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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 31.08.2000
Aktenzeichen: B 3 P 18/99 R
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 131 Abs 1
SGG § 131 Abs 2
SGG § 131 Abs 3
SGG § 84 Abs 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 3 P 18/99 R

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Pflegekasse der Betriebskrankenkasse des Landes Berlin, Bundesallee 13-14, 10719 Berlin,

Beklagte und Revisionsbeklagte.

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 31. August 2000 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ladage, die Richter Dr. Naujoks und Schriever sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Dufner und Lohre

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 1998 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der Kläger begehrt von der beklagten Pflegekasse Pflegegeld nach Pflegestufe I der sozialen Pflegeversicherung gemäß dem Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI).

Der Kläger ist im Jahre 1939 geboren. Er bezieht laufend Hilfe zur Pflege nach den §§ 68, 69 Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Auf seinen am 4. April 1995 bei der Beklagten gestellten Antrag auf Pflegegeld nach dem SGB XI holte diese ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vom Oktober 1995 ein, wonach der Kläger an Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, einem HWS- und LWS-Syndrom, einem Schulter-Arm-Syndrom rechts sowie einem psychovegetativen Syndrom mit Depressionen und Platzangst leidet und der Hilfebedarf insgesamt etwa eine Stunde täglich beträgt. Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers ab (Bescheid vom 21. Februar 1996). Der Bescheid enthielt neben der eigentlichen Entscheidung zahlreiche weitere Ausführungen, so zu der Möglichkeit einer neuen Antragstellung im Falle einer Verschlechterung des Gesundheitszustands (1), zu der Möglichkeit eines Antrages auf Leistungen nach dem BSHG bei der "Abteilung Sozialwesen Ihres Bezirksamtes" (2), zum Ablauf eines eventuellen Widerspruchsverfahrens (3) und zu eventuellen Rückfragen (4). Die Rechtsbehelfsbelehrung findet sich zwischen den Erklärungen zu (2) und (3). Die Ausführungen zu den Punkten (1) bis (4) umfassen etwa eine halbe Seite, während sich die Rechtsbehelfsbelehrung auf einen Satz beschränkt. Außerdem enthalten die Ausführungen zu den Punkten (2) und (3) mehrfach Dickdruck, während die dazwischen stehende Rechtsbehelfsbelehrung im Dünndruck erscheint. Ferner wird ausgeführt, daß für die Prüfung des Widerspruchs neue ärztliche Unterlagen erforderlich seien, weshalb sich der Kläger mit seinem Arzt in Verbindung setzen und mit dem Widerspruch dessen Attest einreichen solle.

Auf den am 26. Februar 1996 abgesandten Bescheid bat der Kläger mit Schreiben vom 31. März 1996 um das eingeholte Gutachten und eine Verlängerung der Widerspruchsfrist um einen Monat ab Empfang des Gutachtens, da er über die Einlegung eines Widerspruchs nachdenken müsse. Das Gutachten wurde dem Kläger am 2. April 1996 übersandt.

Am 29. Juli 1997 erhob der Kläger Untätigkeitsklage und trug vor: Bereits am 8. April 1996 habe er die Beklagte um einige Änderungen im Gutachten, am 15. Oktober 1996 um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gebeten. Das Sozialgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen (Urteil vom 22. Januar 1998), daß eine Untätigkeit der Beklagten nicht vorgelegen habe, weil der Kläger gegen den Bescheid vom 21. Februar 1996 keinen Widerspruch eingelegt habe. Im Berufungsverfahren hat der Kläger vorgetragen, gegen den Bescheid habe er mehrfach telefonisch und schriftlich Widerspruch eingelegt. Auf Anregung des Landessozialgerichts (LSG) hat die Beklagte die Klageschrift auch als Widerspruch angesehen und diesen wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen (Widerspruchsbescheid vom 8. September 1998). Das LSG hat sodann die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 16. Dezember 1998) und ausgeführt, daß die vom Kläger erhobene Untätigkeitsklage durch die Erteilung des Widerspruchsbescheides erledigt und die im Wege der Klageänderung erhobene Anfechtungs- und Leistungsklage unbegründet sei; das Schreiben vom 31. März 1996 habe die Widerspruchsfrist nicht gewahrt, so daß offenbleiben könne, ob das Schreiben überhaupt einen Widerspruch darstelle.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung formellen Rechts: Das LSG habe den Beweisantrag in seinem Schriftsatz vom 22. September 1998 ohne hinreichende Begründung übergangen. Es habe die Klage nicht ohne Sachprüfung abweisen dürfen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Dezember 1998 und des Sozialgerichts Berlin vom 22. Januar 1998 sowie den Bescheid vom 21. Februar 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. September 1998 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

II

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Für eine - positive oder negative - Entscheidung der Sache durch den Senat reichen die vom LSG getroffenen Feststellungen nicht aus.

1. Die Revision rügt mit Recht, daß das LSG statt eines Sachurteils ein Prozeßurteil erlassen hat; der Verfahrensfehler - Verstoß gegen § 131 Abs 1 bis 3 SGG - führt zur Zurückverweisung der Sache. Das LSG hat zu Unrecht angenommen, daß die Widerspruchsfrist des § 84 Abs 1 SGG versäumt worden ist.

Das LSG hat seine Entscheidung ausschließlich darauf gestützt, daß der Kläger gegen den Bescheid vom 21. Februar 1996 nicht rechtzeitig Widerspruch erhoben habe, weil das Schreiben vom 31. März 1996 - unabhängig von der Frage, ob es überhaupt einen Widerspruch darstelle - bei der Beklagten nicht bis zum Ablauf der einmonatigen Widerspruchsfrist (§ 84 Abs 1 SGG), sondern erst am 2. April 1996 eingegangen sei. Dabei liegt der entscheidende Fehler noch nicht darin, daß die Monatsfrist nicht erst, wie das LSG meint, am 31. März 1996 (zudem ein Sonntag), sondern bereits am 29. März 1996 abgelaufen gewesen wäre, weil dieser Tag nach seiner "Zahl" demjenigen Tage entspricht, in den das Ereignis (Bekanntgabe des Bescheides am 29. Februar 1996) gefallen war (§ 64 Abs 2 Satz 1 SGG).

Das LSG hat nämlich übersehen, daß die Widerspruchsfrist durch den Bescheid vom 21. Februar 1996 nicht in Gang gesetzt worden, somit die Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG maßgeblich geworden ist und diese vom Kläger eingehalten worden sein kann. Da das Einhalten der Widerspruchsfrist zu den Prozeßvoraussetzungen gehört, kann der Senat grundsätzlich eine eigenständige Prüfung von Amts wegen vornehmen und dazu auch Tatsachen selbst feststellen und werten (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 169 RdNr 3, § 163 RdNr 5a).

Die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides vom 21. Februar 1996 genügt nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen, wie sie von der Rechtsprechung zu § 36 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) und § 66 SGG entwickelt worden sind. Danach muß eine Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelbelehrung nicht nur richtig und vollständig sein. Sie darf auch nicht durch weitere Informationen überfrachtet werden, durch Umfang, Kompliziertheit, Hervorhebung des Unwichtigen uä Verwirrung stiften oder gar den Eindruck erwecken, die Rechtsverfolgung sei schwieriger, als dies in Wahrheit der Fall ist; bei derartigen Unklarheiten kann eine Gesamtwertung ergeben, daß die Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelbelehrung als unrichtig anzusehen, möglicherweise - was genügt - für fristbezogene Irrtümer ursächlich und daher zum Ingangsetzen der Monatsfrist ungeeignet gewesen ist (vgl zum Ganzen BSGE 69, 9, 14 = SozR 3-1500 § 66 Nr 1; Danckwerts in Hennig, SGG, Stand Juli 1997, § 66 RdNrn 3, 6, 10; Meyer-Ladewig, aaO, § 66 RdNrn 5, 11a - jeweils mwN; Schroeder-Printzen, SGB X, 3. Aufl 1996, § 36 RdNrn 7, 15).

Bei der gebotenen Gesamtbewertung aller Umstände ist davon auszugehen, daß die Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides "unrichtig" iS von § 66 Abs 2 Satz 1 SGG, nämlich vom Horizont eines durchschnittlichen Empfängers aus betrachtet in mehrfacher Hinsicht irreführend und geeignet war, die Fristversäumnis des Klägers zu verursachen. Abgesehen von der im Text leicht zu überlesenden Platzierung konnte durch die der Belehrung über Frist und Ort der Widerspruchseinlegung hinzugefügten Bemerkungen beim Kläger der Eindruck entstehen, daß der Widerspruch mit einer Begründung versehen werden mußte, der außerdem noch ärztliche Unterlagen beizufügen waren, während es nach dem Gesetz zur Fristwahrung genügt hätte, den Widerspruch auch ohne jede Begründung einzulegen. Außerdem wurde der Anschein erweckt, daß nur neue medizinische Gesichtspunkte die Einlegung eines Widerspruches sinnvoll machten. Diese im Gesetz nicht vorgesehenen Erfordernisse innerhalb der Frist von einem Monat zu erfüllen, ist im Vergleich zu dem schlichten Einlegen des Widerspruchs eine deutliche Erschwerung, die einen Widerspruchsführer in Zeitbedrängnis führen kann und im Falle des Klägers dazu geführt hat, daß er, anstatt den Widerspruch zunächst fristwahrend ohne Begründung einzulegen, um eine im Gesetz nicht vorgesehene Verlängerung der Widerspruchsfrist gebeten hat. Die Rechtsmittelbelehrung war nicht nur dazu geeignet, übersehen zu werden und irrezuführen; der Kläger ist tatsächlich auch irregeführt worden. Daraus folgt, daß hier die Jahresfrist des § 66 Abs 2 Satz 1 SGG maßgeblich war. Der Kläger konnte daher noch bis zum 28. Februar 1997 Widerspruch einlegen (§ 64 Abs 2 Satz 1, 2 SGG).

Allerdings stellt das Schreiben vom 31. März 1996 keinen Widerspruch dar; denn - das LSG hat diese Frage offengelassen - ein Wille des Klägers zur Einlegung eines Widerspruchs ist dem Schreiben nicht zu entnehmen. Wer mitteilt, daß er noch "zu überlegen habe, ob ich dagegen Widerspruch einlege", will eindeutig noch keinen Widerspruch einlegen. Die erst am 29. Juli 1997 erhobene Klage ist ebenfalls nicht geeignet gewesen, die Jahresfrist zu wahren.

Das LSG wird aber noch zu ermitteln haben, ob der Kläger, wie er bereits zweitinstanzlich vorgetragen hat, nicht - vor oder nach dem Schreiben vom 31. März 1996 - "mehrmals mündlich oder schriftlich" Widerspruch eingelegt hat. Ist dies der Fall und die nach den obigen Ausführungen maßgebliche Jahresfrist eingehalten, wird das LSG die Frage der Pflegebedürftigkeit des Klägers auch inhaltlich zu überprüfen haben.

2. Das LSG wird außerdem, falls es einen rechtzeitigen Widerspruch nicht feststellen kann, zu bedenken haben, daß in einem unzulässigen Widerspruch unter Umständen (auch) ein Neufeststellungsantrag nach § 44 SGB X zu sehen sein kann (vgl BSG SozR 1500 § 84 Nr 3; LSG Rheinland-Pfalz VersR 1987, 222; Schroeder-Printzen/Wiesner, SGB X, 3. Aufl 1996, § 44 RdNr 1 mwN), der keiner Frist unterliegt und zu einem Anspruch auf sachliche Überprüfung und Bescheidung führt, deren Richtigkeit wiederum durch die Gerichte zu überprüfen ist. Weil eine sachliche Überprüfung durch die Beklagte überhaupt noch nicht erfolgt ist, wäre das Begehren des Klägers dann im Sinne einer Untätigkeitsklage auf Erteilung eines sog Zugunstenbescheides auszulegen.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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