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Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 24.04.2008
Aktenzeichen: B 9/9a SB 8/06 R
Rechtsgebiete: SGB IX
Vorschriften:
SGB IX § 69 Abs 1 S 1 |
Entscheidung wurde am 27.08.2008 korrigiert: die Rechtsgebiete und die Vorschriften wurden geändert, Stichworte und ein amtlicher Leitsatz wurden hinzugefügt
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil
in dem Rechtsstreit
Az: B 9/9a SB 8/06 R
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 24. April 2008 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Loytved, die Richter Dau und Dr. Knörr sowie die ehrenamtlichen Richter Kadoke und Amberger für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. Juni 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Grad der Behinderung (GdB) des Klägers von 60 auf 70 zu erhöhen ist.
Bei dem 1946 geborenen Kläger hatte die Beklagte zuletzt nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX einen GdB von 60 festgestellt; seinen "Antrag auf Neufeststellung" eines höheren GdB lehnte sie ab, weil sich seine gesundheitlichen Verhältnisse nicht verschlechtert hätten (Bescheid vom 8.10.2004; Widerspruchsbescheid vom 25.10.2004).
Das Sozialgericht Hamburg (SG) hat die auf einen GdB von 70 gerichtete Klage aus den Gründen der angegriffenen Bescheide abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 27.9.2005). Das Landessozialgericht Hamburg (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 20.6.2006). Der Kläger bedürfe gerichtlichen Rechtsschutzes nicht. Er habe kein rechtlich geschütztes Interesse an der begehrten GdB-Erhöhung, weil sie für ihn zweck- und nutzlos wäre. Zusätzliche Leistungen und Hilfen könne er bei Anhebung des GdB auf 70 nach dem Gesetz nicht beanspruchen. Insbesondere habe er keine steuerrechtlichen Vorteile, weil er zur Zeit bei seinen Einkünften als Rentner keine Einkommensteuer zahle und Einkommensteuerpflicht in absehbarer Zeit auch nicht naheliege.
Mit seiner Revision macht der Kläger im Wesentlichen geltend, er bedürfe des Rechtsschutzes schon deshalb, weil das Sozialrecht häufig geändert werde und sich deshalb nicht ausschließen lasse, dass ihm künftig ein GdB von 70 weitere Vorteile vermittele. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass er in Zukunft einkommensteuerpflichtig werde.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 20.6.2006 und den Gerichtsbescheid des SG Hamburg vom 27.9.2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 8.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.10.2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, seinen GdB auf 70 festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angegriffenen Entscheidungen.
II
Die Revision ist begründet. Das Berufungsurteil ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Tritt nach einer solchen Feststellung eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen ein, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, ist der GdB neu festzustellen (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X). Ob hier durch Verschlechterung der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers eine wesentliche Änderung eingetreten und sein GdB deshalb - wie von ihm beantragt - von 60 auf 70 zu erhöhen ist, lässt sich im Revisionsverfahren nicht abschließend entscheiden. Das LSG hat in dem angegriffenen Urteil zum Gesundheitszustand des Klägers und den daraus folgenden Funktionsstörungen keine Feststellungen und keine Entscheidung in der Sache getroffen. Es hat die Klage zu Unrecht für unzulässig gehalten, weil eine Prozessvoraussetzung fehle. Der Kläger habe kein Rechtsschutzbedürfnis. Der Senat kann die unterbliebene Sachentscheidung mangels entsprechender Tatsachenfeststellungen nicht nachholen (§ 163 SGG). Das ist Aufgabe des LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren.
Zu Recht hat das LSG zwar als (Prozess-)Voraussetzung einer jeden gerichtlichen Rechtsverfolgung ein Bedürfnis nach Rechtsschutz (Rechtsschutzinteresse) gefordert. Zu Unrecht hat es aber ein Rechtsschutzbedürfnis hier mit der Begründung verneint, dass für den Kläger ein von 60 auf 70 erhöhter GdB zweck- und nutzlos sei und für ihn keinen Sinn oder Verwendungszweck hätte.
Im Allgemeinen fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis nur, wenn eine Klage für den Kläger offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (BVerwGE 121, 1 RdNr 19; BSGE 82, 176, 177, 182 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 24 S 94, 100; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, vor § 51 RdNr 16a). Die Nutzlosigkeit muss also eindeutig sein. Ob - geringfügige - GdB-Erhöhungen unter- oder oberhalb eines die Schwerbehinderteneigenschaft begründenden GdB von 50 für den behinderten Menschen in diesem Sinne eindeutig nutzlos sind, braucht nicht jeweils im Einzelfall ermittelt und festgestellt zu werden, weil der Gesetzgeber diese Frage generell verneint hat. Nach dem System des Schwerbehindertenrechts im SGB IX hat jeder behinderte Mensch Anspruch auf Feststellung des maßgeblichen GdB unabhängig davon, ob sich seine gegenwärtige rechtliche und/oder wirtschaftliche Situation dadurch unmittelbar verbessert. Ein besonderes Feststellungsinteresse (Rechtsschutzbedürfnis) ist nicht erforderlich.
Das ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 69 Abs 1 Satz 6 SGB IX: "Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt." Damit wird pauschal die Schutzwürdigkeit von GdB-Feststellungen ab 20 statuiert.
Die Materialien zur Vorgängervorschrift in § 3 Abs 2 Schwerbehindertengesetz bestätigen dieses Ergebnis. In der BT-Drucks 10/5701, S 9 heißt es:
Das Vorliegen einer Behinderung ist unabhängig davon, dass die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung zu einem Grad von wenigstens 20 führt. Leichte Funktionsbeeinträchtigungen, die zu einem Behinderungsgrad von weniger als 20 führen, sind ohnehin für die Schwerbehinderteneigenschaft, die Gleichstellung oder die Inanspruchnahme von sog Vergünstigungen unbeachtlich und entbehrlich, wenn nicht zugleich mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen, die in ihrer Gesamtheit den erforderlichen höheren Gesamtgrad bedingen...
Der Ausschuss geht davon aus, dass bei Vorliegen einer Behinderung mit einem Grad von weniger als 20 ein Feststellungsbescheid darüber nicht zu erlassen ist. Vielmehr ist ein Feststellungsbescheid über das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung nach § 2a Abs 2 nur zu erlassen, wenn eine Behinderung mit einem Grad von wenigstens 20 gegeben ist.
Für ein Rechtsschutzinteresse, das unabhängig davon besteht, ob im Einzelfall rechtliche oder tatsächliche Vorteile feststellbar sind, spricht schließlich der Unterschied von GdB-Festellungen im Schwerbehindertenrecht einerseits zur verwandten Minderung der Erwerbstätigkeit (MdE)-Feststellung im Unfallversicherungs- und im Versorgungsrecht andererseits. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts fehlt im Kriegsopfer- und im Unfallversicherungsrecht eine Rechtsgrundlage für eine unabhängig von einer Rentengewährung getroffene Feststellung eines ziffernmäßig bestimmten Vom-Hundert-Satzes der MdE (vgl die Zusammenfassung der Rechtsprechung im Senatsurteil vom 13.3.1985 - 9a RV 10/83 - juris mwN).
Den Grund für diese Regelung beschreibt das Senatsurteil vom 17.4.1958 - 9 RV 434/55 - (BSGE 7, 126, 128) wie folgt:
Die Versorgungsbehörde hat über die im BVG geschaffenen Versorgungsansprüche zu entscheiden. Diese sind in § 9 BVG aufgezählt. Sie sind auf Leistungen gerichtet. Einen sachlich-rechtlichen Anspruch allein auf Zuerkennung eines bestimmten Grades der MdE gibt es nicht. Der Grad der MdE ist nur von Bedeutung hinsichtlich der Bemessung der Rente (§ 29 BVG) und bei dem Anspruch auf Heilbehandlung für Gesundheitsstörungen, die nicht Folge einer Schädigung sind (§ 10 Abs 5 BVG). Eine andere selbstständige Bedeutung hat die Höhe der MdE nicht. Sie ist nur eines von mehreren Tatbestandsmerkmalen bei bestimmten Ansprüchen.
Demgegenüber ist das Schwerbehindertenrecht (abgesehen von seinem arbeitsrechtlichen Teil und der unentgeltlichen Beförderung im Nahverkehr) gerade umgekehrt aufgebaut: Der Schwerbehindertenausweis und (für GdB unter 50) der Feststellungsbescheid nach dem SGB IX) führen nicht zu Leistungen, die im Gesetz geregelt sind. Sie sind bewusst als davon unabhängige abstrakte Nachweise konstruiert, um außerhalb des Schwerbehindertenrechts an einen bestimmten GdB geknüpfte Ansprüche und Vergünstigungen "in einer Vielzahl von bundes-, landes-, kommunalrechtlichen und anderen Bestimmungen" (BT-Drucks 10/3138, S 13) wahrnehmen zu können (zu dieser "dienenden" Funktion der Feststellungen nach dem Schwerbehindertenrecht vgl auch BSG, Urteil vom 5.7.2007 - B 9/9a SB 2/07 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, juris RdNr 22).
Die Berechtigung und der Sinn eines nach Zehnerstufen gradgenauen Feststellungsbescheides (und des ggf daraus abgeleiteten Schwerbehindertenausweises) als "Eintrittskarte" in die unüberschaubar vielfältige Welt der Nachteilsausgleiche, Vergünstigungen und sonstigen Vorteile für behinderte Menschen zeigt sich auch im vorliegenden Fall. Mit dem vom Kläger begehrten GdB von 70 erschlössen sich ihm beispielsweise die folgenden Vorteile:
- "Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung von mindestens 70 %" haben freien Eintritt für den Besuch der Zentraleinrichtung Botanischer Garten/Botanisches Museum in Berlin (vgl Nr 4 der gemäß § 2 Abs 7 der Neufassung der Ordnung für die Erhebung von Entgelten für zusätzliche Dienstleistungen der Freien Universität Berlin vom 14.7.1999 getroffenen Entscheidung des Kanzlers der Freien Universität Berlin vom 7.11.2003 <Amtsblatt der Freien Universität Berlin 53/2003 Seite 2>).
- "Schwerbehinderte mit einem durch Schwerbehindertenausweis nachgewiesenen Grad der Behinderung von mindestens 70 Prozent" sind im Ostseebad Heringsdorf von der Kurabgabe befreit (§ 3 Abs 1 Nr 2 der Satzung der Gemeinde Ostseebad Heringsdorf über die Erhebung einer Kurabgabe).
- Für "Schwerbehinderte, die eine Behinderung von 70 % und mehr nachweisen", ermäßigen sich in St. Peter-Ording die Kurabgabesätze auf 50 % (§ 6 Abs 1 Buchstabe b der Satzung über die Erhebung der Kurabgabe in der Gemeinde St. Peter-Ording).
- Schwerbehinderten mit einem "Befreiungsgrad von mindestens 70 %" wird in Kassel auf Antrag eine Ermäßigung von 50 von Hundert auf den Kurbeitrag gewährt (§ 6 Abs 1 Kurbeitragssatzung der Stadt Kassel für den Kurbezirk Kassel-Wilhelmshöhe vom 16.12.1996).
- Behinderte mit einer "MdE ab 70 % mit Nachweis" zahlen für die Benutzung der Städtischen Bäder in Essen ermäßigte Eintrittspreise (§ 2 Nr 1.7.5 iVm Nr 1.2 Satzung über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung städtischer Bäder vom 28.11.2001).
Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, ob im vorliegenden Zusammenhang nur auf gesetzlicher Grundlage, zB in öffentlich-rechtlichen Abgabevorschriften, geschaffene Nachteilsausgleiche beachtlich sind oder auch privatwirtschaftliche Vergünstigungen, wie zB ermäßigte Eintrittspreise bei Kulturveranstaltungen und in Museen oder die ermäßigte Bahncard 50 (verneinend LSG Hamburg, Urteile vom 11.1.2006 - L 4 SB 14/05 - juris RdNr 18 und vom 8.8.2006 - L 4 SB 22/05 - juris RdNr 19 f). Allerdings legt das in § 1 SGB IX formulierte Rehabilitationsziel, die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen am Leben in der Gesellschaft zu fördern, eine Einbeziehung aller Vorteile nahe, die behinderten Menschen zugute kommen können.
Das LSG wird sich nunmehr in der Sache mit dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch zu befassen haben. Auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt ihm überlassen.
Ende der Entscheidung
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