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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 19.05.2009
Aktenzeichen: B 5 R 26/06 R
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 103
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

Verkündet am 19. Mai 2009

in dem Rechtsstreit

Az: B 5 R 26/06 R

Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 19. Mai 2009 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Dreher, den Richter Dr. Neuhaus und die Richterin Dr. Günniker sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Sachse und Kandraschow

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Februar 2006 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt eine Rente der Beklagten ab dem 1.7.1997 unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten, ggf nach zusätzlicher Entrichtung freiwilliger Beiträge.

Die im Jahre 1921 in A., Bessarabien, geborene Klägerin ist jüdischer Abstammung. Im Sommer 1941 wurde sie aus L. in Bessarabien nach Transnistrien deportiert. 1972 wanderte sie aus der Sowjetunion nach Israel aus und nahm die israelische Staatsbürgerschaft an.

Im Mai 2003 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Regelaltersrente (RAR) unter Berücksichtigung von Ghetto-Beitragszeiten auf der Grundlage des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG). Sie habe von Januar 1942 bis Januar 1944 in dem Ghetto Kopaigorod in Transnistrien als Hilfsarbeiterin in einer Bäckerei gearbeitet. In der Zeit von 1944 bis 1947 sei sie krank gewesen. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 15.7.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9.11.2004 ab, weil Transnistrien weder vom Deutschen Reich besetzt noch diesem eingegliedert gewesen sei, sondern unter rumänischer Verwaltungshoheit gestanden habe. Mit derselben Begründung hat das Sozialgericht Düsseldorf die Klage mit Urteil vom 5.4.2005 abgewiesen. Im anschließenden Berufungsverfahren hat die Klägerin nur noch Ghetto-Beitragszeiten von Januar 1942 bis Juli 1942 und von Oktober 1942 bis Januar 1944 geltend gemacht. Von Sommer bis Herbst 1942 habe sie sich in einem Lager bei Kopaigorod aufgehalten.

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 3.2.2006 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin erfülle die für die Gewährung einer RAR erforderliche Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht. Versicherungszeiten nach deutschem Reichsrecht habe sie nicht zurückgelegt. Ebenso wenig bestünden Ansprüche nach dem Fremdrentengesetz (FRG), weil die Klägerin weder als Vertriebene im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes anerkannt sei noch zu dem im Übrigen nach § 1 FRG begünstigten Personenkreis gehöre. Die Vorschriften des FRG seien auch nicht nach § 17a FRG oder § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) auf die Beschäftigungen der Klägerin bis 1972 anwendbar, da sie nach eigenen Angaben nicht dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) angehöre. Aus dem ZRBG lasse sich gleichfalls kein Anspruch auf Berücksichtigung der Beschäftigungszeiten im Ghetto Kopaigorod als Beitragszeiten zur Erfüllung der Wartezeit ableiten. Die Anwendbarkeit des Gesetzes scheitere schon daran, dass die Klägerin nicht dem dSK angehöre. Außerdem seien die Voraussetzungen des § 1 ZRBG nicht erfüllt. Dabei könne dahinstehen, ob der Tatbestand des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 dieser Vorschrift (freier Willensentschluss und Beschäftigung gegen Entgelt) vorliege. Zumindest seien die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 2 ZRBG nicht gegeben, weil im streitigen Zeitraum Transnistrien weder in das Deutsche Reich eingegliedert noch vom Deutschen Reich besetzt gewesen sei. Dies könne der Senat nach Auswertung einschlägiger Quellen und Abhandlungen von Historikern aus eigener Sachkunde feststellen. Er fühle sich nicht zur Einholung eines geschichtswissenschaftlichen Gutachtens gedrängt.

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision, mit der die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts sowie Verfahrensfehler rügt. Sie trägt vor, aus der Gesetzesentwicklung und der Gesetzesbegründung ergebe sich, dass § 2 ZRBG einen neuen Typus von Beitragszeiten iS des § 55 Abs 1 Satz 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) begründe. Der Anwendungsbereich des ZRBG beschränke sich nicht nur auf die Bewertung von Ghetto-Beitragszeiten sowie deren Zahlbarmachung, sondern ergänze vielmehr die Bestimmungen des SGB VI über das Entstehen und den Bestand eines Rentenstammrechts. Die Anwendung des ZRBG setze nicht die Erfüllung der im WGSVG und im FRG normierten Voraussetzungen für die Berücksichtigungsfähigkeit außerdeutscher Beitragszeiten, zB die Zugehörigkeit zum dSK, voraus. Die Voraussetzungen der Vorschriften des § 20 WGSVG und der §§ 1, 17a FRG müssten insbesondere deshalb nicht erfüllt sein, weil der Gesetzgeber für alle Ghetto-Beschäftigten die gleichen rentenrechtlichen Voraussetzungen habe schaffen wollen und im Gesetzestext nicht zwischen Beschäftigungen in einem Ghetto innerhalb und in einem Ghetto außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze differenziert werde. Soweit das LSG festgestellt habe, Transnistrien gehöre nicht zu den vom Deutschen Reich besetzten Gebieten, rügt die Klägerin ua, dass das LSG unter Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ihrem Beweisantrag zur Einholung eines geschichtswissenschaftlichen Gutachtens ohne hinreichende Begründung nicht nachgekommen sei.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Februar 2006 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 5. April 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 15. Juli 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. November 2004 zu verurteilen, der Klägerin unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem ZRBG Regelaltersrente ab dem 1. Juli 1997 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Aufgrund der bisherigen Feststellungen des LSG kann nicht beurteilt werden, ob der Klägerin ein Anspruch auf RAR zusteht. Nach § 35 SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die 1921 geborene Klägerin hat im Jahr 1986 das 65. Lebensjahr vollendet. Ob sie zudem die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, ist hingegen bislang nicht geklärt.

Die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit ist auch dann erforderlich, wenn - wie hier - ein Rentenanspruch aufgrund von Ghetto-Beitragszeiten geltend gemacht wird. Dies hat der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 12.2.2009 (B 5 R 70/06 R) im Anschluss an das Urteil des 13. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26.7.2007 (B 13 R 28/06 R) entschieden. Das ZRBG enthält keine eigene Anspruchsgrundlage für die Gewährung einer Altersrente und kann schon deswegen lediglich eine Ergänzung der Vorschriften des SGB VI darstellen. Ist demnach als Anspruchsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Rentenanspruch § 35 SGB VI heranzuziehen, gibt dieser auch die Anspruchsvoraussetzungen vor, es sei denn, dem ZRBG ließe sich für bestimmte Voraussetzungen etwas anderes entnehmen. Dies ist hinsichtlich der Wartezeit nicht der Fall. Vielmehr verweist das ZRBG selbst auf die Geltung dieses Tatbestandsmerkmals. § 3 Abs 2 ZRBG bestimmt, dass für die Ermittlung des Zugangsfaktors die Wartezeit als mit Vollendung des 65. Lebensjahres erfüllt und die Rente wegen Alters bis zum Rentenbeginn als nicht in Anspruch genommen gilt. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber Berechtigten, die bei Inkrafttreten des Gesetzes schon die Regelaltersgrenze überschritten hatten, über § 77 Abs 2 Nr 2 Buchst b SGB VI einen Rentenzuschlag zukommen lassen (BT-Drucks 14/8583, Erläuterung zu Art 1 § 3 S 6 f). Ausweislich dieser Vorschrift ist der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte (EP), die noch nicht Grundlage für persönliche EP einer Rente waren, bei Renten wegen Alters, die nach Erreichen der Regelaltersgrenze trotz erfüllter Wartezeit nicht in Anspruch genommen werden, für jeden Kalendermonat um 0,005 höher als 1,0. Der die Rentenhöhe mitbestimmende Zugangsfaktor, der wiederum vom Verhalten des Berechtigten nach Erfüllung der Wartezeit abhängig ist, richtet sich insoweit bei der "normalen" SGB VI-Altersrente und der auf Ghetto-Beitragszeiten beruhenden Altersrente nach denselben Regeln. Dies spricht dafür, dass auch der Wartezeit bei beiden Altersrenten dieselbe Bedeutung zukommt. Ansonsten wäre ein klärender Hinweis des Gesetzgebers zu erwarten gewesen (zum Ganzen bereits BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 25 ff; aA 4. Senat des BSG in BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 50).

Die allgemeine Wartezeit beträgt fünf Jahre (§ 50 Abs 1 SGB VI). Auf diese werden Beitragszeiten und Kalendermonate mit Ersatzzeiten angerechnet (§ 51 Abs 1 und 4 SGB VI), wobei eine Anrechnung von Ersatzzeiten nur in Betracht kommt, wenn zumindest ein rechtswirksamer Beitrag entrichtet worden ist oder als bezahlt gilt (Klattenhoff in Hauck/Haines, SGB VI, § 250 RdNr 1, Stand: I/2009). Beitragszeiten sind Zeiten, für die nach Bundesrecht oder nach Reichsversicherungsgesetzen Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind (§ 55 Abs 1 Satz 1, § 247 Abs 3 Satz 1 SGB VI) oder ausnahmsweise als gezahlt gelten (BSG SozR 3-2400 § 25 Nr 6 S 28; Fichte in Hauck/Haines, SGB VI, § 55 RdNr 8, Stand: I/2009). Gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 ZRBG gelten für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen als gezahlt.

Zwar kann die Klägerin die Wartezeit allein unter Berücksichtigung der geltend gemachten Ghetto-Beitragszeiten nicht erfüllen, da diese sich lediglich auf 23 und nicht die erforderlichen 60 Monate belaufen. Eine Erfüllung der Wartezeit kommt jedoch unter Berücksichtigung weiterer Zeiten in Betracht. Neben möglicherweise in Israel zurückgelegten Beitragszeiten, die auf die Wartezeit anrechenbar wären (vgl Art 20 Abs 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit vom 17.12.1973 - BGBl II 1975, 246 - Abk Israel SozSich, hier idF des Änderungsabkommens vom 7.1.1986 - BGBl II 1986, 863), ist auch die Verwirklichung von Ersatzzeiten wegen Krankheit der Klägerin im Zeitraum 1944 bis 1947 gemäß § 250 Abs 1 Nr 4 SGB VI denkbar. Sollten auch diese Zeiten nicht ausreichen, um die Wartezeit zu erfüllen, könnte die Klägerin für die erforderlichen weiteren Monate freiwillige Beiträge entrichten. Gemäß § 7 Abs 1 SGB VI können Deutsche, die das 16. Lebensjahr vollendet haben und nicht versicherungspflichtig sind, freiwillige Beiträge entrichten. Dieses Recht steht der Klägerin als israelischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Israel nach Art 3 Abs 1 Buchst a Abk Israel SozSich iVm Nr 2 Buchst c des Schlussprotokolls ebenso zu. Eine freiwillige Beitragszahlung wäre bis zur bindenden Bewilligung der begehrten RAR möglich. Dies ergibt ein Gegenschluss aus § 7 Abs 3 SGB VI. In welcher Form dieses Recht - falls erforderlich - im laufenden Verfahren zu realisieren wäre und zu welchem Zeitpunkt die darauf beruhende Rente beginnen würde, braucht im jetzigen Stadium des Verfahrens nicht entschieden zu werden.

Ob die Klägerin Ghetto-Beitragszeiten verwirklicht hat, richtet sich nach den Vorgaben des § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG. Gemäß dieser Vorschrift gilt das ZRBG für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, soweit für diese Zeit nicht bereits eine Leistung aus einem System der sozialen Sicherheit erbracht wird.

Ob die Klägerin Verfolgte iS des ZRBG ist und damit vom persönlichen Anwendungsbereich des Gesetzes erfasst wird, ist bisher nicht geklärt. Zu den Verfolgten iS des ZRBG zählen alle Verfolgten des Nationalsozialismus (NS-Verfolgte) iS des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG). Dies sind Personen, die ua aus Gründen der Rasse - wie Juden - durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden sind und hierdurch einen Schaden an den im BEG genannten Rechtsgütern erlitten haben. Entgegen der Auffassung des LSG ist darüber hinaus eine Zugehörigkeit zum dSK nicht erforderlich. Dies haben bereits der 4. und 13. Senat des BSG entschieden (BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 56; BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 14 ff). Dem schließt sich der erkennende Senat an. Das ZRBG führt dieses Erfordernis weder auf, noch ist ihm zu entnehmen, dass seine Anwendung von den Voraussetzungen des § 20 WGSVG oder des § 17a FRG abhängig ist, die ihrerseits auf die Zugehörigkeit zum dSK abstellen (vgl im Einzelnen BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 14 ff). Falls es im weiteren Verfahren darauf ankommt, wird das LSG festzustellen haben, ob die Klägerin Verfolgte iS des BEG und damit auch des ZRBG ist.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts sind die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 2 ZRBG nicht erfüllt, da der Ort Kopaigorod im streitigen Zeitraum in Transnistrien gelegen habe, das weder ins Deutsche Reich eingegliedert noch vom Deutschen Reich besetzt gewesen sei.

Die Feststellungen des LSG tragen diese Schlussfolgerung jedoch nicht.

Es fehlen bereits ausreichende Feststellungen dazu, ob der Ort Kopaigorod im fraglichen Zeitraum in Transnistrien gelegen hat.

Das LSG hat insoweit ausgeführt, der rumänische Staatschef, Marschall Antonescu, habe mit Gesetzesdekret vom 19.8.1941 Transnistrien durch einseitige Erklärung der rumänischen Zivilverwaltung unterstellt. Art 1 dieses Dekrets bestimme diesbezüglich: "Das besetzte Territorium zwischen Dnjestr und Bug, dessen Grenze, wie auf anliegender Karte angezeichnet ist, im Norden die Linie Nord Mogilev - Nord Zmerinka bildet, wird unter rumänische Verwaltung gestellt (mit Ausnahme der Region Odessa)". Das LSG hat des Weiteren auf den am 30.8.1941 von den militärischen Oberkommandos des Deutschen Reichs und Rumäniens unterzeichneten Vertrag von Tighina verwiesen, nach dessen Bestimmung Nr 1 "über die vom Staatsführer an Marschall Antonescu vorgeschlagene Nordgrenze ... die Entscheidung des Führers auf diplomatischem Weg herbeizuführen" sei. Nach den weiteren Feststellungen des LSG wurde im September 1941 die Nordgrenze Transnistriens entsprechend den rumänischen Wünschen festgelegt. Danach richtet sich im streitigen Zeitraum der Verlauf der Nordgrenze Transnistriens nach dem Gesetzesdekret vom 19.8.1941 und wird folglich durch die "Linie Nord Mogilev - Nord Zmerinka" bestimmt. Nähere Ausführungen zum Grenzverlauf enthält das angefochtene Urteil nicht. Markierte aber wirklich eine (gerade) Linie zwischen den vorgenannten Orten die Nordgrenze Transnistriens, hätte der Ort Kopaigorod außerhalb Transnistriens und damit im sog Reichskommissariat Ukraine gelegen. Da die vorgenannten Feststellungen des LSG zur Lage des Ortes Kopaigorod in sich widersprüchlich sind, binden sie den Senat auch ohne Verfahrensrüge nicht (vgl HK-SGG/Lüdtke, 3. Aufl 2009, § 163 RdNr 7 mwN).

Abgesehen davon, dass fraglich ist, ob der Ort Kopaigorod in Transnistrien lag, ist auch der Status Transnistriens im streitigen Zeitraum nicht vollständig geklärt. Zwar besteht Einigkeit, dass das ursprünglich zur UdSSR gehörende Transnistrien im Zuge des Zweiten Weltkriegs nicht dem Deutschen Reich eingegliedert worden ist. Die Annahme, dass diese Region darüber hinaus auch nicht vom Deutschen Reich besetzt gewesen sei, lässt sich auf die Feststellungen des LSG hingegen nicht stützen.

Welche Gebiete in das ZRBG einbezogen sind, entscheidet sich nach Völkerrecht, da das Gesetz mit der Wendung "vom Deutschen Reich besetzt" an den völkerrechtlichen Begriff der Besetzung anknüpft, der in der Haager Landkriegsordnung vom 18.10.1907 (RGBl I 1910, 107) umschrieben wird. Nach deren Art 42 gilt ein Gebiet als besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet, und erstreckt sich die Besetzung nur auf die Gebiete, in denen diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann. Ein noch nicht der faktischen Herrschaft des Feindes unterworfener Raum, in dem weiterhin Kampfhandlungen zwischen den feindlichen Streitkräften im Gange sind, ist demnach noch nicht besetztes Gebiet. Kraft der ihm zustehenden de-facto-Gewalt im besetzten Gebiet ist der Okkupant allein imstande, die Staatstätigkeit fortzusetzen sowie den normalen Ablauf des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Ordnung zu garantieren. Zu diesem Zweck übt er für die Dauer der Besetzung die oberste rechtsetzende und vollziehende Gewalt aus (vgl Uhler in Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, 1. Band 1960, S 195 f). Dementsprechend ist die Besetzung dadurch gekennzeichnet, dass die militärische Auseinandersetzung beendet ist und der Okkupant durch entsprechende Akte der Rechtsetzung sowie den Aufbau und die Ausübung der Verwaltung das Zivilleben in dem besetzten Gebiet gestaltet. Möglich ist auch eine gemeinsame Besetzung des Landes, an der sich mehrere Staaten beteiligen (vgl hierzu im Einzelnen von Schmoller/Maier/Tobler, Handbuch des Besatzungsrechts, 1957, § 24a S 17 f).

Das LSG hat historische Quellen (ua den Vertrag von Tighina vom 30.8.1941) und Literatur dahingehend ausgewertet, dass das streitige Gebiet im maßgeblichen Zeitraum nicht vom Deutschen Reich besetzt war, sondern unter rumänischer Besatzungshoheit stand. Auf diese Feststellung durfte sich der erkennende Senat nicht stützen, da sich aus dem angefochtenen Urteil nicht ergibt, dass sie fachkundig getroffen worden ist. Dabei geht es nicht um die Subsumtion der festgestellten Fakten unter den völkerrechtlichen Begriff der Besetzung, denn diese bleibt Sache des Gerichts. Jedoch bietet das angefochtene Urteil keine Gewähr dafür, dass die Fakten auf einer Berücksichtigung und Abwägung des Wahrheitsgehalts der wesentlichen verfügbaren Quellen beruhen. Insoweit liegt nicht auf der Hand, dass das Berufungsgericht über die erforderliche Sachkunde verfügt, die infolgedessen hätte dargelegt werden müssen. Dies wäre umso eher erforderlich gewesen, als das LSG selbst darauf hingewiesen hat, dass in der Literatur seinen Feststellungen entgegengesetzte Erkenntnisse mitgeteilt werden. Bei dieser Sachlage hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, in Ausübung seiner Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) für die Feststellung, ob Transnistrien vom Deutschen Reich besetzt war oder nicht, ein geschichtswissenschaftliches Sachverständigengutachten einzuholen, wie dies die Klägerin beantragt hatte. Ob die von der Klägerin vorformulierten Fragen - wie das LSG meint - unzulässig, ungeeignet oder unerheblich waren, ist ohne Bedeutung, da die Einschränkungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG bei einer zugelassenen Revision keine Rolle spielen (vgl auch BSGE 98, 48 = SozR 4-5075 § 1 Nr 3, RdNr 82; BSGE 99, 35 = SozR 4-5075 § 1 Nr 4, RdNr 32 ff).

Neben der Verfolgteneigenschaft der Klägerin ist somit unklar, wo im streitigen Zeitraum Januar 1942 bis Juli 1942 und Oktober 1942 bis Januar 1944 die Nordgrenze Transnistriens verlief und ob insbesondere der Ort Kopaigorod zu Transnistrien gehörte. Ist dies der Fall, hängt die Annahme einer Besetzung durch das Deutsche Reich im völkerrechtlichen Sinne davon ab, wer dort ab wann den Willen zur Übernahme der zivilen Gebietshoheit erklärt und tatsächlich die Besatzungsgewalt ausgeübt hat, wer also für die öffentliche Sicherheit und Ordnung einschließlich der Versorgung der Bevölkerung verantwortlich gewesen ist, wer ggf Recht gesetzt und durchgesetzt hat bzw welche staatlichen Institutionen von wem gegründet und unterhalten worden sind. Dabei wird auch zu erwägen sein, ob und in welcher Form Rumänien und das Deutsche Reich die zivile Gebietshoheit gemeinsam ausgeübt haben und - falls insoweit getrennte Verantwortlichkeiten festzustellen sein sollten - ob es eine besondere Zuständigkeit für die Maßnahmen der Judenverfolgung gab. Ohne dass eine zwingende Prüfungsreihenfolge der positiven und negativen Leistungsvoraussetzungen bestünde, kann es schließlich erforderlich werden, die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 ZRBG zu untersuchen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

Ende der Entscheidung

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