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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 31.03.1998
Aktenzeichen: B 8 KN 7/97 R
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 73 Abs 6 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Verkündet am 31. März 1998

in dem Rechtsstreit

Az: B 8 KN 7/97 R

Kläger und Beschwerdeführer,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Bundesknappschaft, 44789 Bochum, Pieperstraße 14/28,

Beklagte und Beschwerdegegnerin.

Der 8. Senat des Bundessozialgerichts hat am 31. März 1998 ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden Richter Wiester, die Richter Schenk und Masuch sowie die ehrenamtlichen Richter Freiherr Grote und Leite

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1996 (L 2 (18) Kn 46/95) aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat dieses Gerichts zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der Rechtsstreit betrifft die Zuordnung einer polnischen Beschäftigungszeit von März 1961 bis März 1982 als Pflichtversicherungszeit in der knappschaftlichen Rentenversicherung anstelle der Angestelltenversicherung. Zuvor sind verfahrensrechtliche Fragen zu klären.

Der 1928 geborene, seit seiner Umsiedlung aus Polen im Mai 1988 als anerkannter Vertriebener in der Bundesrepublik Deutschland lebende Kläger blieb mit seinem Begehren, die Zeit seiner Beschäftigung im ehemaligen Bergbau-Maschinenindustrieverband POLMAG (1. März 1961 bis 1. April 1973) sowie in der Fabrik für Bergbauvorrichtungen TAGOR (2. April 1973 bis 31. März 1982) der knappschaftlichen Rentenversicherung zuzuordnen, ohne Erfolg (Rentenbescheid vom 15. November 1993, Widerspruchsbescheid vom 12. April 1994; Bescheid der Beklagten im Wege der Neufeststellung gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - <SGB X> vom 8. Juni 1994, Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1996; Urteil des Sozialgerichts <SG> Duisburg vom 7. Juni 1995; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1996). Den seinerzeitigen Prozeßbevollmächtigten des Klägers, Rechtsbeistand K., hat das LSG in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, daß er nicht auftreten dürfe, weil er nicht die Erlaubnis zur mündlichen Verhandlung habe. Zur Begründung hat es in der Sache ausgeführt, der Rentenbescheid vom 15. November 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. April 1994 habe - ohne Rechtsfehler - den zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleich vom 23. Februar 1993 ausgeführt, der die Zuordnung der streitigen Zeit eingeschlossen habe. Auch der Anspruch auf eine Neufeststellung gemäß § 44 SGB X sei unbegründet. Wegen mutwilliger Rechtsverfolgung hat das LSG dem Kläger Gerichtskosten in Höhe von 1.000,00 DM auferlegt.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung materiellen und formellen Rechts. Insbesondere habe das LSG seine Hinweis- und Belehrungspflicht gemäß § 73 Abs 6 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG verletzt.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die angefochtenen Urteile aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 8. Juni 1994 sowie den Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1996 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, seine Beschäftigungszeiten in Polen von März 1961 bis März 1982 insgesamt der knappschaftlichen Rentenversicherung zuzuordnen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt - unter näherer Darlegung -,

die Revision zurückzuweisen.

Auf die Anfrage des erkennenden Senats hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) mitgeteilt, er gebe seine im Urteil vom 13. März 1975 - 2 RU 267/73 - dargelegte Rechtsauffassung auf, bei Aufhebung des angefochtenen Urteils könne die Sache nur an das Gericht zurückverweisen werden, welches das angefochtene Urteil erlassen habe, nicht aber an einen anderen Senat dieses Gerichts.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist iS seines Hilfsantrags begründet. Der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des LSG zurückzuverweisen. Auf der Grundlage der verfahrensfehlerfrei getroffenen Feststellungen des LSG läßt sich nicht entscheiden, ob die streitigen Beschäftigungszeiten des Klägers der knappschaftlichen Versicherung zuzurechnen sind. Dabei gebietet die Rücksicht auf das Vertrauen des Klägers in die Rechtsprechung aufgrund eines fairen Verfahrens, die Sache an einen anderen Senat des LSG zu verweisen.

Der vom Kläger gerügte Verfahrensfehler einer Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt vor. Das LSG hat die mündliche Verhandlung durchgeführt, ohne den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör hinreichend zu beachten (§ 62 SGG). Denn es hat den Rechtsbeistand des Klägers zurückgewiesen, ohne den Kläger zu befragen, ob er die Vertagung der Verhandlung beantrage (§ 73 Abs 6 Satz 2 SGG).

Das LSG hat den Bevollmächtigten des Klägers zur mündlichen Verhandlung geladen (Bl 100 LSG-Akte), und dieser ist auch zusammen mit dem Kläger zu der Verhandlung erschienen (s S 3 der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 18. Juli 1996). Aus den Gerichtsakten des LSG, insbesondere aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung und dem angefochtenen Urteil ergibt sich, daß das LSG den Prozeßbevollmächtigten des Klägers ausschließen wollte (s S 9 der Urteilsgründe mit dem Hinweis auf § 73 Abs 6 SGG, § 157 Abs 1, Abs 3 Zivilprozeßordnung <ZPO>) und dieser auf einen entsprechenden Hinweis des LSG nicht aufgetreten ist (s S 8 der Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils), ohne daß eine derartige Zurückweisung dem Kläger rechtzeitig vorher angekündigt worden war. Bei einer Sachlage wie dieser, in der ein Bevollmächtigter als Beistand in der mündlichen Verhandlung ausgeschlossen ist und das Gericht ihn deshalb - wie im vorliegenden Falle - zurückweist, verpflichtet § 73 Abs 6 Satz 2 SGG das Gericht, den Beteiligten zu fragen, ob er von der Möglichkeit Gebrauch machen wolle, einen Vertagungsantrag zu stellen. Dieser Pflicht ist das LSG nicht nachgekommen.

Wie das BSG entschieden hat, liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler bereits vor, wenn weder dem Urteil noch der Niederschrift zu entnehmen ist, daß der Vorsitzende den Beteiligten vorschriftsgemäß befragt und was der Beteiligte hierauf geäußert hat (BSG vom 18. März 1969, SozR § 73 SGG Nr 15; vgl Bley in SGB-SozVers-GesamtKomm § 73 SGG Anm 20 f mwN). Ob ein Beteiligter befragt worden ist und ob er darauf einen Vertagungsantrag gestellt hat, betrifft danach in aller Regel "wesentliche Vorgänge der Verhandlung" (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 1 Nr 4, Abs 2, Abs 3 Nr 2 ZPO), die festzuhalten und in die Niederschrift über die Sitzung aufzunehmen sind; zumindest müssen diese Vorgänge, wenn sich aus der Sitzungsniederschrift hierzu nichts ergibt, in dem angefochtenen Urteil erwähnt sein. Ist dies nicht der Fall, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel.

Der tatsächlich vorliegende Verfahrensmangel ist auch wesentlich (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn das angefochtene Urteil kann auf ihm beruhen (vgl zu den Grundsätzen BSG vom 28. Juni 1978, SozR 1500 § 160 Nr 31; 18. Februar 1980, SozR 1500 § 160a Nr 36). Dem Vorbringen des Klägers ist mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, daß er - wenn das LSG ihn zur Vertagung befragt hätte - einen solchen Antrag auch gestellt hätte, um einen rechtskundigen Prozeßbevollmächtigten zu beauftragen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG auf dieser Grundlage zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Hinzu tritt die Ankündigung des Klägers, ein sachkundiger Prozeßbevollmächtigter hätte aufgrund der Vorgänge in der mündlichen Verhandlung den damaligen Vorsitzenden Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Hierin liegt die Möglichkeit begründet, daß das Gericht ohne diesen Vorsitzenden - nach Vertagung - in anderer Besetzung über die Sache entschieden hätte.

Die Verweisung an einen anderen Senat des LSG erfolgt gemäß § 565 Abs 1 Satz 2 ZPO iVm § 202 SGG (vgl zur entsprechenden Anwendbarkeit dieser Regelung im sozialgerichtlichen Verfahren: BSG <6. Senat> vom 24. März 1971, BSGE 32, 253, 255; Urteil des 9. Senats vom 24. März 1976 - 9 RV 92/74 -, SGB 1976, 287; noch offengelassen im Urteil des erkennenden Senats vom 25. Februar 1976 - 8 RU 88/75 -, SGB 1976, 286). Trifft in Fällen wie dem vorliegenden die Nichtbeachtung von Prozeßgrundrechten und die Auferlegung von Mutwillenskosten zusammen, erscheint die Verweisung an einen anderen Senat geeignet, dem Vertrauen in die Rechtsprechung aufgrund eines fairen Verfahrens zu dienen (vgl zu einem ähnlichen Fall bereits das Urteil des 9. BSG-Senats vom 24. März 1.976 aaO). Das Bedürfnis entfällt auch nicht deshalb, weil der hier zuständig gewesene 2. Senat des LSG an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts gebunden wäre oder er in anderer Besetzung zu entscheiden hätte (vgl dazu Senatsurteil vom 25. Februar 19.76 aaO; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl, IX Rz 393 mwN). Der 2. Senat des BSG hat seine entgegenstehende Auffassung im Urteil vom 13. März 1975 - 2 RU 267/73 -, SozSich 1976, 312) aufgegeben (Beschluß vom 17. Februar 1998).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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