86/80 - Juris RdNr 18 mwN; BGHZ 7, 280, 284; BFHE 124, 487, 492 f). Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung liegen jedoch im vorliegenden Fall nicht vor. Denn die Klägerin war nicht iS des § 67 Abs 1 SGG "ohne Verschulden" verhindert, die Klage fristgerecht zu erheben.

Ein Verschulden liegt vor, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zuzumuten war. Dabei ist das Verschulden eines Bevollmächtigten - hier der prozessbevollmächtigten Rechtsanwälte - dem vertretenen Beteiligten gemäß § 73 Abs 4 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO stets wie eigenes Verschulden zuzurechnen (BSG SozR 3-1500 § 67 SGG Nr 21 S 60 mwN). Für ein Verschulden von Hilfspersonen gilt dasselbe dann, wenn dieses vom Bevollmächtigten selbst zu vertreten, also als dessen eigenes Verschulden anzusehen ist. Das ist ua der Fall, wenn die Nichteinhaltung der Frist darauf beruht, dass der Rechtsanwalt es versäumt hat, durch eine zweckmäßige Büroorganisation, insbesondere hinsichtlich der Fristen- und Terminüberwachung und der Ausgangskontrolle, ausreichende Vorkehrungen zur Vermeidung von Fristversäumnissen zu treffen (BSGE 61, 213, 215 = SozR 1500 § 67 Nr 18 S 43; Curkovic in Hennig, SGG, Stand: August 2007, § 67 RdNr 21).

Den Prozessbevollmächtigten trifft vorliegend ein der Klägerin zuzurechnendes Organisationsverschulden. Grundsätzlich kann ein Rechtsanwalt die Berechnung üblicher und in seiner Praxis häufig vorkommender Fristen sowie die Führung eines Fristkalenders seinem gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büropersonal überlassen (BSG SozR 3-1500 § 67 Nr 10 S 27; BVerwG Buchholz 310 § 60 VwGO Nr 194 S 7; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 67 RdNr 9). Überlässt der Anwalt die Berechnung einer solchen Frist seinem Personal, muss er jedoch durch entsprechende Weisungen sicherstellen, dass Fehlerquellen bei der Berechnung soweit wie möglich ausgeschlossen sind. Diesen Anforderungen hat die Büroorganisation in der Praxis des Bevollmächtigten der Klägerin nicht entsprochen.

Nach dem Revisionsvorbringen erhielt der erkennbar am 24. Dezember 2005 in den Briefkasten der Kanzlei eingelegte Widerspruchsbescheid den Eingangsstempel vom 27. Dezember 2005. Es ist nicht vorgetragen, dass dies entgegen einer bestehenden Weisung des Inhalts erfolgte, dass der Eingangsstempel immer das Datum des Zugangs auszuweisen hat. Als Fehler der Angestellten wird nicht die Abstempelung mit einem vom tatsächlichen Zugang abweichenden Datum, sondern die Zugrundelegung dieses Datums bei der Fristberechnung angesehen. Wenn jedoch durch die Büroorganisation nicht sichergestellt ist, dass eine am Samstag eingegangene Sendung auch den Eingangsstempel dieses Samstags und nicht den des darauffolgenden Werktages erhält, ist durch diesen Organisationsmangel ein Potential für Fehler bei der Fristberechnung geschaffen worden (BFH Beschluss vom 27. September 2005 - XI B 123/04 - Juris RdNr 10; Beschluss vom 8. November 2006 - VII R 20/06 - Juris RdNr 9), welches sich auch gerade hier realisiert hat. Der Fehler der Angestellten bei der Fristberechnung stellt sich aus dieser Sicht als ein Versehen dar, welches seine Wurzel in der fehlerhaften Büroorganisation der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten der Klägerin hat. Wäre der Widerspruchsbescheid mit dem Eingangsstempel des Tages des Zugangs versehen worden, so wie es sich dem Vermerk auf dem Briefumschlag entnehmen ließ, wäre es zu dem Fehler bei der Fristberechnung nicht gekommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Halbs 2 SGG iVm § 154 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs 1, 63 Abs 2 Satz 1 Gerichtskostengesetz (GKG) in der ab 1. Juli 2004 geltenden Fassung, die hier gemäß § 72 Nr 1 GKG anzuwenden ist.

Ende der Entscheidung

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