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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 17.06.2008
Aktenzeichen: B 8 AY 11/07 R
Rechtsgebiete: AsylbLG


Vorschriften:

AsylbLG § 2 Abs 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT

Im Namen des Volkes

Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 8 AY 11/07 R

Der 8. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 17. Juni 2008 durch den Vorsitzenden Richter Eicher, den Richter Dr. Koloczek und die Richterin Behrend sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Landsberg und Menzel

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. November 2007 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für die Zeit vom 3. September bis 13. Dezember 2005, insbesondere statt der Leistungen nach §§ 3 ff AsylbLG (so genannte Grundleistungen) Leistungen nach § 2 AsylbLG (so genannte Analog-Leistungen) unter entsprechender Anwendung des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Die Kläger gehören zur Volksgruppe der Ashkali aus dem Kosovo und besaßen die serbischmontenegrinische Staatsangehörigkeit; die Kläger zu 1 und 2 sind die Eltern der 1993, 1995, 1996 bzw 2000 geborenen Kläger zu 3 bis 6. Die Kläger zu 1 bis 5 reisten im Februar 1999 in die Bundesrepublik Deutschland ein; der Kläger zu 6 ist erst in Deutschland geboren. Die Asylanträge der Kläger zu 1 bis 5 sind seit September 2001 unanfechtbar abgelehnt; ein Asylfolgeantrag des Klägers zu 4 vom November 2005 blieb ebenso erfolglos wie der Asylantrag des Klägers zu 6 vom April 2005. Sämtliche Kläger besitzen eine Duldung der Ausländerbehörde; die Kläger zu 1 bis 5 beziehen seit Februar 1999, der Kläger zu 6 seit seiner Geburt, Grundleistungen nach §§ 3 ff AsylbLG.

Der Beklagte bewilligte den Klägern Grundleistungen für Februar 2005 nach § 3 AsylbLG (Bescheid vom 8. Februar 2005); in der Folgezeit ergingen zumindest Bescheide über zusätzliche Einmalleistungen und Leistungen bei Krankheit. Am 5. September 2005 legten die Kläger gegen "die laufenden Leistungen nach dem AsylbLG Widerspruch ein", nachdem der Beklagte zuvor für die Kläger zu 2 und 6 Leistungen bei Krankheit bewilligt hatte (Bescheid vom 22. August 2005). Den Widerspruch wies der Beklagte als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2005), weil den Klägern keine Analog-Leistungen zustünden. Sie hätten ihre Aufenthaltsdauer iS des § 2 AsylbLG dadurch rechtsmissbräuchlich beeinflusst, dass sie nicht freiwillig ausgereist seien.

Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat die auf höhere Leistungen für den Zeitraum vom 3. September bis 15. Dezember 2005 unter Aufhebung etwaiger nach dem 31. August 2005 ergangener Verwaltungsakte gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 7. April 2006). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg - dem im Berufungsverfahren gestellten Antrag entsprechend - hat den Beklagten verurteilt, "den Klägern unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen für die Zeit vom 3. September bis 13. Dezember 2005 Leistungen nach § 2 Abs 1 AsylbLG in Verbindung mit dem SGB XII zu erbringen" (Urteil vom 22. November 2007). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Kläger hätten die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Zwar sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland trotz vorliegender Duldung rechtsmissbräuchlich, wenn es dem Ausländer möglich und zumutbar wäre auszureisen. Auf Grund der fortgeschrittenen Integration sei jedoch die Ausreise der minderjährigen Kläger zu s bis 6 nicht zumutbar; dies komme auch den Klägern zu 1 und 2, den Eltern, zugute.

Mit der Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 2 Abs 1 AsylbLG. Er ist der Ansicht, ein langjähriger Aufenthalt in Deutschland und der erlangte Integrationsgrad führten allein nicht dazu, dass der Ausländer gegen aufenthaltsverändernde Maßnahmen geschützt sei und deshalb im Ergebnis einen Anspruch auf Legalisierung des Aufenthaltes habe. Neben der Integration in die deutschen Verhältnisse und der Entfremdung vom Heimatstaat verlange die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung grundsätzlich eine aufenthaltsrechtliche Verankerung, die in den Fällen bloßer Duldung regelmäßig nicht erfüllt sei. Die von der Rechtsprechung des BSG geforderte besondere Integration in die deutschen Lebensverhältnisse liege unter diesen Voraussetzungen nicht vor.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufungen der Kläger gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten die Entscheidung des LSG für zutreffend.

II

Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen (§ 163 SGG) kann der Senat nicht entscheiden, ob den Klägern im streitigen Zeitraum vom 3. September bis 13. Dezember 2005 - auf diesen Zeitraum wurde die Klage beim LSG beschränkt - höhere Leistungen, insbesondere Analog-Leistungen nach § 2 AsylbLG, zustehen.

Gegenstand des Verfahrens ist der Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 2005, der allerdings entgegen den Ausführungen des LSG nicht den Bescheid vom 8. Februar 2005 erfasst. Mit diesem Bescheid hat der Beklagte nämlich ausschließlich und ausdrücklich nur für Februar 2005 Leistungen nach § 3 AsylbLG bewilligt. In der Folgezeit wurden laufende Grundleistungen offenbar ohne entsprechende ausdrückliche Bewilligung lediglich konkludent durch entsprechende Zahlungen zugestanden; darüber hinaus wurden nach Aktenlage zusätzliche Einmalleistungen, wie etwa mit Bescheid vom 22. August 2005, zugestanden. Das LSG wird dies näher zu prüfen haben. Dabei wird es zu beachten haben, dass entgegen der Rechtsprechung des Senats zu § 96 SGG (BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 12/06 R - RdNr 8 mwN) jedenfalls für die Zeit bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids ausdrückliche bzw konkludente Bewilligungsbescheide, die Folgezeiträume betreffen, in analoger Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens werden. Insoweit gilt nicht der von der Rechtsprechung angeführte Einwand fehlender Prozessökonomie, weil bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides die Verwaltung ohnedies das Verfahren in der Hand behält und auch ohne weiteres alle bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides ergangenen Bewilligungen überprüfen kann und muss. Die Situation ist insoweit anders als im Fall des Erlasses eines Bescheides für Folgezeiträume erst während des laufenden Gerichtsverfahrens.

In der Sache handelt es sich vorliegend um eine Klage auf höhere Leistungen, selbst wenn kein typischer Höhenstreit vorliegt, weil Analog-Leistungen regelmäßig in Form von Geldleistungen in entsprechender Anwendung des SGB XII erbracht werden und Leistungen nach §§ 3 ff AsylbLG grundsätzlich als Sachleistungen vorgesehen sind (vgl dazu näher Senatsurteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R). Gegen den Widerspruchsbescheid wehren sich die Kläger mit kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG), gegebenenfalls jedoch auch mit kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen für den Fall, dass sich die Überprüfung von Leistungsbewilligungen an §§ 44, 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz -(SGB X) messen sollte (dazu später).

Die Revision des Landes Baden-Württemberg als des richtigen Beklagten (§ 2 Abs 1 Flüchtlingsaufnahmegesetz <FlüAG> iVm § 2 Abs 2 Nr 3 und Abs 4 FlüAG sowie § 13 Abs 1 Nr 1 Landesverwaltungsgesetz Baden-Württemberg) - in Baden-Württemberg ist keine Beteiligtenfähigkeit der Behörde geregelt (vgl dazu § 70 Nr 3 SGG) - ist nicht bereits deshalb begründet, weil der Widerspruch der Kläger gegen Bescheide, die die Zeit vor dem streitigen Zeitraum betrafen, verfristet wäre (vgl die Monatsfrist des § 84 SGG). Abgesehen davon, dass der Beklagte ohnedies mit seinem Widerspruchsbescheid in der Sache entschieden hat und damit auch das Gericht gehindert wäre, eine Bestandskraft der mit dem Widerspruch angegangenen Bescheide (§ 77 SGG) anzunehmen (vgl dazu nur: Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005, § 84 RdNr 7), kann die Monatsfrist für die Erhebung des Widerspruchs schon deshalb nicht verstrichen sein, weil das vorliegende Verfahren auf Grund der Beschränkung der Klage nur den Zeitraum vom 3. September bis 13. Dezember 2005 betrifft. Wie bereits ausgeführt, dürften entsprechende ausdrückliche bzw konkludente Leistungsbewilligungen für diesen Zeitraum nur in analoger Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden sein.

Ob allerdings, wie das LSG entschieden hat, den Klägern höhere Leistungen nach dem AsylbLG, insbesondere nach § 2 Abs 1 AsylbLG iVm dem SGB XII, zustehen, kann der Senat nicht abschließend entscheiden, weil das LSG - ausgehend von seiner Rechtsansicht zu § 2 AsylbLG, die vom Senat nicht geteilt wird - keine ausreichenden Feststellungen zu den vom Senat für erforderlich gehaltenen Voraussetzungen des § 2 Abs 1 AsylbLG (hier idF, die die Norm durch das Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom 30. Juli 2004 - BGBl I 1950 - erhalten hat) getroffen hat. Danach ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten (des § 1 AsylbLG) entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten und die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Gegebenenfalls misst sich die Begründetheit der Revision dabei zusätzlich an § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X oder § 44 SGB X (vgl zu dessen Anwendung das Senatsurteil vom 17. Juni 2008 - B 8 AY 5/07 R), wenn für den streitigen Zeitraum frühere Bewilligungsbescheide abgeändert worden wären; nach Aktenlage ist dies jedoch nicht der Fall.

Die Kläger gehören zum Kreis der Leistungsberechtigten nach § 1 Abs 1 Nr 4 AsylbLG; sie halten sich als Ausländer tatsächlich im Bundesgebiet auf und sind im Besitz einer Duldung nach § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Alle Kläger erhielten vor dem streitigen Zeitraum für mindestens 36 Monate Leistungen nach § 3 AsylbLG. Ob allerdings die Kläger ihre Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik Deutschland selbst rechtsmissbräuchlich beeinflusst haben, kann nicht beurteilt werden. Entgegen der Entscheidung des LSG, das der Rechtsprechung des 9b-Senats des BSG (SozR 4-3520 § 2 Nr 1) gefolgt ist, handelt ein Leistungsempfänger nämlich nicht schon dann rechtsmissbräuchlich, wenn er trotz des auf Grund der Duldung bestehenden Abschiebeverbots nicht freiwillig ausreist und hierfür keine anerkennenswerten Gründe vorliegen. Vielmehr ist ein über das bloße Verbleiben und Stellen eines Asyl- bzw Asylfolgeantrags hinausgehendes vorsätzliches Verhalten erforderlich (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R). Entgegen der Rechtsprechung des früheren 9b-Senats, die vom erkennenden Senat aufgegeben worden ist, kann der Missbrauchsvorwurf auch nicht durch eine zwischenzeitliche Integration - wie vom LSG angenommen - ausgeräumt werden.

Ob das vorwerfbare Verhalten die Aufenthaltsdauer beeinflusst hat, ist vielmehr unter Berücksichtigung der gesamten Zeit zu beurteilen, die nach dem maßgeblichen Fehlverhalten verstrichen ist (BSG aaO). Dass dabei ein Fehlverhalten der Eltern den Kindern nicht zugerechnet wird (BSG aaO), ist vorliegend ohne Bedeutung, weil nach § 2 Abs 3 AsylbLG minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Haushaltsgemeinschaft leben, Analog-Leistungen ohnedies nur erhalten, wenn mindestens ein Elternteil in der Haushaltsgemeinschaft Analog-Leistungen erhält.

Der Senat kann auch deshalb - abgesehen davon, dass das LSG keine Feststellungen zur Bedürftigkeit der Kläger (§§ 3, 7 AsylbLG bzw § 2 AsylbLG iVm §§ 19, 82 ff SGB XII) getroffen hat - nicht abschließend in der Sache entscheiden, weil nicht beurteilt werden kann, ob den Klägern - unterstellt, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 AsylbLG sind zu bejahen -überhaupt noch weitere Leistungen zustehen. Hierzu muss das LSG - da die Beteiligten in der Sache um die Höhe der Leistungen streiten - den Umfang der nach §§ 3 ff AsylbLG im streitigen Zeitraum an jeden einzelnen Kläger erbrachten Leistungen insgesamt ermitteln. Der Wert der erbrachten Leistungen ist dann von den nach § 2 AsylbLG iVm dem SGB XII dem jeweiligen Kläger zustehenden Leistungen in Abzug zu bringen. Dabei sind allerdings nur vergleichbare Leistungen einzubeziehen; unschädlich ist es, wenn nach den §§ 3 ff AsylbLG Einmalleistungen erbracht sein sollten, die nach dem SGB XII durch Pauschalen (uU den Regelsatz) abgegolten würden (Senatsurteil vom 17. Juni 2008 - B 8 AY 5/07 R). Gegebenenfalls ist jedoch darauf zu achten; dass nicht mehr bestehende Bedarfe nicht mehr zu decken sind (so genannter Aktualitätsgrundsatz). Vergleichbare Leistungen im bezeichneten Sinne sind zB nicht die den Klägern gewährten Leistungen bei Krankheit (§ 4 AsylbLG), weil den Klägern bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs 1 AsylbLG Leistungen nach § 264 Abs 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung - (SGB V) von der zuständigen Krankenkasse zu erbringen wären; diese Leistungen wären mithin nicht Bestandteil der den Klägern nach den Vorschriften des SGB XII zu erbringenden Leistungen. Soweit den Klägern Analog-Leistungen nicht zustehen sollten, wird das LSG zu prüfen haben, ob den Klägern höhere Grundleistungen zustehen.

Das LSG wird gegebenenfalls auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.



Ende der Entscheidung

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