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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 31.10.2002
Aktenzeichen: B 4 RA 54/01 R
Rechtsgebiete: SGB VI


Vorschriften:

SGB VI § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 3
SGB VI § 58 Abs 2 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 4 RA 54/01 R

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 31. Oktober 2002 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Meyer, die Richterin Tüttenberg und den Richter Husmann sowie die ehrenamtliche Richterin Grützmacher und den ehrenamtlichen Richter Oster

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 30. August 2001 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Vormerkung des Tatbestands einer Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit.

Die am 31. Januar 1939 geborene Klägerin war von Oktober 1962 bis Mai 1987 als Geigerin in einem staatlichen Philharmonieorchester in Rumänien beschäftigt. Wegen der genehmigten Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland kündigte sie ihr Beschäftigungsverhältnis zum 21. Mai 1987. Am 24. Juli 1987 siedelte sie in das Bundesgebiet über. Sie ist im Besitz des Vertriebenenausweises "A". Vom 24. Juli 1987 bis 23. Mai 1989 bezog sie Arbeitslosengeld (Alg). Anschließend war sie als arbeitslos ohne Leistungsbezug beim zuständigen Arbeitsamt gemeldet.

In einem Kontenklärungsverfahren erkannte die Beklagte ua die Zeit vom 23. Oktober 1962 bis 21. Mai 1987 als Tatbestand einer gleichgestellten Pflichtbeitragszeit nach dem FRG und die Zeit vom 24. Juli 1987 bis 31. Dezember 1991 als Tatbestand einer Ersatzzeit wegen Vertreibung an. Dagegen lehnte sie die Anerkennung der Zeit vom 1. Januar 1992 bis 31. Januar 1999 als Tatbestand einer Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit ab, weil keine versicherungspflichtige Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit unterbrochen worden sei (Bescheid vom 15. April 1999). Den Widerspruch, mit dem die Klägerin die Vormerkung der letztgenannten Zeit begehrte, wies die Beklagte mit der Begründung zurück, dass die Unterbrechung vom "21." Mai bis "24." Juli 1987 der Vormerkung der Anrechnungszeit ab 1. Januar 1992 entgegenstehe.

Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides verurteilt, die Zeit vom 1. Januar 1992 bis 31. Januar 1999 als Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit anzuerkennen (Urteil vom 18. Mai 2000). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 30. August 2001). Zur Begründung ist ausgeführt worden, dass die Zeit vom 22. Mai 1987 bis zur Ausreise einen anschlusswahrenden Überbrückungstatbestand darstelle, sodass unter weiterer Berücksichtigung der anerkannten Ersatzzeit der Zusammenhang zwischen der letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung in Rumänien bis 21. Mai 1987 und der strittigen Zeit der Arbeitslosigkeit ab 1. Januar 1992 gewahrt sei.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 3 iVm Abs 2 Satz 1 SGB VI. Sie trägt vor, die Zeit der Ausreisevorbereitung vom 22. Mai bis 23. Juli 1987 stelle keinen "unschädlichen Überbrückungstatbestand" dar. Dies scheide schon deshalb aus, weil die Zeit zum einen im Ausland verwirklicht worden sei und zum anderen während dieser Zeit keine Arbeitslosigkeit bestanden habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 30. August 2001 und das Urteil des SG Oldenburg vom 18. Mai 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass das angefochtene Urteil rechtlich nicht zu beanstanden sei.

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Begehren der Beklagten, die vorinstanzlichen Entscheidungen aufzuheben, durch die sie verpflichtet worden ist, die Zeit vom 1. Januar 1992 bis 31. Januar 1999 als Tatbestand einer Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit vorzumerken. Ihre Revision konnte insoweit keinen Erfolg haben, weil das LSG zu Recht ihre Berufung gegen das Urteil des SG zurückgewiesen hat, das den von der Klägerin in Kombination erhobenen Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen stattgegeben hat.

Der Klägerin steht der von ihr erhobene Vormerkungsanspruch zu. Die Voraussetzungen der einzigen Anspruchsgrundlage, die sich aus § 149 Abs 5 Satz 1 SGB VI ergibt, sind erfüllt. Danach hat der Versicherungsträger, nachdem er das Versicherungskonto geklärt hat, einen inhaltlich zutreffenden Vormerkungsbescheid über die im Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten zu erlassen, die länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen (stellvertretend BSG, Urteil vom 25. Februar 1992, SozR 3-6180 Art 13 Nr 2; Urteil vom 17. November 1992, SozR 3-2600 § 56 Nr 4). Der Versicherte kann nur die Feststellung von "Daten" und nur von solchen beanspruchen, die der Versicherungsträger nach Maßgabe der Vorschriften des SGB VI in einem Versicherungskonto zu speichern hat (§ 149 Abs 1 Sätze 2 und 3 SGB VI). Der Vormerkungsanspruch ist somit ausschließlich auf die Feststellung von Tatsachen gerichtet, die nach dem im Zeitpunkt der Vormerkung gültigen Recht in einem künftigen Leistungsfall möglicherweise rechtserheblich und nach Maßgabe des deutschen Rentenversicherungsrechts im Versicherungskonto vorzumerken sind.

Die Klägerin ist "Versicherte" iS des § 149 Abs 5 Satz 1 SGB VI. Dies folgt schon daraus, dass die in Rumänien zurückgelegten Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten (§§ 15, 16 FRG) inländischen Pflichtbeitragszeiten gleichgestellt werden. Die Klägerin kann von der Beklagten beanspruchen, dass diese die maßgeblichen "Daten" für die geltend gemachte Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit vom 1. Januar 1992 bis 31. Januar 1999 in das Versicherungskonto einstellt; denn diese Tatbestände können nach dem derzeit gültigen Recht für einen späteren Versicherungsfall rentenrechtlich rechtserheblich sein.

Die Klägerin hat im strittigen Zeitraum den Tatbestand einer Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit gemäß § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI erfüllt. Sie war bei der Bundesanstalt für Arbeit arbeitsuchend gemeldet und bezog Leistungen (Arbeitslosenhilfe) nur deshalb nicht, weil sie wegen des zu berücksichtigenden Einkommens ihres Ehemannes nicht bedürftig war.

Sie erfüllt auch die Voraussetzungen des § 58 Abs 2 Satz 1 SGB VI. Danach liegen Anrechnungszeiten nach Abs 1 Satz 1 Nr 1 bis 3 aaO (also hier wegen Arbeitslosigkeit) nur vor, wenn dadurch ua eine versicherte Beschäftigung unterbrochen ist. Die letzte vor Beginn der geltend gemachten Anrechnungszeit ausgeübte Beschäftigung endete am 21. Mai 1987. Trotz der erheblichen zeitlichen Lücken ist das Tatbestandsmerkmal der "Unterbrechung einer Beschäftigung" erfüllt.

Dieses Tatbestandsmerkmal erfordert nicht, dass die strittige rentenrechtliche Zeit selbst unmittelbar an die Beschäftigungszeit anschließt. Es genügt der zeitliche Anschluss an eine vorhergehende andere rentenrechtliche Zeit, soweit diese sozusagen innerhalb einer "Kette" die Verbindung zur früheren Beschäftigung herstellt und damit die Funktion eines anschlusswahrenden Tatbestandes erfüllt. In diesem Zusammenhang ist nicht zu prüfen, ob auf Grund der Arbeitslosigkeit und des Leistungsbezuges vom 24. Juli 1987 bis 23. Mai 1989 sowie der anschließenden Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug die hier nicht strittige Zeit vom 24. Juli 1987 bis 31. Januar 1991 den Tatbestand einer Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit erfüllt. Denn die "Kettenfunktion" erfüllt im vorliegenden Fall bereits der von der Beklagten für diesen Zeitraum festgestellte Tatbestand einer Ersatzzeit wegen Vertreibung, dessen Berücksichtigung nicht von der Unterbrechung einer Beschäftigung abhängt.

Auch unter Berücksichtigung dieses Ersatzzeittatbestandes besteht eine Lücke für die Zeit vom 22. Mai bis 23. Juli 1987. Falls sie geschlossen ist, liegt die für die Berücksichtigung der hier strittigen Anrechnungszeit erforderliche Beschäftigungsunterbrechung vor. Hierbei hat der Senat nicht darüber zu befinden, ob dieser Zeitraum selbst den Tatbestand einer rentenrechtlichen Zeit erfüllt. Die Klägerin hat nicht beantragt, die Zeit vom 22. Mai bis 23. Juli 1987 gleichfalls als Tatbestand einer Ersatzzeit wegen Vertreibung vorzumerken. Das gleiche gilt für eine Vormerkung als Tatbestand einer Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit. Einen solchen Vormerkungsanspruch hat die Klägerin ausschließlich für die Zeit ab 1. Januar 1992 geltend gemacht, nicht aber für die Zeit vom 22. Mai bis 23. Juli 1987. Insoweit ist daher nicht weiter darauf einzugehen, dass die Klägerin während jenes Zeitraumes schon nicht arbeitslos im rentenrechtlichen Sinne gewesen sein könnte; denn nach den Feststellungen des LSG war sie wegen der "Schikanen" der rumänischen Behörden, also möglicherweise wegen konkreter Vertreibungsmaßnahmen, gerade daran gehindert gewesen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Der Anschluss an die zuletzt bis zum 21. Mai 1987 ausgeübte Beschäftigung ist dennoch gewahrt, weil die zeitliche Lücke vom 22. Mai bis 23. Juli 1987 als sogenannte Überbrückungszeit zu werten ist. Die von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsfigur der Überbrückungszeit bewirkt, dass der Anschluss an die versicherte Beschäftigung nicht verloren geht, obwohl in dem Zeitraum kein Tatbestand einer rentenrechtlichen Zeit (§ 54 SGB VI) erfüllt ist. Überbrückungstatbestände "füllen" Lücken innerhalb einer Kette von Tatbeständen rentenrechtlicher Zeiten. Ihre rentenversicherungsrechtliche Rechtsfolge besteht allein in der Aufrechterhaltung des Zurechnungszusammenhanges mit nachfolgenden Tatbeständen rentenrechtlicher Zeiten. Aus diesem Grund müssen Überbrückungszeiten sich selbst nahtlos an die jeweiligen Tatbestände rentenrechtlicher Zeiten anschließen und von solchen nahtlos umschlossen sein; allerdings reicht es aus, wenn der nachfolgende Tatbestand einer rentenrechtlichen Zeit binnen eines Monats erfüllt wird. Rechtfertigender Grund für die Anerkennung einer Überbrückungszeit ist im Wesentlichen, dass das Verhalten des Versicherten sowohl aus Sicht der beitragszahlenden und beitragstragenden Mitglieder des Rentenversicherungsträgers als auch nach den Zielen und Wertfestsetzungen des SGB VI typischerweise als sozialadäquat oder erwünscht zu bewerten ist. Dies ist jeweils in Zusammenhang mit der strittigen rentenrechtlichen Zeit zu beantworten.

Notwendige Voraussetzung für einen Überbrückungstatbestand im Rahmen des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI ist daher, dass der Versicherte im jeweiligen Zeitraum noch zum Kreis der "Arbeitsuchenden" iS dieser Norm gehört. Hiervon kann nicht mehr ausgegangen werden, wenn er die aktive Suche nach einem Arbeitsplatz "ohne rentenversicherungsrechtlich anerkannten Grund" unterbricht oder aufgibt. Daher sind nur solche Zeiten als Überbrückungstatbestände anzuerkennen, in denen der Versicherte ua entweder um seine Wiedereingliederung in eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit bemüht oder hieran aus nicht in seiner Sphäre liegenden Gründen gehindert war (zB missglückter Selbsthilfeversuch, Sperrzeit, Streik, Pflege eines Pflegebedürftigen; vgl zum Ganzen: Urteil des Senats vom 12. Juni 2001, SozR 3-2600 § 58 Nr 18, mwN).

Nicht mehr zum Kreis der Arbeitsuchenden iS des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB VI hätte die Klägerin während des hier zu beurteilenden Zeitraums nur gehört, wenn sie nicht mehr die Absicht gehabt hätte, zukünftig eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit aufzunehmen. Hierfür fehlt jeglicher Anhaltspunkt. Vielmehr zeigt ihre sofortige Arbeitslosmeldung nach Einreise in die Bundesrepublik, dass sie weiterhin bemüht war, in das Erwerbsleben wieder eingegliedert zu werden. Sowohl die Beendigung ihrer letzten Beschäftigung zum 21. Mai 1987 als auch die nachfolgende Unterbrechung der aktiven Arbeitsuche beruhte ausschließlich auf nicht ihn ihrer Sphäre liegenden Gründen. Insoweit hat das LSG bindend festgestellt, dass sie auf Grund ihres Ausreiseantrages das Beschäftigungsverhältnis beenden musste und bis zur Ausreise wegen der "Schikanen", denen sie im sozialistischen Rumänien von Seiten der dortigen Behörden ausgesetzt war, an der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gehindert war.

Im Lichte der Wertungen, die jedenfalls dem FRG zur Zeit des hier zu beurteilenden Zeitraumes zu Grunde lagen, ist davon auszugehen, dass den begünstigten Vertriebenen durch die Ausreise grundsätzlich keine Nachteile ua in der Rentenversicherung entstehen sollten. Zwar bezieht sich dieser Nachteilsausgleich ua nur auf rentenrechtliche Zeiten; soweit jedoch ein Verlust dadurch droht, dass, bedingt durch den Ausreiseantrag und das Verhalten der ausländischen Behörden, eine Lücke zwischen Ende der letzten Beschäftigung im Vertreibungsgebiet und Beginn der rentenrechtlichen Zeit im Inland eingetreten ist, ist es gerechtfertigt, diese Lücke als Überbrückungszeit zu qualifizieren, um den Wertungen des FRG ausreichend Rechnung zu tragen.

Die Vorinstanzen haben somit zu Recht den Vormerkungsanspruch der Klägerin bejaht. Damit konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ende der Entscheidung

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