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Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 28.06.2001
Aktenzeichen: B 3 P 7/00 R
Rechtsgebiete: BSHG, SGB X
Vorschriften:
BSHG § 91a | |
SGB X § 43a |
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil
in dem Rechtsstreit
Az: B 3 P 7/00 R
Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 28. Juni 2001 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Ladage, die Richter Dr. Udsching und Dr. Naujoks sowie die ehrenamtlichen Richter Gimpel und Meid
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Januar 2000 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I
Die 1960 geborene Beigeladene ist bei der beklagten Pflegekasse pflegeversichert. Sie leidet ua an einer angeborenen geistig-körperlichen Mehrfachbehinderung, die sich auch durch einen nicht beherrschbaren Eßzwang äußert, der wiederum zu einem Übergewicht geführt hat. Seit 1976 lebt sie in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe. Der klagende Sozialhilfeträger leistet laufend Eingliederungshilfe für Behinderte.
Mit Schreiben vom 15. Februar 1996 beantragte der Kläger bei der Beklagten gemäß § 91a Bundessozialhilfegesetz (BSHG), für die Beigeladene Aufwendungen nach § 43a Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) zu übernehmen; einstweilen würden die Pflegeaufwendungen für die Beklagte nach § 43 Abs 1 BSHG vorgeleistet und insoweit auch Erstattungsansprüche nach den §§ 102 ff Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) geltend gemacht. Am 16. Juli 1996 stellte auch die Beigeladene einen Antrag auf Leistungen nach § 43a SGB XI. In zwei Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom April 1997 und März 1998 wurde Pflegebedürftigkeit iS des SGB XI verneint, weil der erforderliche Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege bei der Nahrungsaufnahme in Form von Überwachung - damit die Beigeladene aufgrund ihrer Krankheit nicht alle irgendwie erreichbaren Nahrungsmittel verzehre - sowie bei der Mobilität nicht ausreiche. Unter Bezugnahme auf die Gutachten lehnte die Beklagte die Begehren durch Bescheid vom 25. August 1997 und - nach Widerspruch der Beigeladenen und des Klägers - durch Widerspruchsbescheid vom 12. August 1998 ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Sprungrevision zugelassen (Urteil vom 18. Januar 2000). Es hat ausgeführt, die Klage könne weder auf einen Erstattungsanspruch nach dem SGB X noch auf einen Leistungsanspruch nach dem SGB XI iVm § 91a BSHG gestützt werden. Denn die Beigeladene habe nach der Aussage der vernommenen Zeugin im Bereich der Grundpflege nur einen Pflegebedarf von 11 Minuten und erfülle damit nicht die Voraussetzungen der Pflegestufe I. Im Bereich der Nahrungsaufnahme liege kein Hilfebedarf vor. Der vorhandene Aufsichtsbedarf gelte nur der Verhinderung einer übermäßigen Nahrungsaufnahme, bestehe auch außerhalb der Mahlzeiten und sei als allgemeiner Aufsichtsbedarf nicht berücksichtigungsfähig. Mangels hinreichenden Zusammenhangs mit einer der Verrichtungen des § 14 SGB XI scheide auch eine Berücksichtigung der Aufsicht als Behandlungspflege aus.
Mit der Sprungrevision macht der Kläger geltend, daß jedenfalls der Aufsichtsbedarf während der Mahlzeiten, die etwa 70 Minuten täglich in Anspruch nähmen, berücksichtigt werden müsse. Die Aufsicht, etwas zu unterlassen, müsse derjenigen beim aktiven Tun gleichgestellt werden. Auch durch Vorportionieren und Wegschließen der Nahrung könne dieser Aufsichtsbedarf nicht vermieden werden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Januar 2000 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25. August 1997 und des Widerspruchsbescheides vom 12. August 1998 zu verurteilen, für die Beigeladene wegen der pflegebedingten Aufwendungen iS von § 43a SGB XI monatlich 500 DM zu leisten sowie ihm die ab 1. Juli 1996 erbrachten entsprechenden Vorleistungen zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die vom SG im Urteil zugelassene Sprungrevision ist zulässig. Das Original der Zustimmungserklärung der Beklagten zur Einlegung der Sprungrevision ist vom Kläger am 6. März 2000, also noch innerhalb der am 8. März 2000 abgelaufenen Revisionsfrist, eingereicht worden, was genügt (Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 161 RdNr 4b mwN). Die Zustimmung der Beigeladenen zur Einlegung der Sprungrevision ist nicht erforderlich (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 16. März 1976, GmS - OGB 1/75 = SozR 1500 § 161 Nr 18).
Die Revision ist aber unbegründet. Zu Recht hat das SG Ansprüche auf Übernahme von Pflegeaufwendungen sowie Erstattung von (Vor-)Leistungen mangels Pflegebedürftigkeit der Beigeladenen verneint. Die Beaufsichtigung der Beigeladenen zur Vermeidung einer übermäßigen Nahrungsaufnahme kann nicht als Pflegebedarf iS von § 43a SGB XI iVm den §§ 14, 15 SGB XI gewertet werden.
1. Die Klage ist hinsichtlich der Übernahme von Pflegeaufwendungen als Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG), hinsichtlich der Erstattung von Leistungen als allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG zulässig. Zutreffend hat das SG den Antrag des Klägers ("ihm unter Aufhebung des Bescheides vom 25. August 1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. August 1998 Leistungen nach § 43a SGB XI seit 1. Juli 1996 zu erstatten") so ausgelegt (§ 123 SGG), daß der Kläger zum einen einen eigenen Erstattungsanspruch nach § 104 Abs 1 SGB X geltend machen will.
Zum anderen hat das SG zu Recht angenommen, daß der Kläger im Wege der gesetzlichen Prozeßstandschaft nach § 91a BSHG einen Anspruch der Beigeladenen nach § 43a SGB X auf anteilige Übernahme des Heimentgelts zur Abgeltung der Aufwendungen iS von § 43 Abs 2 SGB XI geltend machen will, und zwar ab 1. Juli 1996 laufend für die Zukunft. Zutreffend hat das SG dies aus einer Gesamtwertung des klägerischen Vorbringens, insbesondere dem Angriff auch auf die Bescheide, geschlossen; der Revisionsantrag stellt dieses Begehren ebenfalls klar. Entgegen der Auffassung des SG wird allerdings nicht ein Feststellungs-, sondern ein Gestaltungs- und Leistungsurteil angestrebt (vgl Meyer-Ladewig aaO § 54 RdNr 1). Denn der Kläger tritt nach § 91a Satz 1 BSHG in dieselbe Rechtsstellung wie der Berechtigte ein. Die Klagebefugnis des Klägers entfällt nicht wegen des gleichzeitig erhobenen Erstattungsanspruchs (vgl zum Ganzen Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, 15. Aufl 1997, § 91a RdNr 15 ff; Fichtner, BSHG, 1999, § 91a RdNr 2, 3, 8).
2. Der Kläger kann jedoch weder einen Leistungsanspruch der Beigeladenen aus § 43a SGB XI (im Wege der Prozeßstandschaft nach § 91a BSHG), noch einen Erstattungsanspruch aus § 104 Abs 1 Satz 1 SGB XI mit Erfolg geltend machen.
a) Nach § 43a SGB XI übernimmt die Pflegekasse für Pflegebedürftige in vollstationären Einrichtungen der Behindertenhilfe zur Abgeltung der in § 43 Abs 2 SGB XI genannten Aufwendungen zehn vom Hundert des nach § 93 Abs 2 BSHG vereinbarten Heimentgelts, im Einzelfall jedoch nicht mehr als 500 DM je Kalendermonat. Zu den nach § 43 Abs 2 SGB XI von der Pflegekasse in vollstationären Einrichtungen generell zu übernehmenden Aufwendungen gehören, jedenfalls nach der derzeitigen Rechtslage, auch die medizinische Behandlungspflege und die soziale Betreuung (§ 43 Abs 2 Satz 1 SGB XI). Indessen ist bei der vollstationären Pflege nach § 43 SGB XI für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu den Pflegestufen (§ 43 Abs 5 SGB XI) allein der Hilfebedarf (§ 15 SGB XI) bei den in § 14 Abs 4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen - also ohne den genannten zusätzlichen Hilfebedarf wegen medizinischer Behandlungspflege und sozialer Betreuung - maßgebend; lediglich bei der für den Vergütungsanspruch des Pflegeheims maßgebenden Zuordnung eines Pflegebedürftigen zu einer Pflegeklasse wäre der Aufwand für medizinische Behandlungspflege und soziale Betreuung einzubeziehen (vgl zum Ganzen BSGE 85, 278, 280 f = SozR 3-3300 § 43 Nr 1).
Der Anspruch des Pflegebedürftigen nach § 43a SGB XI gegen die Pflegekasse umfaßt wie der Anspruch nach § 43 SGB XI die medizinische Behandlungspflege sowie die soziale Betreuung und setzt nach § 15 Abs 1 Satz 2 SGB XI das Vorliegen zumindest der Pflegestufe I voraus (vgl zum Ganzen Rehberg in Hauck/Wilde, SGB XI, Stand Februar 1999, K § 43a RdNr 3, 4; Leitherer in KassKomm, Stand Juni 1998, § 43a SGB XI RdNr 2, 5; Pöld-Krämer in LPK-SGB XI, § 43a RdNr 5, 8; Udsching SGB XI 2. Aufl 2000, § 43a RdNr 3). Dabei sind für die Feststellung des erforderlichen Mindestpflegebedarfs iS von § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 1, Abs 3 Nr 1 SGB XI auch hier die Verrichtungen nach § 14 Abs 4 SGB XI maßgebend.
Die Beigeladene erreicht nicht die Pflegestufe I, weil der dafür erforderliche Grundpflegebedarf von mehr als 45 Minuten nicht vorhanden ist. Auf der Grundlage der mit der Sprungrevision nicht angreifbaren Feststellungen des SG (§ 161 Abs 4 SGG) hat die Beigeladene lediglich einen Grundpflegebedarf von 11 Minuten (sog Pflegestufe 0).
Die Beaufsichtigung der Beigeladenen, um eine übermäßige Nahrungsaufnahme zu verhindern, hat bei der Bemessung des Pflegebedarfs unberücksichtigt zu bleiben. Die maßgebenden Verrichtungen sind in § 14 Abs 4 SGB XI abschließend aufgezählt; eine erforderliche Aufsicht oder Behandlungspflege zählt nur dann zum Pflegebedarf iS des SGB XI, wenn sie notwendigerweise in zeitlichem Zusammenhang mit einer dort aufgezählten Verrichtung anfällt (vgl zum Ganzen BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 8 und grundlegend BSGE 82, 27, 34 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2); das gilt entsprechend für die stationäre Pflege nach § 43 SGB XI (BSGE 85, 278, 280 ff = SozR 3-3300 § 43 Nr 1) und auch hier.
Deshalb kann nicht derjenige Aufsichtsbedarf berücksichtigt werden, der durch die ganztägige Neigung der Beigeladenen auftritt, jegliche irgendwie erreichbare Nahrung an sich zu nehmen und zu verzehren, denn dabei handelt es sich um eine allgemeine Aufsicht zur Vermeidung einer Selbstgefährdung durch übermäßiges Essen, vergleichbar einer Aufsicht zur Vermeidung von aktiv-aggressiven Verhaltensweisen (BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 8).
Zum andern kann auch die Aufsicht während der drei täglichen Mahlzeiten, die ebenfalls der Verhinderung der übermäßigen Nahrungsaufnahme dient, nicht berücksichtigt werden. Dabei kann offenbleiben, ob ein solcher Aufsichtsbedarf dadurch vermieden werden könnte, daß die Beigeladene vorportioniertes Essen erhält und am Tisch von den Tellern anderer Personen und dem allgemeinen Essensangebot (zB Brotkorb) so weit entfernt gesetzt wird, daß ein Zugriff auf nicht für sie bestimmte Nahrungsmittel nicht möglich wäre. Denn auf die konkreten Verhältnisse in der Behinderteneinrichtung kommt es für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht an; maßgebend ist vielmehr eine durchschnittliche häusliche Wohnsituation (BSGE 85, 278, 281 f = SozR 3-3300 § 43 Nr 1). In einer häuslichen Wohnsituation ließe sich durch organisatorische Maßnahmen der Aufsichtsbedarf während der Mahlzeiten zur Verhinderung einer übermäßigen Nahrungsaufnahme womöglich noch eher verringern oder vollständig vermeiden.
Die Frage der Vermeidung oder jedenfalls Verminderung des Aufsichtsbedarfs kann letztlich deshalb dahinstehen, weil die Aufsicht zur Verhinderung der Nahrungsaufnahme keine Hilfe bei der Nahrungsaufnahme iS von § 14 Abs 3 und Abs 4 Nr 2 2. Alternative SGB XI ist. Das folgt schon aus dem Wortlaut der Vorschrift, aber auch aus deren Sinn, der der Aufnahme dieser Verrichtung in den Katalog der gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens zugrunde liegt. Zur Aufrechterhaltung der vitalen Lebensfunktionen des Menschen ist die regelmäßige Nahrungsaufnahme erforderlich. Ist er dazu nicht mehr selbständig in der Lage, wird Hilfeleistung unabweisbar. Die Hilfeleistung kann dann auch darin bestehen, daß nur überwacht wird, ob Nahrung in ausreichender Menge aufgenommen wird. Die Zielrichtung dieser Hilfeleistung ist aber eine völlig andere als bei der Aufsicht zur Verhinderung der Nahrungsaufnahme. Maßnahmen zur Verhinderung der Nahrungsaufnahme fallen nicht gewöhnlich im Ablauf des täglichen Lebens an, sondern nur bei uneinsichtigen Personen wie zB Kindern oder geistig Behinderten. Solche Maßnahmen zählen zu deren allgemeinem Aufsichtsbedarf, den der Gesetzgeber bislang bewußt noch nicht in den berücksichtigungsfähigen Pflegebedarf einbezogen hat. Maßnahmen zur Vermeidung einer Gesundheitsgefährdung sind aber auch keine Maßnahmen der Behandlungspflege, da sie keine Krankheit behandeln, sondern allenfalls vorbeugen. Selbst bei notwendigem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit einer Maßnahme der Grundpflege kann die Aufsicht deshalb auch nicht unter diesem Gesichtspunkt als Hilfebedarf berücksichtigt werden.
b) Der Kläger hat auch keinen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte. Nach § 104 Abs 1 Satz 1 SGB X ist nach Erbringen von Sozialleistungen durch einen nachrangig verpflichteten Leistungsträger, ohne daß die Voraussetzungen des § 103 Abs 1 SGB X vorliegen, derjenige Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hatte oder hat. Der Berechtigte - hier: die Beigeladene - hatte aber keinen Anspruch gegen die Beklagte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ende der Entscheidung
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