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Gericht: Bundessozialgericht
Beschluss verkündet am 08.08.2001
Aktenzeichen: B 9 V 23/01 B
Rechtsgebiete: KOVVfG
Vorschriften:
KOVVfG § 15 |
BUNDESSOZIALGERICHT Beschluß
in dem Rechtsstreit
Az: B 9 V 23/01 B
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 8. August 2001 durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Dr. Kocher und Dau sowie die ehrenamtliche Richterin Szopinski und den ehrenamtlichen Richter Fiedler
beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde der Klägerin wird die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 7. Februar 2001 zugelassen.
Gründe:
I
Die bis 1989 in Thüringen wohnhafte Klägerin macht seit ihrer Übersiedlung nach Emden Hinterbliebenenversorgung nach ihrem im Dezember 1945 getöteten Ehemann geltend, der vor seinem Tod zuletzt in Gesellschaft von sowjetischen Soldaten gesehen worden war. Wegen seiner Ermordung fanden Ermittlungen des sowjetischen NKWD statt, über deren Ergebnis nichts bekannt ist. Den Antrag der Klägerin auf Witwenrente hat der Beklagte abgelehnt, das zusprechende Urteil des Sozialgerichts Aurich wurde auf die Berufung des Beklagten durch das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil sich ein Entschädigungstatbestand nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nicht mit der erforderlichen Gewißheit habe feststellen lassen. Auf die Revision der Klägerin verwies das Bundessozialgericht (BSG) die Rechtssache mit Urteil vom 3. Februar 1999 an das LSG zurück: für die Feststellung eines Entschädigungstatbestandes nach dem BVG genüge hier der Beweisgrad der Glaubhaftmachung (überwiegenden Wahrscheinlichkeit). Mit Urteil vom 7. Februar 2001 wies das LSG die Klage erneut ab; eine Tötung des Ehemanns der Klägerin durch sowjetische Soldaten, gegen die allerdings ein Anfangsverdacht bestehe, sei nicht wahrscheinlich. Gegen dieses Urteil richtet sich die erneute Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, die ua geltend macht, das BSG habe die Sache an das LSG zurückverwiesen, weil es als Revisionsinstanz an der Anwendung der "Beweiserleichterungsklausel des § 15 KOV-Verfahrensgesetz" gehindert gewesen sei, das LSG habe den "Hinweis auf § 15 KOV-Verfahrensgesetz" aber nicht aufgegriffen.
II
Die Beschwerde ist, soweit mit ihr (auch) ein Verfahrensfehler des LSG gerügt wird, zulässig. Zur Geltendmachung eines Verfahrensfehlers genügt es, wenn ein Verhalten oder Vorgehen des LSG unter Angabe von Tatsachen gerügt wird, die in sich verständlich den behaupteten Verfahrensfehler ergeben (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Diesem Erfordernis genügt die Klägerin mit dem Vorbringen, das LSG habe den vom Senat in seinem zurückverweisenden Urteil vom 3. Februar 1999 (BSGE 83, 279 = SozR 3-3900 § 15 Nr 2) gegebenen Hinweis auf § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) nicht aufgegriffen.
Die Beschwerde ist auch begründet. Die Rüge der Klägerin ist dahin zu verstehen, das LSG habe bei seiner erneuten Entscheidung die Beweise nicht nach dem ihm vom Senat in der vorgenannten Entscheidung vorgegebenen, ua aus § 15 KOVVfG hergeleiteten Beweismaßstab (Glaubhaftmachung) gewürdigt, sondern nach einem anderen, für die Klägerin ungünstigeren. Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor. Das LSG ist bei seiner erneuten Entscheidung statt von dem ihm vorgegebenen Beweismaßstab der Glaubhaftmachung von dem der Wahrscheinlichkeit ausgegangen. Das LSG hat dadurch die in § 170 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgeschriebene Bindung der Instanzgerichte an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts unbeachtet gelassen. Dies stellt einen Verfahrensfehler dar (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, RdNr 10 zu § 160 mwN; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, RdNr 177 unter Hinweis auf BVerwG in Buchholz 310 § 132 VwGO Nr 154).
Das soziale Entschädigungsrecht kennt drei Beweismaßstäbe, von denen der dem LSG vorgegebene Beweismaßstab der Glaubhaftmachung der mildeste ist (vgl BSGE 45, 1, 9 f). Grundsätzlich bedürfen beweispflichtige Tatsachen des Vollbeweises, dh der an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, daß alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl auch Meyer-Ladewig, aaO, RdNr 5 zu § 118, RdNr 3 zu § 128 mwN). Gegenüber dem Vollbeweis räumen bestimmte gesetzliche Vorschriften dem Anspruchsberechtigten ausdrücklich Milderungen der Beweisanforderungen ein. So begnügt sich der Gesetzgeber in § 1 Abs 3 BVG (und in Parallelbestimmungen des sozialen Entschädigungsrechts) für den Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Schädigung und einer Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge mit dem Beweisgrad der (hinreichenden) Wahrscheinlichkeit. Wahrscheinlichkeit in diesem Sinn ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl Fehl in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl, RdNr 65 mwN). Diese Definition des Beweisgrades ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepaßt, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Wahrscheinlich ist nach anderer Definition diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt. Es muß sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, daß ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden (BSGE 45, 9 ff = SozR 3900 § 40 Nr 9; vgl auch für das Unfallversicherungsrecht: BSGE 45, 285, 287; s a Urteil vom 1. Februar 1996 - 2 RU 10/95 USK 96198 mwN). Der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit wird im sozialen Entschädigungsrecht auch sonst gelegentlich verwendet (vgl zB § 30 Abs 5, § 40a Abs 2 BVG; § 3 Abs 4 und § 7 Abs 2 BSchAV). Es muß hier nicht im einzelnen entschieden werden, was unter Wahrscheinlichkeit im jeweiligen Normzusammenhang zu verstehen ist. Denn allgemein gilt, daß die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit grundsätzlich höher sind als diejenigen an die Glaubhaftmachung (vgl auch BSG Urteil vom 24. Februar 1988 - 2 RU 30/87 USK 8825). Das ergibt sich auch daraus, daß für die Wahrscheinlichkeit ein "deutliches" Übergewicht für die in Betracht kommende Möglichkeit gefordert wird und daß die Wahrscheinlichkeit bei (ernsten) Zweifeln hinsichtlich einer anderen Möglichkeit entfällt, während für die Glaubhaftmachung ("gewisse") Zweifel unschädlich sind.
Bei der - hier zugrunde zu legenden - Glaubhaftmachung handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Er gelangt im Entschädigungsrecht unter bestimmten Voraussetzungen subsidiär ("wenn", dh soweit Unterlagen nicht vorhanden, nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind) für den Nachweis der mit der Schädigung zusammenhängenden Tatsachen zur Anwendung (§ 15 KOVVfG). Dabei können, wenn der Tod als Schädigungsfolge geltend gemacht wird und zusätzlich bestimmte Fälle extremer Beweisnot vorliegen (vgl BSG Urteil vom 3. Februar 1999 aaO), Angaben des Antragstellers aus eigenem Wissen ausnahmsweise entbehrlich sein. In einem solchen Fall können die mit der Schädigung zusammenhängenden Tatsachen wie nach sonstigen diese Beweiserleichterung einräumenden rechtlichen Vorschriften glaubhaft gemacht werden (vgl dazu § 23 Abs 1 Satz 2 SGB X und Urteil des Senats vom 3. Februar 1999 aaO S 293 f). Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, dh der guten Möglichkeit, daß der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (BSGE 45, 9 ff; vgl auch BSG SozR 5070 § 3 Nr 1 und - unveröffentlichter - Beschluß vom 10. August 1989 - 4 BA 94/89). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muß nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, dh es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht; von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muß den übrigen gegenüber einer das Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, die Beweisanforderungen zu erfüllen, und ist das Gericht grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung - § 128 Abs 1 Satz 1 SGG).
Das LSG hat seiner Entscheidung nicht den Maßstab der Glaubhaftmachung, dh der "überwiegenden Wahrscheinlichkeit" oder der "guten Möglichkeit", sondern den der Wahrscheinlichkeit zugrunde gelegt. Zwar leitet es seine Beweiswürdigung mit dem Satz ein, "davon" (daß die Tötung des Ehemannes der Klägerin durch sowjetische Besatzungsangehörige überwiegend wahrscheinlich wäre) "kann jedoch nicht ausgegangen werden". In der weiteren Prüfung bezeichnet jedoch wiederholt die "Täterschaft" sowjetischer Militärangehöriger als "nicht wahrscheinlich", womit es erkennen läßt, daß es nicht den milderen Beweismaßstab der Glaubhaftigkeit oder "überwiegenden Wahrscheinlichkeit", sondern den strengeren der Wahrscheinlichkeit anlegt. Ob nur die gute Möglichkeit vorliegt, daß der Ehemann der Klägerin einem Tötungsdelikt sowjetischer Soldaten zum Opfer gefallen ist, hat das LSG nicht geprüft. Es läßt sich nicht ausschließen, daß das LSG, hätte es seiner Beweiswürdigung den zutreffenden Beweismaßstab zugrunde gelegt, zu anderen Ergebnissen gekommen wäre.
Ende der Entscheidung
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