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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 21.10.2003
Aktenzeichen: B 7 AL 28/03 R
Rechtsgebiete: MuSchG, SGB III, GG


Vorschriften:

MuSchG § 6
SGB III § 147 Abs 2
GG Art 6 Abs 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Verkündet am 21. Oktober 2003

Az: B 7 AL 28/03 R

Der 7. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. Oktober 2003 durch den Richter Dr. Steinwedel als Vorsitzenden, die Richter Eicher und Dr. Spellbrink sowie die ehrenamtlichen Richter Kovar und Dr. Dauber

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Juni 2002 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Klägerin begehrt Arbeitslosengeld (Alg) für den Zeitraum ab dem 19. Februar 1999. Streitig ist, ob ein zuvor bestehender Alg-Anspruch gemäß § 147 Abs 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) erloschen ist.

Die im Jahre 1964 geborene Klägerin war von 1990 bis zum 31. Dezember 1994 beim Erzbistum P beschäftigt. Am 23. Dezember 1994 meldete sie sich mit Wirkung zum 2. Januar 1995 arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg. Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 9. Februar 1995 Alg ab 2. Januar 1995. Die Klägerin bezog Alg bis zum 29. April 1995. Zum 1. Mai 1995 meldete sie sich wegen eines Auslandsaufenthalts aus dem Leistungsbezug ab. Daneben war sie im Studiengang Soziologie an der Universität M mit dem Ziel der Promotion immatrikuliert.

Am 25. November 1998 meldete sie sich erneut arbeitslos. Die Klägerin gab an, dass sie schwanger sei. Zugleich verzichtete sie auf die sechswöchige Schutzfrist für werdende Mütter nach dem Mutterschutzgesetz (MuSchG). Die Beklagte bewilligte Alg bis zur Geburt des Kindes am 24. Dezember 1998 (Bewilligungsbescheide vom 10. Dezember 1998 und vom 28. Januar 1999). In dem letzten Bewilligungsbescheid vom 28. Januar 1999 war die zustehende Restanspruchsdauer auf Alg mit 223 Tagen angegeben.

Die Klägerin meldete sich am 22. Januar 1999 mit Wirkung zum 19. Februar 1999 (Ablauf des achtwöchigen Beschäftigungsverbots nach der Geburt am 24. Dezember 1998) wieder arbeitslos und beantragte die Bewilligung von Alg. Die Beklagte lehnte die Bewilligung von Alg nunmehr ab (Bescheid vom 18. Februar 1999) und wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 26. März 1999). Zur Begründung führte sie aus, der ursprüngliche Anspruch auf Alg könne gemäß § 147 Abs 2 SGB III nicht mehr geltend gemacht werden, weil seit seiner Entstehung vier Jahre verstrichen seien. Der Anspruch sei am 2. Januar 1995 entstanden, die Vierjahresfrist mithin am 2. Januar 1999 abgelaufen. Zum 19. Februar 1999 sei auch kein neuer Anspruch auf Alg gemäß §§ 117, 123, 124 SGB III entstanden. Die Klägerin erhielt später ab 16. Mai 1999 Arbeitslosenhilfe (Alhi). In dem Alhi-Antrag gab sie an, bis 15. Mai 1999 ein Promotionsstipendium des Cusanus-Werks erhalten zu haben.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) M durch Urteil vom 22. Juni 2001 die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin ab 19. Februar 1999 Alg bis zur Erschöpfung des Leistungsanspruchs zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar sei mit der Geburt des Kindes am 24. Dezember 1998 die Verfügbarkeit der Klägerin für acht Wochen auf Grund des zwingenden Beschäftigungsverbots gemäß § 6 Abs 1 MuSchG entfallen. Jedoch dürfe dieses Beschäftigungsverbot nicht dazu führen, dass ein bereits bewilligter und laufender Alg-Anspruch gemäß § 147 Abs 2 SGB III wegen des reinen Zeitablaufs entfalle. Art 6 Abs 4 Grundgesetz (GG) gebiete eine verfassungskonforme Auslegung des § 147 Abs 2 SGB III für den Fall eines kalendermäßigen Ablaufs der Mutterschutzfrist und Geltendmachung des Alg-Anspruchs bereits vor Ablauf der Vierjahresfrist. Es widerspreche dem Sinn und Zweck des Beschäftigungsverbots nach dem MuSchG, wenn es dazu führe, dass eine Mutter erhebliche finanzielle Einbußen erleide, indem sie den gesamten Restanspruch auf Alg verliere.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 26. Juni 2002 das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, die Klägerin habe den Restanspruch auf Alg zum 19. Februar 1999 nicht mehr geltend machen können, weil seit seiner Entstehung vier Jahre verstrichen seien. Der Wortlaut des § 147 Abs 2 SGB III sei eindeutig und auch nicht im Hinblick auf Art 6 Abs 4 GG einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich. Dies entspreche der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), das betont habe, § 147 Abs 2 SGB III enthalte eine gesetzliche Ausschlussfrist, die ohne jede Hemmungs- und Unterbrechungsmöglichkeit kalendermäßig ablaufe. § 147 Abs 2 SGB III verstoße auch nicht gegen höherrangiges Recht. Zwar sei eine Verlängerung der Vierjahresfrist gerade für Mütter wünschenswert, sie könne jedoch von Verfassungs wegen nicht zwingend gefordert werden. Insoweit müsse dem Gesetzgeber vielmehr ein Gestaltungsspielraum verbleiben. Schließlich dürfe auch nicht übersehen werden, dass nicht allein die Zeit des Mutterschutzes zum Ablauf der Vierjahresfrist geführt habe, sondern die persönliche Lebensgestaltung der Klägerin. Durch § 147 Abs 2 SGB III werde lediglich eine kleine Gruppe von Frauen betroffen, die ihren persönlichen Werdegang so gestaltet habe, dass es unter Einbeziehung der Mutterschutzzeiten gerade zu einem Fristablauf nach § 147 Abs 2 SGB III komme. Für diese zahlenmäßig geringe Gruppe sei eine Sonderregelung nicht erforderlich.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer - vom Senat zugelassenen - Revision. Sie rügt eine Verletzung des § 147 Abs 2 SGB III. Es widerspreche dem Sinn und Zweck des § 147 Abs 2 SGB III, wenn nach dieser Bestimmung völlig unberücksichtigt bliebe, dass eine Mutter durch das zwingende Beschäftigungsverbot nach § 6 MuSchG daran gehindert gewesen sei, am Ende der kalendermäßigen Vierjahresfrist den Anspruch auf Alg geltend machen zu können. Ein solches Auslegungsergebnis sei auf Grund einer verfassungskonformen Auslegung des § 147 Abs 2 SGB III geboten. Nach Art 6 Abs 4 GG dürften Mütter auf Grund ihrer Mutterschaft nicht schlechter gestellt werden als andere Bürgerinnen und Bürger. Art 6 Abs 4 GG wirke daher insbesondere als Diskriminierungsverbot (Hinweis auf BVerfGE 65, 104, 113). Während bei einem Mann aber eine Vaterschaft der Ausschöpfung der Frist des § 147 Abs 2 SGB III bis zum letzten Tage nicht entgegenstehe, sei dies bei einer Mutter - folge man der Auslegung dieser Norm durch das LSG - der Fall. Für Mütter wirke sich das Beschäftigungsverbot des § 6 MuSchG nämlich dahingehend aus, dass diese völlig unabhängig von ihrem Willen allein auf Grund der Entscheidung für ein Kind daran gehindert würden, ihren Anspruch auf Alg geltend zu machen. In diesem Sinne sei eine verfassungskonforme Auslegung des § 147 Abs 2 SGB III dahingehend geboten, dass die Zeit des absoluten Beschäftigungsverbots nach § 6 MuSchG außer Betracht zu bleiben habe und an die vorherige Geltendmachung des Alg-Anspruchs innerhalb der Vierjahresfrist angeknüpft werden könne. Andernfalls würde der Schutzzweck des § 6 MuSchG in sein Gegenteil verkehrt. § 6 MuSchG würde dazu führen, dass die Klägerin ihren eigentumsrechtlich geschützten Anspruch auf Alg verliere. Die Zeit des Beschäftigungsverbots würde sich dann praktisch fristverkürzend für Mütter auswirken.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Juni 2002 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 22. Juni 2001 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie beruft sich auf das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen. Der Ablauf der Verfallfrist des § 147 SGB III könne durch eine Arbeitslosmeldung und Antragstellung vor dem Tag, an dem alle Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt seien, nicht verhindert werden. Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Vierjahresfrist nicht um Zeiten des Mutterschutzes verlängert werde. Vom Gesetzgeber sei offensichtlich bewusst der kalendermäßige Ablauf der Verfallfrist ohne Ausnahme geregelt worden. Die Länge der Frist lasse dem Betroffenen genügend Spielraum zur Lebensgestaltung, um den Eintritt eines "Verfalls" zu verhindern. Die von der Revision geltend gemachte Benachteiligung treffe unterschiedslos jeden, nicht nur Mütter. Es seien durchaus auch andere unabweisbare Gründe denkbar, die die Geltendmachung des Anspruchs kurz vor Ablauf der Frist verhindern würden, so zB wenn das Fristende in einen Zeitraum falle, in dem Wehr- oder Zivildienst geleistet werden müsse.

II

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Auf Grund der tatsächlichen Feststellungen des LSG kann nicht abschließend beurteilt werden, ob der Klägerin ab 19. Februar 1999 ein Anspruch auf Alg zustand, insbesondere ob die Klägerin verfügbar iS des § 119 SGB III war (vgl hierzu unter 2.). Zu Unrecht ist das LSG allerdings davon ausgegangen, dass der Alg-Anspruch der Klägerin am 2. Januar 1999 wegen Ablaufs der vierjährigen Verfallfrist des § 147 Abs 2 SGB III erloschen ist. Die in Art 6 Abs 4 GG getroffene verfassungsrechtliche Grundentscheidung für den Schutz und die Fürsorge der Mutter gebietet im Falle der Klägerin eine Einschränkung des (grundsätzlich umfassenden) Anwendungsbereichs des § 147 Abs 2 SGB III.

1. Die Klägerin hat zunächst zum 19. Februar 1999 keinen neuen Anspruch auf Alg gemäß § 117 SGB III (§ 117 idF des Arbeitsförderungsreformgesetzes <AFRG> vom 24. März 1997, BGBl I 594) erworben. Sie hat die Anwartschaftszeit gemäß § 123 SGB III (§ 123 idF des Ersten SGB III-Änderungsgesetzes <1. SGB III-ÄndG> vom 16. Dezember 1997, BGBl I 2970) nicht erfüllt, weil sie in der dreijährigen Rahmenfrist des § 124 Abs 1 SGB III (§ 124 ebenfalls idF des 1. SGB III-ÄndG) vom 19. Februar 1996 bis 18. Februar 1999 nicht mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden hat.

Der der Klägerin zustehende Rest-Anspruch auf Alg, der in dem letzten Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 28. Januar 1999 mit 223 Tagen angegeben war (zur Bedeutung dieses Bescheides noch später), ist allerdings nicht gemäß § 147 Abs 2 SGB III (§ 147 idF des AFRG, aaO) erloschen. Nach dieser Norm kann zwar der Anspruch auf Alg nicht mehr geltend gemacht werden, wenn nach seiner Entstehung vier Jahre verstrichen sind. Der Alg-Anspruch der Klägerin war hier am 2. Januar 1995 entstanden. Eine Geltendmachung des Anspruchs gemäß § 147 Abs 2 SGB III hätte bis zum Ablauf des 2. Januar 1999 erfolgen müssen (vgl § 26 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch iVm §§ 187, 188 des Bürgerlichen Gesetzbuches; zur Berechnung der Frist vgl BSG SozR 3-4100 § 107 Nr 10, S 42). Geltendmachen iS des § 147 Abs 2 SGB III bedeutet, dass der Zeitpunkt maßgeblich ist, zu dem ein Anspruch auf Zahlung von Alg überhaupt vorhanden ist. Andernfalls ließe sich der Ablauf der Ausschlussfrist jederzeit dadurch umgehen, dass vor ihrem Ablauf ein Antrag gestellt wird, obwohl zu diesem Zeitpunkt zB die Anspruchsvoraussetzungen noch nicht erfüllt waren (vgl BSG SozR 3-4100 § 125 Nr 1, S 7). Von daher war der Klägerin ein Geltendmachen des Anspruchs auf Alg erst mit dem 19. Februar 1999 möglich (§§ 117 Abs 1 Nr 1, 118 Abs 1 Nr 2, 119 Abs 1 Nr 1 iVm Abs 2 und 3 SGB III). Dies war der Zeitpunkt, zu dem das achtwöchige Beschäftigungsverbot nach der Entbindung gemäß § 6 Abs 1 MuSchG abgelaufen war. Zum Zeitpunkt der "Geltendmachung" des Anspruchs, also am 19. Februar 1999, war die Vierjahresfrist des § 147 Abs 2 SGB III also grundsätzlich verstrichen.

Die mit dem Arbeitsförderungsrecht befassten Senate des BSG haben bislang in ständiger Rechtsprechung zu § 125 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), der bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Vorgängervorschrift des § 147 Abs 2 SGB III, entschieden, dass es sich hierbei um eine Ausschlussfrist handelt, die ohne jede Hemmungs- und Unterbrechungsmöglichkeit rein kalendermäßig abläuft (grundlegend BSGE 54, 212 = SozR 4100 § 125 Nr 2, S 3; s auch Urteil vom heutigen Tage - B 7 AL 88/02 R - zur Veröffentlichung vorgesehen). Dabei läuft die Frist des § 147 Abs 2 SGB III (bzw § 125 Abs 2 AFG) auch bei ruhendem Alg-Anspruch (etwa nach § 142 SGB III) weiter, wobei der Senat es abgelehnt hat, einzelne Ruhenstatbestände (wie etwa den Bezug von Mutterschaftsgeld gemäß § 118 Abs 1 Nr 2 AFG bzw § 142 Abs 1 Nr 2 SGB III) hinsichtlich des Fristablaufs unterschiedlich zu behandeln (BSGE 62, 179, 181 f = SozR 4100 § 125 Nr 3; BSG SozR 3-4100 § 125 Nr 1). § 147 Abs 2 SGB III behandelt jedes tatsächliche und rechtliche Hindernis, den Anspruch auf Alg rechtzeitig geltend zu machen, als gleichwertig. Auch Härten im Einzelfall sind nicht über eine Fristverlängerung ausgleichbar (BSGE 54, 212, 218 = SozR 4100 § 125 Nr 2; BSG SozR 3-4100 § 125 Nr 1). Insbesondere der erkennende Senat hat es immer wieder abgelehnt, für den Ablauf der Verfallsfrist des § 125 Abs 2 AFG Unterschiede zwischen einzelnen schützenswerten Interessen zu machen. Schützenswerte Interessen würden auch sonst auf dem Spiel stehen, ohne dass ihnen das Gesetz Vorrang vor dem Verfall eines erworbenen Alg-Anspruchs durch Fristablauf einräume (vgl insbesondere BSGE 62, 179, 182 = SozR 4100 § 125 Nr 3 S 12 oben). Dementsprechend hat der Senat auch keine Möglichkeit gesehen, den Zeitraum des Erziehungsgeldbezugs einer Klägerin fristverlängernd im Rahmen des § 125 Abs 2 AFG zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 3-4100 § 147 Nr 10). Eine solche Verlängerung würde dem Wesen der Frist des § 125 Abs 2 AFG als materielle Ausschlussfrist zuwiderlaufen, zu einer nicht unerheblichen Rechtsunsicherheit beitragen und wäre schließlich mit Wortlaut und Regelungszweck des § 125 Abs 2 AFG nicht zu vereinbaren (BSG SozR 3-4100 § 147 Nr 10, S 42 f).

Allerdings führt diese Rechtsprechung im vorliegenden Fall zu einem Ergebnis, das im Lichte der verfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidung des Art 6 Abs 4 GG nicht hingenommen werden kann. Nach Art 6 Abs 4 GG hat jede Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Art 6 Abs 4 GG enthält einen bindenden Auftrag an den Gesetzgeber (nicht etwa nur einen Programmsatz) für Schutz und Fürsorge (vgl BVerfGE 32, 273, 277; 60, 68, 74; Schmitt/Kammler in Sachs, GG, 2. Aufl, RdNr 80 ff zu Art 6 GG mwN; Coester-Waltjen in von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl, RdNr 105 ff zu Art 6 GG; Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl, RdNr 43 ff zu Art 6 GG). Die Bindungswirkung des Art 6 Abs 4 GG gilt für das gesamte private und öffentliche Recht und für alle staatlichen Stellen bei der Gesetzesanwendung und -auslegung. Insbesondere verbietet Art 6 Abs 4 GG jede Diskriminierung und verengt den im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes bestehenden Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu Gunsten der Mütter (so schon BVerfGE 18, 257, 269; 29, 71, 79 und 65, 104, 113). Aus Art 6 Abs 4 GG kann zwar nicht abgeleitet werden, dass der Gesetzgeber gehalten wäre, jede mit der Mutterschaft zusammenhängende wirtschaftliche Belastung (insbesondere auf dem Gebiet der Sozialversicherung) auszugleichen (so grundsätzlich BVerfGE 60, 68, 74; zur Frage, inwieweit Art 6 Abs 4 GG eine bestimmte positive Gestaltung von Anspruchsnormen gebietet vgl den Vorlagebeschluss des 11. Senats des BSG vom 20. Juni 2001 - B 11 AL 20/01 R -, NZS 2002, 100).

Im vorliegenden Fall ist jedoch nicht darüber zu entscheiden, ob sich eine Mutterschaft in späterer Zeit auch einmal im Ergebnis negativ auswirken darf (so das Bundesverwaltungsgericht zur Verzögerung des Aufstiegs um eine Dienstaltersstufe um einen Monat ca neun Jahre nach der Geburt: BVerwGE 61, 79, 83 ff; s auch BVerfGE 60, 68, 76 f = SozR 4100 § 104 Nr 10, wo die - später korrigierte - Nichtberücksichtigung der Mutterschutzzeit für eine Anwartschaft auf Alg ca 2 1/2 Jahre nach der Geburt als gerade "noch vereinbar" mit Art 6 Abs 4 GG angesehen wurde). Vielmehr geht es darum, einen Eingriff abzuwehren, der unmittelbar den Anspruch der Klägerin auf Alg für die Restdauer wegen ihrer Entbindung und des anschließenden Beschäftigungsverbots verfallen ließ. Diese Rechtsfolge hätte die Klägerin nicht zu tragen gehabt, wenn sie nicht Mutter geworden wäre. Art 6 Abs 4 GG, der insbesondere als Diskriminierungsverbot (vgl BVerfGE 65, 104, 113; vgl auch Jarass/Pieroth, GG, 6. Aufl, RdNr 45 zu Art 6 GG) wirkt, ist insoweit in seinem Kernbereich betroffen, dem Schutz der Mutter in der Schwangerschaft und unmittelbar nach der Entbindung (hierzu BVerfGE 85, 360, 372 unter Hinweis auf BVerfGE 32, 273, 277).

Auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalls wurde die Klägerin hier allein wegen ihrer Mutterschaft schlechter gestellt als andere Arbeitslose. Sie hätte ohne eine Schwangerschaft und Entbindung den ihr ab 25. November 1998 wieder bewilligten Alg-Anspruch bis zu dessen Erschöpfung verbrauchen können. An der Ausschöpfung des bereits bewilligten Alg-Anspruchs wurde sie ausschließlich deshalb gehindert, weil § 6 Abs 1 MuSchG ein zwingendes achtwöchiges nachgeburtliches Beschäftigungsverbot enthält, das seinerseits zum Wegfall des Alg-Anspruchs führte. Wäre die Klägerin im Zeitraum des zwingenden Beschäftigungsverbots gemäß § 6 Abs 1 MuSchG verfügbar gewesen (zu Zweifeln siehe unten), so wäre der Anspruch am 2. Januar 1999 nicht erloschen. Mithin führte hier wegen des zeitlichen Zusammentreffens des Beschäftigungsverbots gemäß § 6 Abs 1 MuSchG und des Ablaufs der Vierjahresfrist gemäß § 147 Abs 2 SGB III am 2. Januar 1999 einzig die Mutterschaft kausal den Anspruchsverlust für die Klägerin herbei.

Der Senat hält es daher für geboten, für den eng umgrenzten Sonderfall, dass während der Zeit des Beschäftigungsverbots nach § 6 MuSchG die Vierjahresfrist abläuft und allein dadurch ein zuvor bereits laufender Alg-Anspruch erlischt, eine Ausnahme von der bisher unbedingten Geltung der Frist des § 147 Abs 2 SGB III zuzulassen.

Der Senat kann jedoch - noch - offen lassen, ob dieses aus Art 6 Abs 4 GG abzuleitende Ergebnis im Wege einer verfassungskonformen Auslegung des § 147 Abs 2 SGB III gewonnen werden kann, zumal der Wortlaut des § 147 Abs 2 SGB III und der Wille des Gesetzgebers hinsichtlich der einschränkungslosen Geltung der vierjährigen Verfallfrist eindeutig sein dürften (vgl hierzu BVerfGE 95, 64, 93; zu den Grenzen einer verfassungskonformen Auslegung auch der Vorlagebeschluss des 11. Senats des BSG vom 20. Juni 2001, aaO). Ob eine Vorlage nach Art 100 Abs 1 GG an das Bundesverfassungsgericht seitens des LSG in Betracht zu ziehen wäre, ist allerdings erst dann zu entscheiden, wenn feststeht, dass der Klägerin ab 19. Februar 1999 überhaupt ein Anspruch auf Alg zustehen kann. Hierzu wird das LSG zunächst weitere Ermittlungen anzustellen haben (sogleich 2.).

Ebenso braucht nicht entschieden zu werden, ob das aus Art 6 Abs 4 GG abgeleitete Ergebnis auch direkt aus der Richtlinie 79/7 EWG zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit vom 19. Dezember 1978 (ABl Nr L 6/24) folgen könnte. Diese Richtlinie kennzeichnet in Art 4 Abs 1 den Grundsatz der Gleichbehandlung als den "Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung auf Grund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen" sowie "die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge". Hierzu hat der 12. Senat des BSG entschieden, dass eine für den Geltungsbereich der Richtlinie 79/7 EWG maßgebliche verbotene unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts immer dann gegeben ist, "wenn die sozialrechtliche Position einer Arbeitnehmerin bei den in Art 4 dieser Richtlinie genannten Sachverhalten deshalb schlechter ist, weil sie einen Tatbestand nur wegen ihrer Schwangerschaft nicht verwirklichen kann" (BSGE 83, 186, 190 = SozR 3-2500 § 186 Nr 7 S 23).

2. Von seiner Rechtsansicht her zu Recht hat das LSG nicht untersucht, ob die Klägerin ab dem 19. Februar 1999 überhaupt den Vermittlungsbemühungen des Arbeitsamts zur Verfügung stand (§ 119 Abs 1 Nr 2 SGB III). Hieran bestehen insofern Zweifel, als ausweislich der Verwaltungsakten die Klägerin während des gesamten streitigen Zeitraums ein Promotionsstipendium des C -Werks erhielt. Die Klägerin hat erst mit Ablauf dieses Stipendiums zum 15. Mai 1999 Alhi beantragt und diese später auch bewilligt erhalten. Sie könnte also gehindert gewesen sein, eine ihr angebotene Arbeit - unabhängig von der Schwangerschaft und Mutterschaft - sofort auszuüben, weil sie einem geregelten Studium mit dem Ziele der Promotion nachging (hierzu zuletzt BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 2; Urteil des Senats vom 19. März 1998 - B 7 AL 44/97 R -, DBlR Nr 4457a zu § 152 AFG; zu den Ermittlungen hinsichtlich des Erscheinungsbilds als Student im Einzelnen BSG, Urteil vom 17. Dezember 1997 - 11 RAr 25/97 -, DBlR Nr 4412 zu § 103a AFG).

Im Rahmen seiner weiteren Ermittlungen könnte das LSG auch den letzten Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 28. Januar 1999 einer näheren Betrachtung unterziehen. Dieser Bescheid liegt bislang in den Akten nicht vor. Nach dem Tatbestand des LSG-Urteils wurde in diesem Bescheid eine Restanspruchsdauer des Anspruchs auf Alg von 223 Tagen festgestellt. Auf Grund des konkreten Geschehensablaufs - die Klägerin hatte sich bereits vor Erlass des Bescheides am 22. Januar 1999 wieder arbeitslos gemeldet - könnte im Einzelnen zu ermitteln sein, ob die Beklagte der Klägerin hier nicht ausnahmsweise eine bestimmte Restanspruchsdauer des Anspruchs auf Alg mit bindender Wirkung zugesprochen hat.

Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des Ausgangs des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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