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Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 20.10.1999
Aktenzeichen: B 9 V 7/99 R
Rechtsgebiete: BGV
Vorschriften:
BVG § 45 Abs 3 Satz 6 |
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
Verkündet am 20. Oktober 1999
in dem Rechtsstreit
Az: B 9 V 7/99 R
Kläger und Revisionskläger,
Prozeßbevollmächtigte:
gegen
Freie und Hansestadt Hamburg, vertreten durch das Versorgungsamt, Paul-Nevermann-Platz 5, 22765 Hamburg,
Beklagte und Revisionsbeklagte.
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 20. Oktober 1999 durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Dr. Kocher und Dau sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Roos und Dr. Stahl
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 26. August 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Waisenrente nach Vollendung des 27. Lebensjahres.
Der am 9. September 1949 geborene Kläger bezog nach dem schädigungsbedingten Tod seines Vaters Halbwaisenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Beklagte bewilligte diese Leistung über das 27. Lebensjahr hinaus bis zum 30. September 1978, längstens bis zum Abschluß des juristischen Vorbereitungsdienstes (Referendarausbildung), weil verschiedene vom Kläger nicht zu vertretende Umstände seine Schul- und Berufsausbildung verzögert hätten. Die Zahlung der Waisenrente wurde zum 30. Juni 1978 eingestellt, nachdem der Kläger Mitte 1978 aus dem Referendardienst entlassen worden war. Er war bereits seit Mai 1977 dem Dienst ferngeblieben und hatte - im Ausland - seine Mutter gepflegt. Nach deren Tod (1989) kehrte er nach Hamburg zurück und nahm hier am 1. November 1991 die Referendarausbildung auf der Grundlage eines zur Prüfung seiner gesundheitlichen Eignung bis zum 30. April 1992 befristeten Ausbildungsvertrages wieder auf. Über die Fortsetzung der Referendarausbildung streitet der Kläger mit der Freien und Hansestadt Hamburg.
Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger ab 1. November 1991 Vollwaisenrente zu zahlen (Bescheid vom 6. Januar 1993; Widerspruchsbescheid vom 8. März 1993). Das Sozialgericht hat die hilfsweise auch auf Härteausgleich und zusätzlich auf Feststellung eines Vollwaisenrentenanspruchs bei künftiger Fortsetzung der Referendarausbildung gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 26. Februar 1996), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 26. August 1998). Die Altersgrenze von 27 Jahren sei wegen Verzögerungen bei der Schul- und Berufsausbildung hier um allenfalls 28 Monate hinauszuschieben. Der Verlängerungszeitraum schließe sich kalendermäßig an den Monat September 1976 an, in dem der Kläger sein 27. Lebensjahr vollendet habe. Nach dem 31. Januar 1979 könne mithin kein Anspruch auf Waisenrente mehr bestehen.
Der Kläger macht mit der Revision geltend, das LSG habe § 45 Abs 3 Satz 6 BVG verletzt. Von den 28 Monaten Verzögerungszeit vor Vollendung des 27. Lebensjahres habe er durch Waisenrentenbezug während seiner Referendarzeit bis zum 30. Juni 1978 lediglich 21 Monate verbraucht. Für die weitere Referendarzeit vom 1. November 1991 bis zum 30. April 1992 sei ihm für weitere sechs Monate (Voll-)Waisenrente zu zahlen, weil seine Ausbildung durch die Pflege der Mutter erneut - dieses Mal mehr als 13 Jahre - verzögert worden sei. Daß diese Verzögerung nach Vollendung des 27. Lebensjahres liege, sei unerheblich. Der Verzögerungszeitraum - von ursprünglich 28 Monaten - schließe sich nicht notwendig unmittelbar an das 27. Lebensjahr an und laufe nicht unbedingt kalendermäßig ab.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 26. August 1998 und des Sozialgerichts Hamburg vom 26. Februar 1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. März 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Vollwaisenrente für die Zeit vom 1. November 1991 bis 30. April 1992 zu gewähren;
hilfsweise, die Vollwaisenrente im Wege des Härteausgleichs zu gewähren
sowie festzustellen, daß die Beklagte zur Zahlung einer Vollwaisenrente auch für die Zeit einer zukünftigen weiteren Referendarausbildung bis zu deren Abschluß verpflichtet ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision hat in dem Sinne Erfolg, daß die Entscheidung des LSG aufzuheben und die Rechtssache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen läßt sich nicht entscheiden, ob der Kläger noch einen Restanspruch auf Waisenrente hat.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts spricht der Wortlaut des § 45 Abs 3 Satz 6 BVG ("... so wird die Waisenrente entsprechend dem Zeitraum der nachgewiesenen Verzögerung länger gewährt") nicht für einen kalendermäßigen Ablauf des Verlängerungszeitraums im Anschluß an die Vollendung des 27. Lebensjahres. Vielmehr ist aufgrund der vom Gesetzgeber verwendeten Formulierung davon auszugehen, daß der Verlängerungszeitraum nicht ohne Rücksicht darauf ablaufen soll, ob während dieser Zeit auch tatsächlich Waisenrente gezahlt wird. Von verlängerter "Gewährung" kann keine Rede sein, wenn während des Verlängerungszeitraums der - bereits vor dem 27. Lebensjahr eingetretene - Verzögerungstatbestand andauert oder wenn ein neuer Verzögerungstatbestand mit der Folge eintritt, daß mangels - fortsetzbarer - Ausbildung Waisenrente nicht gezahlt wird.
Ein solches Leerlaufen des Anspruchs auf Waisenrente im Verlängerungszeitraum würde dem Sinn und Zweck des § 45 Abs 3 Satz 6 BVG widersprechen, bei verzögerter Schul- oder Berufsausbildung den Unterhalt der Waise für die Zeit der Ausbildung sicherzustellen. Die gegenteilige Ansicht des LSG würde im übrigen dazu führen, daß die Schul- oder Berufsausbildung einer Kriegswaise bei Verzögerung über das 27. Lebensjahr hinaus nicht oder nur für einen kurzen Zeitraum gefördert wird, obwohl während der Verzögerungszeiten keine Leistungen erbracht worden sind. Das BSG hat deshalb zu der vergleichbaren Vorschrift des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 4 Bundeskindergeldgesetz in der ab 1. Januar 1975 geltenden - inzwischen außer Kraft getretenen - Fassung (BGBl I 1975, 413) entschieden, daß bei einer nach Vollendung des 27. Lebensjahres begonnenen (oder fortgesetzten) "verzögerten" Schul- oder Berufsausbildung der Verlängerungszeitraum, für den Kindergeld über die Altersgrenze hinaus zu zahlen ist, nicht schon mit der Vollendung des 27. Lebensjahres, sondern erst mit Aufnahme der Ausbildung beginnt (BSG SozR 5870 § 2 Nr 14; vgl auch Zweng/Scheerer, Handbuch der Rentenversicherung, Stand Juni 1991, § 1267 RVO Anm VI). Dem schließt sich der Senat für das Kriegsopferrecht an.
§ 45 Abs 3 Satz 6 BVG ist danach wie folgt anzuwenden: Verzögerungen vor dem 27. Lebensjahr verlängern die Bezugsdauer der Waisenrente um den Verzögerungszeitraum über das 27. Lebensjahr hinaus. Verzögerungen nach dem 27. Lebensjahr verlängern die Bezugsdauer nicht; sie verbrauchen aber auch die Verlängerungszeit nicht, sondern hemmen deren Ablauf. Die verlängerte Bezugsdauer wird danach durch Zeiten der Schul- oder Berufsausbildung verbraucht, während derer dann Waisenrente gezahlt wird und ebenso durch Zeiten, in denen weder Schul- oder Berufsausbildung stattfindet, noch ein Verzögerungstatbestand vorliegt.
Im vorliegenden Fall wird das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren deshalb zu ermitteln und festzustellen haben, für welchen Zeitraum sich die Schul- und Berufsausbildung des Klägers vor dem 27. Lebensjahr verzögert hat. Sollte ihm für den nachgewiesenen Verzögerungszeitraum nach Vollendung des 27. Lebensjahres noch nicht - vollständig - Waisenrente gezahlt worden sein, so wird zu prüfen sein, ob die Zeit vom vorläufigen Ende am 30. Juni 1978 bis zum Wiederbeginn der Referendarausbildung am 1. November 1991 lückenlos mit Verzögerungstatbeständen iS des § 45 Abs 3 Satz 6 BVG belegt ist. Diese Frage wird das LSG nach den vom BSG aufgestellten Grundsätzen zu entscheiden haben: Unvertretbar zur Verzögerung führende Umstände sind solche, die zwingend von außen in das Leben der Waise eingreifen, auf deren Eintritt bzw Nichteintritt die Waise in der Regel keinen Einfluß nehmen und denen sie sich in zumutbarer Weise nicht entziehen kann, wenn diese Umstände nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, den Abschluß der Ausbildung zu verzögern (BSGE 35, 55, 58 f = SozR § 45 BVG Nr 14 unter Hinweis auf BFHE Nr 102, 547; BSG SozR 3-3100 § 45 Nr 1). Als unvertretbarer Umstand kommt hier - soweit nach den im aufgehobenen Berufungsurteil getroffenen Feststellungen ersichtlich - eine Krankheit des Klägers in Betracht. Sollte es daran fehlen, so wird das LSG zu prüfen haben, ob der Kläger sich nach einem objektiven Maßstab (vgl BSGE 35, 55, 59 = SozR § 45 BVG Nr 14) der über 13 Jahre hin fortgesetzten Pflegetätigkeit in zumutbarer Weise nicht hätte entziehen und statt dessen als junger Mensch seine restliche Ausbildung bis zum Assessorexamen absolvieren können (vgl zur Verzögerung des Studienbeginns wegen Erkrankung naher Angehöriger BSG SozR 2200 § 1262 Nr 12). Erst wenn sich für die gesamte Zeit, in der die Ausbildung fortgesetzt worden ist, die Unterbrechung der Ausbildung rechtfertigende Verzögerungsgründe feststellen lassen sollten und wenn etwa vorhandene Lücken den verbleibenden Verlängerungszeitraum nicht aufgezehrt haben sollten, bestände ab 1. November 1991 wieder Anspruch auf Waisenrente.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Ende der Entscheidung
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