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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 16.06.1999
Aktenzeichen: B 9 V 10/98 R
Rechtsgebiete: SGG


Vorschriften:

SGG § 103
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 V 10/98 R

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigte:

gegen

Land Baden-Württemberg,

vertreten durch das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg, Rosenbergstraße 122, 70193 Stuttgart,

Beklagter und Revisionsbeklagter.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 16. Juni 1999 durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Prof. Dr. Bürck und Dau sowie die ehrenamtlichen Richter Böhm und Mülder

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Juli 1997 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Der kriegsbeschädigte, in Polen lebende Kläger macht Anspruch auf Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) geltend. Der Beklagte erkannte lediglich verschiedene Schädigungsfolgen an, stellte aber keine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) rentenberechtigenden Grades fest (Bescheid vom 12. August 1994; Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 1995).

Das Sozialgericht hat den Beklagten zur Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen verurteilt, die Klage aber abgewiesen, soweit sie auf Beschädigtenrente gerichtet war (Urteil vom 27. Juni 1996). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Ein postthrombotisches Syndrom mit Umfangsvermehrung des rechten Unterschenkels sei möglicherweise zwar zusätzliche Schädigungsfolge. Der ursächliche Zusammenhang dieser Gesundheitsstörung mit der Kriegsverletzung sei jedoch nach dem Ergebnis der bisher vorgenommenen medizinischen Untersuchungen nicht wahrscheinlich. Eine andere, dem Kläger günstige Kausalitätsbeurteilung hätte nur nach einer Phlebographie erfolgen können. Nach Einschätzung polnischer Ärzte habe der schlechte Gesundheitszustand des Klägers eine solche Untersuchung aber nicht zugelassen. Die anerkannten Schädigungsfolgen minderten die Erwerbsfähigkeit nur um den nicht rentenberechtigenden Grad von 20 vH (Beschluß vom 10. Juli 1997).

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht der Kläger als Verfahrensfehler ua geltend, das Berufungsgericht habe seine Pflicht zur Sachaufklärung (§ 103 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) verletzt. Trotz damit verbundener Gesundheitsgefährdung sei er, der Kläger, zu einer Phlebographie bereit gewesen und habe dem LSG gegenüber darauf bestanden.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Juli 1997 und das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. Juni 1996 sowie den Bescheid des Beklagten vom 12. August 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1995 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger als weitere Schädigungsfolge ein postthrombotisches Syndrom mit Umfangsvermehrung des rechten Unterschenkels festzustellen und dem Kläger ab dem 1. Juli 1989 Grundrente zu gewähren,

hilfsweise, den Beschluß des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Juli 1997 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte stellt im Revisionsverfahren keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

II

Die Revision des Klägers hat in dem Sinne Erfolg, daß der angefochtene Beschluß aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der geltend gemachte Verfahrensfehler liegt vor, und die Entscheidung des LSG kann darauf beruhen. Das LSG durfte nicht ohne weitere Ermittlungen davon ausgehen, das weitere vom Kläger geltend gemachte und möglicherweise einen rentenberechtigenden Grad der MdE begründende postthrombotische Syndrom sei nicht Schädigungsfolge.

Anspruch auf Grundrente hat der kriegsbeschädigte Kläger nach §§ 30 Abs 1, 31 Abs 1 und 2 iVm § 64 Abs 1 BVG, wenn seine Erwerbsfähigkeit um wenigstens 25 vH gemindert sein sollte. Ob das der Fall ist, läßt sich nach den bisher vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden.

Das Berufungsgericht selbst hat weitere Ermittlungen zu der Frage, ob das jetzt bestehende postthrombotische Syndrom mit Wahrscheinlichkeit auf der Kriegsverletzung des Klägers beruht, für notwendig und aussichtsreich gehalten und deshalb die polnische Sozialversicherungsanstalt - Rentenbüro - um eine angiologische Begutachtung in Form einer Phlebographie gebeten. Von dort wurde aber "mit Rücksicht auf das hohe Alter und Lebensgefährdung" des 1922 geborenen Klägers statt der verlangten Untersuchung eine Dopplersonographie der Tiefenvenen des rechten Unterschenkels durchgeführt. Das LSG hat daraufhin seine Ermittlungsmöglichkeiten als erschöpft angesehen. Zu Unrecht.

Das LSG hätte zunächst aufklären müssen, ob tatsächlich und unter allen Umständen eine Phlebographie beim Kläger mit Lebensgefährdung verbunden ist. Die von der polnischen Sozialversicherungsanstalt - Rentenbüro - mitgeteilte Auffassung polnischer Ärzte, daß diese diagnostische Maßnahme für den Kläger wegen seines hohen Lebensalters und seines Gesundheitszustandes mit Lebensgefährdung verbunden sei, steht im Widerspruch zu der Empfehlung des erstinstanzlich gehörten Sachverständigen Prof. Dr. N aus Berlin, "zusätzlich bei Bedarf eine angiologische Zusatzbegutachtung" durchzuführen. Prof. Dr. N ist zwar Orthopäde, ihm war aufgrund seiner Anamnese und nach seinem persönlichen Eindruck bei Untersuchung des Klägers aber - wie sich aus dem Gutachten vom 21. September 1995 ergibt - bekannt, daß der Kläger an Herzmuskelschwäche nach durchgemachtem Herzinfarkt leidet. Der Sachverständige hatte außerdem bei der Untersuchung eine deutliche Dyspnoe in Ruhe und eine geringe Blaufärbung der Lippen festgestellt. Wenn er trotz dieser Risikofaktoren (vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl 1998, S 76 unter "Angiographie") eine angiologische Zusatzuntersuchung empfohlen hat, so kann das am fehlenden internistisch-diagnostischen Grundwissen des Orthopäden liegen oder daran, daß der fortgeschrittene medizintechnische Standard in Deutschland eine Untersuchung erlaubt, die nach den Verhältnissen in Polen - noch - mit Lebensgefahr für den Patienten verbunden ist und deshalb dort von verantwortlich handelnden Ärzten abgelehnt wird.

Diese Frage wird das LSG im wieder eröffneten Berufungsverfahren zu klären haben. Erst wenn sich herausstellen sollte, daß auch nach dem neuesten Stand der Medizintechnik und der internistisch-diagnostischen Verfahren mit einer Phlebographie ein erhebliches, bis zur Lebensgefährdung des Klägers reichendes Risiko verbunden sein sollte, wird weiter zu überlegen sein, ob der Kläger - durch sein Einverständnis und mit dem Verlangen nach einer solchen Untersuchung - selbst bestimmen kann, welchen Gefahren er sich aussetzen will und ob - im Hinblick auf die für den Arztberuf geltenden ethischen Grundsätze - der Ermittlungspflicht des Gerichts nicht engere Grenzen gesetzt sind (vgl zum Konflikt zwischen Selbstbestimmungsrecht und staatlicher Schutzverpflichtung BVerwGE 82, 45 ff).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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