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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 12.06.2003
Aktenzeichen: B 9 VG 4/02 R
Rechtsgebiete: BVG


Vorschriften:

BVG § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Verkündet am 12. Juni 2003

Az: B 9 VG 4/02 R

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 12. Juni 2003 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Loytved, die Richter Dau und Masuch sowie die ehrenamtlichen Richter Fiedler und Maier

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. November 2001 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 15. Juni 2000 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungs- und das Revisionsverfahren keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

I

Die Klägerin zu 1. ist die Witwe, die Klägerinnen zu 2. bis 5. sind die Töchter des Arztes Dr. T E (E), der am 14. Dezember 1998 in seiner Praxis von einem Patienten erschossen wurde. Er war als Unternehmer freiwillig bei der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege versichert; von dieser wurden den Klägerinnen Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) bewilligt.

Der Beklagte erkannte Ansprüche der Klägerinnen auf Witwen- und Waisenrente sowie - dem Grunde nach - auf Ausgleichsrente und Schadensausgleich nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an, stellte das Ruhen dieser Ansprüche in Höhe der Bezüge aus der gesetzlichen UV fest und errechnete für die Klägerin zu 1. eine danach ab April 1999 verbleibende Leistung von 410,00 DM monatlich. Die Grundrenten-Ansprüche der Klägerinnen zu 2. bis 5. ruhten in voller Höhe (Bescheide vom 31. Mai 1999; Berechnungsbescheid betreffend die Klägerin zu 1. vom 1. Juni 1999; Widerspruchsbescheide vom 16. Juli 1999).

Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat die gegen die Ruhensfeststellung gerichteten Klagen abgewiesen (Urteil vom 15. Juni 2000). Im anschließenden Berufungsverfahren vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) haben die Beteiligten übereinstimmend erklärt, dass die ergangenen Berechnungsbescheide nicht Gegenstand des anhängigen Verfahrens sein sollten. Daraufhin hat das LSG die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und den Beklagten verurteilt, "die Hinterbliebenen-Versorgungsbezüge der Klägerinnen diesen ohne Anwendung der Ruhensvorschrift des § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG zu gewähren." Zwar ordne diese Vorschrift das Ruhen der Versorgungsbezüge in Höhe der Bezüge aus der gesetzlichen UV an. Dadurch solle aber nur eine sozialpolitisch unerwünschte Doppelversorgung bei Zusammentreffen mehrerer staatlicher Leistungen ausgeschlossen werden. Dieser Gedanke treffe hier nicht zu. E sei als Unternehmer in der gesetzlichen UV nicht pflicht-, sondern freiwillig versichert gewesen. Auf die freiwillige Unternehmerversicherung lasse sich § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BVG nicht anwenden, weil sie viele Elemente einer privaten Unfallversicherung aufweise und auf Eigenvorsorge beruhe, nicht - wie die gesetzliche Pflicht-UV - auf staatlich erzwungener Haftungsersetzung.

Der Beklagte macht mit seiner Revision geltend: Das LSG habe § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG verletzt. Die geringfügigen Unterschiede zwischen Versicherungspflichtigen und freiwillig Versicherten in der gesetzlichen UV rechtfertigten es nicht, diese Gruppen im Rahmen der Ruhensvorschrift unterschiedlich zu behandeln.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 29. November 2001 aufzuheben und die Berufung der Klägerinnen gegen das Urteil des SG Bayreuth vom 15. Juni 2000 zurückzuweisen.

Die Klägerinnen beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das Berufungsurteil für richtig.

II

Die Revision des Beklagten ist begründet.

Der Anspruch der Klägerinnen auf Versorgungsbezüge ruht in Höhe ihrer Bezüge aus der gesetzlichen Unfallversicherung, da beide Ansprüche auf derselben Ursache (der Tötung des E durch einen Patienten) beruhen. Das ergibt sich aus § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG, der im Opferentschädigungsrecht entsprechend anzuwenden ist (§ 1 Abs 1 Satz 1, Abs 8 Satz 1 OEG). Das LSG hat diese Vorschrift zu Unrecht nicht auf freiwillig unfallversicherte Unternehmer - und deren Hinterbliebene - angewendet. Für dieses, vom Berufungsgericht im Wege "teleologischer Reduktion" gewonnene Ergebnis spricht weder der Gesichtspunkt freiwilliger "Eigenvorsorge" eines Unternehmers durch selbst finanzierte UV-Beiträge noch die Annahme, § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG solle - nur - staatliche Doppelleistungen ausschließen. Eine derartige einschränkende Auslegung verbietet sich im Hinblick auf die systemabgrenzende Funktion dieser Ruhensvorschrift, welche sich insbesondere aus der Entwicklung der einschlägigen Regelungen erschließt.

Der Gesetzgeber hatte sich 1971 dagegen entschieden, "Personen, die durch eine mit Strafe bedrohte Handlung verletzt worden sind" unter den Schutz der gesetzlichen UV zu stellen (so aber noch § 539 Abs 1 Nr 9d Reichsversicherungsordnung <RVO> im Entwurf eines Gesetzes über Hilfe für Opfer von Straftaten, BT-Drucks VI/2420 S 1). Damit stimmte der 49. Deutsche Juristentag insoweit überein, als er 1972 eine dem Leistungsrecht der sozialen Entschädigung angepasste gesetzliche Regelung empfahl (vgl Beschlüsse der Sozialrechtlichen Arbeitsgemeinschaft des 49. Deutschen Juristentages, Bd II, P 126 f). Als Folge dieser Systementscheidung war nunmehr gesetzgeberisch darüber zu befinden, ob es auch für die beabsichtigte Regelung der Gewaltopferentschädigung bei der durch § 541 Abs 1 Nr 2 RVO gezogenen Grenze zwischen UV und sozialer Entschädigung bleiben sollte: Versicherungsfreiheit hinsichtlich der Arbeitsunfälle, für die Versorgung nach dem BVG oder solchen Gesetzen gewährt wird, die - wie das geplante OEG - das BVG für anwendbar erklären. Nach dem Vorbild des § 54 Abs 5 Bundesseuchengesetz (jetzt: § 63 Abs 3 Infektionsschutzgesetz) beseitigte der sodann erlassene § 3 Abs 4 OEG idF vom 11. Mai 1976 (BGBl I S 1181) diese Trennlinie mit der Anordnung, § 541 Abs 2 Nr 1 RVO gelte bei Schäden nach diesem Gesetz nicht. Das Motiv dafür ergibt sich aus den Materialien (BT-Drucks 7/2506, S 16).

"§ 541 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung würde iVm § 1 dieses Gesetzes unter Umständen zum Ausschluss von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung führen, die höher als im Versorgungsrecht sein können. Durch Abs 4 soll diese nachteilige Wirkung einer Entschädigungsregelung für Opfer von Straftaten vermieden werden; danach fallen Schäden der Opfer von Straftaten, die im Zusammenhang mit einer versicherten Tätigkeit stehen (Arbeitsunfälle), unter die gesetzliche Unfallversicherung."

Es bedurfte keiner weiteren Vorschrift im OEG, um die auf dem Niveau der jeweils höchsten Leistung gewollte Versorgung der Opfer von Straftaten, die zugleich Arbeitsunfälle sind, nicht zu einer unerwünschten Doppelbegünstigung durch schrankenlose Leistungskumulation werden zu lassen, denn - so heißt es in der Begründung des Gesetzesentwurfs - für das Zusammentreffen der "Ansprüche auf Versorgung nach diesem Gesetz <dem OEG> mit Leistungen aus der Unfallversicherung.... gilt § 65 des Bundesversorgungsgesetzes" (BT-Drucks 7/2506, aaO). Damit war an die Stelle einer klaren Zuweisung an das eine oder an das andere System ein Nebeneinander von gesetzlicher UV und Opferentschädigung mit dem Prinzip der Subsidiarität letzterer getreten: Nur wenn und soweit die primär von der ausschließlich beitragsgestützten gesetzlichen UV zu tragenden Leistungen hinter dem Anspruch nach Versorgungsrecht zurückbleiben, sind aus diesem rein steuerfinanzierten System (zusätzliche) Leistungen zu erbringen (vgl dazu Trenk-Hinterberger in Festschrift für Krasney, 1997, 663, 666 ff). Diese Wechselbeziehung von Versicherungsfreiheit nach § 4 Abs 1 Nr 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII), Ausnahme davon in § 3 Abs 4 OEG jetziger Fassung und Ruhensregelung (§ 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG), ist auch im geltenden, hier anwendbaren Recht erhalten geblieben.

Die Klägerinnen zeigen sich nur mit einem Teil dieses Konzepts einverstanden: Sie beziehen nach ihrem verstorbenen Ehemann und Vater volle Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen UV, obwohl dieser hinsichtlich des zum Tode führenden Geschehens ohne die Ausnahmevorschrift des § 3 Abs 4 OEG versicherungsfrei gewesen wäre. Sie wehren sich aber gegen den damit verbundenen anderen Teil: Das Ruhen ihrer Ansprüche auf Versorgungsbezüge nach dem OEG in Höhe der UV-Leistungen. Sie wünschen beide Leistungen uneingeschränkt nebeneinander zu beziehen. Dabei verkennen sie den inneren Zusammenhang des vorliegenden Regelungsgefüges. Dieses gilt insgesamt auch für den Todesfall des E, da der Umfang einer freiwilligen UV grundsätzlich demjenigen einer Pflichtversicherung entspricht (vgl dazu BSGE 23, 248, 252 = SozR Nr 2 zu § 539 RVO aF; BSGE 40, 113 = SozR 2200 § 545 Nr 2).

Ohne Erfolg berufen sich die Klägerinnen auf die Rechtsprechung des Senats zu § 36 Abs 4 BVG (BSGE 20, 233 = SozR Nr 7 zu § 36 BVG und Urteil vom 9. Dezember 1969 - 9 RV 722/68 -, BVBl 1970, 53). Nach dieser Vorschrift ist auf das Bestattungsgeld eine auf Grund anderer gesetzlicher Vorschriften für denselben Zweck zu gewährende Leistung anzurechnen. Der Senat hat es als Ziel dieser Vorschrift bezeichnet, Doppelleistungen in einem näher bestimmten Umfang auszuschließen, hat in der freiwillig übernommenen Verpflichtung zur Eigenvorsorge das entscheidende Merkmal für eine Anrechnungsfreiheit erkannt und nach diesem Kriterium entschieden, welche der vom Gesetz nur allgemein genannten Leistungen unter § 36 Abs 4 BVG fallen. Diese Gedanken lassen sich - anders als die Klägerinnen meinen - nicht auf die Konkurrenz von - im Gesetz ausdrücklich benannten - UV- und Versorgungsansprüchen übertragen, für die der Gesetzgeber ein grundsätzliches Nebeneinander nur mit Blick auf die eine Meistbegünstigung sichernde, aber eine vollständige Leistungskumulation ausschließende Regelung des § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG zugelassen hat.

Auch aus dem vom LSG für seine Ansicht in Anspruch genommenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9. November 1988 - 1 BvL 22/84 ua - (BVerfGE 79, 87 = SozR 2200 § 183 Nr 54) zum Krankengeldspitzbetrag bei Bezug von (niedrigerem) Verletztengeld aus der UV können die Klägerinnen nichts für sich herleiten. Dort spricht das BVerfG zwar davon, bei der Unternehmerversicherung handele es sich im Ergebnis um eine Selbsthilfeeinrichtung der Unternehmer gleicher Berufssparten, die - anders als bei der UV der Arbeitnehmer - nicht auf dem Prinzip der Haftungsersetzung beruhe, sondern der Eigenvorsorge diene und deshalb auch einen anderen Leistungscharakter habe. Diese Besonderheiten der Unternehmerversicherung sind jedoch vorliegend nicht von entscheidender Bedeutung. Sie wirken sich nämlich nicht auf die Vorschriften über die - tätigkeitsbezogene - Versicherungsfreiheit im Recht der gesetzlichen UV aus, die unabhängig vom unterschiedlichen Charakter ggf zu erbringender Leistungen einheitlich für pflichtversicherte Arbeitnehmer und freiwillig versicherte Unternehmer gelten. Die Versicherungsfreiheit nach § 4 Abs 1 Nr 2 SGB VII wird erst durch die Ausnahmevorschrift des § 3 Abs 4 OEG beseitigt, deren potentiell leistungskumulierende Wirkung § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG begrenzt. Im Rahmen dieser Vorschrift kommt es - abgesehen von den Sonderregelungen in deren Abs 1 Satz 2 und Abs 3 - auf unterschiedliche Leistungszwecke nicht an (vgl dazu das Urteil des Senats vom 10. November 1993 - 9/9a RVg 2/92 - HVBG-Info 1994, 124).

Die Erforderlichkeit einer einschränkenden Auslegung des § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BVG ergibt sich schließlich nicht aus der behaupteten Nähe freiwilliger Unternehmerversicherung in der gesetzlichen UV zur privaten UV (deren Leistungen allenfalls auf einkommensabhängige Versorgungsansprüche angerechnet werden). Aufgaben und Leistungen dieser beiden Sicherungssysteme unterscheiden sich grundlegend. Nach § 1 SGB VII soll die gesetzliche Unfallversicherung Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sowie arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren verhüten und nach Eintritt von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit der Versicherten wiederherstellen und sie oder ihre Hinterbliebenen durch Geldleistungen entschädigen. Demgegenüber handelt es sich bei der privaten UV um ein reines Geldleistungssystem, das der Art nach auf finanziellen Ausgleich eines versicherten Risikos in Höhe einer vertraglich vereinbarten Summe ausgerichtet ist (vgl Breuer, BG 1995, 138, 139).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

Ende der Entscheidung

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