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Gericht: Bundessozialgericht
Beschluss verkündet am 03.06.2009
Aktenzeichen: B 5 R 306/07 B
Rechtsgebiete: SGG
Vorschriften:
SGG § 124 Abs 2 | |
SGG § 155 Abs 3 | |
SGG § 155 Abs 4 |
BUNDESSOZIALGERICHT Beschluss
in dem Rechtsstreit
Az: B 5 R 306/07 B
Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat am 3. Juni 2009 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Dreher, den Richter Dr. Neuhaus und die Richterin Dr. Günniker sowie die ehrenamtlichen Richter Weniger und Dr. Burdenski
beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. April 2007 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise Berufsunfähigkeit (BU) bzw wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.
Verwaltungs-, Widerspruchs- und Klageverfahren waren ohne Erfolg. Mit Gerichtsbescheid vom 11.5.2005 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Rente wegen EU, hilfsweise BU seien nicht gegeben. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen hätten bis zum 31.8.2000 vorgelegen. Bis zu diesem Zeitpunkt sei der Kläger weder erwerbs- noch berufsunfähig gewesen. Mit seiner hiergegen gerichteten Berufung hat der Kläger geltend gemacht, sein Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, und medizinische Unterlagen über neuere Untersuchungen in polnischer Sprache vorgelegt. Eine Übersetzung dieser Unterlagen ins Deutsche findet sich in der Akte nicht. Der Berichterstatter des 22. Senats des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (LSG) hat unter dem 17.1.2007 folgendes Schreiben an die Beteiligten gerichtet:
"... In dem vorgenannten Rechtsstreit bitte ich um Mitteilung darüber, ob Sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) einverstanden sind.
Die Beteiligten hatten m.E. hinreichend Gelegenheit, ihre Argumente schriftsätzlich vorzutragen. Der Fall dürfte auch entscheidungsreif sein.
Es käme auch eine Entscheidung durch den Berichterstatter (§ 155 SGG) in Betracht. Ich bitte auch hierzu um eine Stellungnahme.
Beide Verfahrensarten würden die Erledigung beschleunigen. Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung kann der Senat jederzeit, etwa wenn eine anberaumte Sache ausfällt, treffen, ohne dass sofort Termin anberaumt werden muss. Entscheidungen des Berichterstatters erfolgen in der Regel unverzüglich nach Eingang des Einverständnisses."
Das an den Kläger gerichtete Schreiben ist zunächst zwecks Übersetzung in die polnische Sprache an einen Dolmetscher übersandt worden. Mit Schriftsatz vom 22.1.2007, beim LSG eingegangen am 24.1.2007, hat die Beklagte mitgeteilt, dass sich aufgrund des Beitritts Polens zur Europäischen Union (1.5.2004) Änderungen in der Rechtslage ergeben hätten. Unter anderem seien ab 1.5.2004 die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen bei Eintritt eines Leistungsfalles ab 10.7.2000 (polnischer Invalidenrentenbeginn) erfüllt. Das in die polnische Sprache übersetzte Schreiben des Berichterstatters vom 17.1.2007 und der Schriftsatz der Beklagten vom 22.1.2007 in deutscher Sprache sind an den Kläger am 30.1.2007 übersandt worden. Mit Schreiben vom 29.1.2007 hat die Beklagte mitgeteilt, "keine Einwendungen gegen die beabsichtigte Verfahrensweise des erkennenden Senats, eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung oder durch den Berichterstatter herbeizuführen" zu erheben. Der Kläger hat mit Schreiben vom 3.2.2007 mitgeteilt:
"In Beantwortung Ihres Schreibens vom 17.1.07 erkläre ich mein Einverständnis, eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in beiden Verfahrenswegen, die vom Sozialgerichtsgesetz vorgesehen sind, zu akzeptieren."
Mit Urteil vom 20.4.2007 hat das LSG durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt. Er beruft sich auf das Vorliegen diverser Verfahrensfehler iS von § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
II
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Die angefochtene Entscheidung ist verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Zu Recht rügt der Kläger eine Verletzung der § 124 Abs 2 und § 155 Abs 3 iVm Abs 4 SGG durch das LSG.
Das Berufungsgericht hat ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter gemäß § 124 Abs 2, § 155 Abs 3 iVm Abs 4 SGG entschieden, obwohl das für eine solche Verfahrensweise erforderliche Einverständnis des Klägers nicht vorgelegen hat.
Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht regelmäßig aufgrund mündlicher Verhandlung. Diese ist das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens, um dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz, § 62 SGG) zu genügen und den Streitstoff erschöpfend mit ihnen zu erörtern (§ 112 Abs 2 SGG; BSGE 44, 292 f = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 2 mwN). Eine Ausnahme von dem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 SGG. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Bei Urteilen mit und ohne mündliche Verhandlung entscheidet über das Rechtsmittel der Berufung grundsätzlich der mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern sowie zwei ehrenamtlichen Richtern besetzte Senat (§§ 29, 30, 31, § 33 Satz 1 SGG) und bei Beschlüssen der mit drei Berufsrichtern besetzte Senat (§ 33 Satz 2 iVm § 12 Abs 1 Satz 2 SGG). Nur unter den vom Gesetz bestimmten Voraussetzungen des § 155 Abs 3 und Abs 4 SGG, dh im Einverständnis mit den Beteiligten, kann statt seiner der Vorsitzende oder der Berichterstatter allein entscheiden.
Eine wirksame Einverständniserklärung des Klägers iS von § 124 Abs 2 und § 155 Abs 3 SGG hat nicht vorgelegen.
Die Erklärung eines Beteiligten, mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden zu sein und damit auf diese besondere Art der Gewährung rechtlichen Gehörs zu verzichten, muss klar, eindeutig und vorbehaltlos sein (vgl BSGE 44, 292, 294 = SozR 1500 § 124 Nr 2 S 4). Gleiche Anforderungen sind an die Einverständniserklärung iS von § 155 Abs 3 SGG zu stellen. Wegen der weitreichenden Folgen dieser Erklärung, dem Verzicht auf eine Entscheidung in voller Senatsbesetzung, obwohl diese eine höhere Richtigkeitsgewähr als diejenige eines einzelnen Richters bietet (vgl BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, jeweils RdNr 21), muss das Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung durch den Vorsitzenden oder den bestellten Berichterstatter klar und eindeutig sein (vgl BSG SozR 4-1500 § 155 Nr 1 RdNr 17; Bernsdorff in Henning, SGG, § 155 RdNr 56, 57, Stand V/1997). Nur dann wird die Zuständigkeit des Vorsitzenden oder des Berichterstatters begründet, anstelle des vom Gesetz grundsätzlich berufenen Senats über den Berufungsrechtsstreit entscheiden zu dürfen (vgl BSG SozR 4-1500 § 155 Nr 1 RdNr 17; Bernsdorff, aaO, RdNr 57). Diesen Anforderungen wird die Erklärung vom 3.2.2007 nicht gerecht.
Mit dieser hat der Kläger sein Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter nicht klar und eindeutig erteilt. Die Erklärung, eine Entscheidung "ohne mündliche Verhandlung in beiden Verfahrenswegen, die vom Sozialgerichtsgesetz vorgesehen sind, zu akzeptieren", ist schon deswegen nicht eindeutig, weil das Gesetz mehr als zwei Möglichkeiten vorsieht, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden und nicht alle Möglichkeiten eine Entscheidung allein durch den Berichterstatter vorsehen. So erlaubt das SGG neben der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Senat (§ 124 Abs 2 SGG) oder den Berichterstatter (§ 124 Abs 2, § 155 Abs 3 iVm Abs 4 SGG) eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden (§ 124 Abs 2, § 155 Abs 4 SGG) und eine Entscheidung des Senats durch Beschluss (§ 153 Abs 4 SGG).
Auch eine Auslegung der Prozesserklärung des Klägers anhand der Fragestellung des Gerichts führt zu keinem anderen Ergebnis. Dieses Schreiben nennt die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht im Zusammenhang mit der ebenfalls erwähnten Entscheidung durch den Berichterstatter, sondern nur in Bezug auf die Entscheidung durch den Senat bzw ohne Bezug auf eine bestimmte Besetzung der Richterbank. Ohne nähere Kenntnis der Prozessordnung war der Formulierung nicht zu entnehmen, dass eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nur durch den Berichterstatter in Erwägung gezogen werde.
Auf dem gerügten Verfahrensmangel kann die angefochtene Entscheidung auch beruhen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Denn es ist nicht auszuschließen, dass das LSG bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre (BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2). Wegen der besonderen Bedeutung der mündlichen Verhandlung ist in der Regel von einem Einfluss des Unterbleibens der mündlichen Verhandlung auf das Ergebnis des Verfahrens auszugehen. Auch im vorliegenden Fall kann eine solche Ursächlichkeit nicht ausgeschlossen werden. Die mündliche Verhandlung soll den Beteiligten Gelegenheit geben, den Sach- und Streitstoff mit dem Gericht in unmittelbarer Rede und Gegenrede zu erörtern; ihr wohnt damit ein die bloße Schriftlichkeit eines Verfahrens überschießendes Element inne, das in eigenständiger Weise auf die richterliche Überzeugungsbildung einwirken und sie beeinflussen kann, ohne dass sich diese Einwirkung im Einzelnen beschreiben oder begründen ließe. Deshalb kann auch nicht - wie sonst regelmäßig bei Verfahrensverstößen - von den Beteiligten insoweit eine nähere Darlegung der den Verfahrensmangel ergebenden "Tatsachen" gefordert werden; einer solchen Darlegung bedarf es nicht, wenn der ursächliche Zusammenhang im genannten Sinne schon nach der Art des Verfahrensmangels auf der Hand liegt (BSGE 53, 83, 85 f = SozR 1500 § 124 Nr 7 S 15 f mwN).
So verhält es sich im vorliegenden Fall. Es ist nicht auszuschließen, dass bei einer mündlichen Verhandlung noch einmal erörtert worden wäre, dass der Gesundheitszustand des Klägers sich nach seinem Vortrag verschlechtert hat, dass medizinische Unterlagen über neuere Untersuchungen nicht eingeholt worden sind und noch nicht einmal in polnischer Sprache vorgelegte Befundunterlagen übersetzt worden sind, obwohl der Kläger aufgrund des Beitritts Polens zur EU nunmehr wieder die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt und damit sein aktueller Gesundheitszustand für das Rentenbegehren entscheidend ist. Bei dieser Sachlage ist nicht unwahrscheinlich, dass sich der Berufungssenat zu einer weiteren Sachaufklärung von Amts wegen oder auf einen Antrag des Klägers hin veranlasst gesehen hätte. Möglicherweise wäre dann eine rentenerhebliche Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers festgestellt worden.
Da ein Verstoß gegen §§ 124 Abs 2, 155 Abs 3 SGG vorliegt, bedarf es keiner Prüfung, ob auch die übrigen vom Kläger gerügten Verfahrensfehler vorliegen.
Zwecks Vermeidung einer weiteren Verzögerung hat der Senat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache im Beschwerdeverfahren an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Ende der Entscheidung
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