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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 04.02.1998
Aktenzeichen: B 9 VG 5/96 R
Rechtsgebiete: OEG


Vorschriften:

OEG § 1 Abs 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Verkündet am 4. Februar 1998

in dem Rechtsstreit

Az: B 9 VG 5/96 R

Kläger und Revisionskläger,

Prozeßbevollmächtigter:

gegen

Land Niedersachsen, vertreten durch das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben - Landesversorgungsamt-, Gustav-Bratke-Allee 2, 30169 Hannover,

Beklagter und Revisionsbeklagter.

Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat auf die mündliche Verhandlung vom 4. Februar 1998 durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Dr. Kocher und Dau sowie die ehrenamtliche Richterin Szopinski und den ehrenamtlichen Richter Thome

für Recht erkannt:

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Oktober 1995 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten über den Anspruch des Klägers auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der 1969 geborene Kläger nahm in der Silvesternacht 1991/1992 zusammen mit etwa 70 weiteren Personen an der Feier eines Tennisclubs in einer Landgemeinde nördlich von B. teil. Um Mitternacht begaben sich zahlreiche Festteilnehmer ins Freie, um Feuerwerkskörper zu zünden. Dabei bildeten sich mindestens zwei Menschengruppen. Während des Feuerwerks wurden auch Abschußgeräte zum Abfeuern von Signalmunition verwendet. Nach den vom Landessozialgericht (LSG) getroffenen Feststellungen ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß aus einer der Personengruppen auf eine andere oder daß wechselseitig zwischen beiden Gruppen Feuerwerkskörper geworfen bzw abgeschossen wurden. Ein Signalmunitionsgeschoß traf den Kläger, der sich von den gebildeten Personengruppen abseits gehalten hatte. Der Kläger erlitt Explosions- und Brandverlegungen, die zum Verlust des rechten Auges und zur Minderung der Sehleistung auf dem linken Auge führten. Der Täter konnte nicht ermittelt werden.

Im März 1992 stellte der Kläger Antrag auf Opferentschädigung. Der Beklagte zog die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft bei und lehnte mit Bescheid vom 2. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 1993 den Entschädigungsantrag ab. Klage und Berufung des Klägers blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts <SG> Hannover vom 20. Januar 1995 und des LSG Niedersachsen vom 17. Oktober 1995). Das LSG hat die Zurückweisung der Berufung im wesentlichen wie folgt begründet: Nach dem von der Staatsanwaltschaft eingeholten waffentechnischen Gutachten vom 24. März 1992 scheide ein gezielter Schuß in der Dunkelheit auf einen einzelnen Festteilnehmer aus. Es fehle mithin an einer vorsätzlichen Gewalttat, die Voraussetzung für eine Entschädigung nach dem OEG sei. Die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG beantragte Einholung eines weiteren waffentechnischen Gutachtens sei entbehrlich gewesen.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Klägers, mit der dieser im wesentlichen geltend macht: Die vom LSG aufgrund der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft getroffenen Feststellungen reichten für die Beurteilung des erhobenen Anspruchs nicht aus. Da für den Anspruch auf Gewaltopferentschädigung ein mit bedingtem Vorsatz ausgeführter rechtswidriger Angriff ausreiche, könne die Klage - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - nicht am Fehlen des Vorsatzes scheitern.

Denn wer - wie der unbekannt gebliebene Täter - mit Signalmunition auf Menschen schieße, wisse, daß er einen anderen verletzen könne, und nehme dies bewußt in Kauf. Daß der Täter möglicherweise auf eine der Menschengruppen "gezielt", aber ihn, den Kläger, getroffen habe, schließe einen Anspruch nicht aus, weil das Gesetz auch den im Falle der "aberratio ictus" Geschädigten in den Versorgungsschutz einbeziehe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. Oktober 1995 und das Urteil des SG Hannover vom 20. Januar 1995 sowie den Bescheid des Versorgungsamts Hannover vom 2. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 1993 aufzuheben, den Verlust des rechten Auges sowie die Sehbehinderung des linken Auges als Schädigungsfolgen anzuerkennen und den Beklagten dem Grunde nach zur Gewährung von OEG-Versorgung ab Januar 1992 zu verurteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig. Es sei zwar denkbar, daß der Kläger auch bei Verwendung einer weitstreuenden Waffe die Verletzung von Menschen in Kauf genommen habe, dies sei aber nicht nachgewiesen.

II

Die Revision des Klägers ist iS einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch nicht aus.

Gemäß § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erhält ua derjenige auf Antrag wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung, der eine Schädigung infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person erlitten hat.

Als "tätlicher Angriff" in diesem Sinn gilt "jede in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung, ohne Rücksicht auf den Erfolg" (Schoreit/Düsseldorf, OEG, RdNr40 zu § 1; Kunz/Zellner, OEG, 3. Aufl, RdNr 10 jeweils zu § 1 mwN). Der für diesen Angriff geforderte Vorsatz braucht sich grundsätzlich nur auf diese Angriffshandlung zu beziehen (Kunz/Zellner, aaO, RdNr 24; BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 1). In der Regel wird der Angriff aber zugleich eine vorsätzliche Straftat - zumeist in der Form eines versuchten oder vollendeten Erfolgsdelikts iS des Strafrechts (insbesondere eines Tötungsdelikts oder einer Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit) - darstellen. Ist ein solches Delikt vorsätzlich versucht oder vollendet worden, so liegt stets auch ein vorsätzlicher tätlicher Angriff iS des OEG vor, während umgekehrt ein vorsätzlicher tätlicher Angriff nicht notwendig eine vorsätzlich begangene Straftat oder überhaupt eine strafbare Handlung (zB im Fall der versuchten einfachen Körperverletzung) voraussetzt. Allerdings scheiden - von den gesetzlich geregelten Ausnahmen abgesehen (vgl § 1 Abs 1 Satz 2 und Abs 2 Nr 2 OEG) - fahrlässig begangene Handlungen in der Regel als Anspruchsgrundlage für einen Entschädigungsanspruch nach § 1 OEG aus (vgl dazu Schoreit/Düsseldorf, RdNr 70 zu § 1 OEG).

Nach Auffassung des LSG ist auf den Kläger kein "vorsätzlicher tätlicher Angriff" verübt worden, weil ein solcher ein "zielgerichtetes, vorsätzliches, aggressives Verhalten gegen das Opfer" vorausgesetzt hätte. Das OEG sieht Entschädigungsansprüche jedoch nicht nur - wovon das LSG offensichtlich ausgeht - bei einem tätlichen Angriff gegen das Opfer selbst, sondern auch dann vor, wenn sich der Angriff gegen eine andere Person als das Opfer gerichtet hat (Fall der sog "aberratio ictus", vgl dazu Entscheidung des Senats BSGE 49, 98, S 100; Schoreit/Düsseldorf, OEG, RdNr 38 zu § 1; auch BT-Drucks 7/2506 S 14; zum Begriff der aberratio ictus im übrigen vgl Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch <StGB>, 25. Aufl, RdNr 57 zu § 15; Dreher/Tröndle StGB, 47. Aufl, RdNr 6 zu § 16 StGB und Lackner, StGB, 21. Aufl, RdNr 12 zu § 15 StGB mwN). Daraus folgt hier: Auch in dem Fall, daß der - unbekannte - Täter das Pyroknallgeschoß vorsätzlich auf eine oder mehrere andere Personen als den Kläger abgeschossen haben sollte, könnte er - wie die Revision zu Recht annimmt - einen "tätlichen Angriff" verübt haben. Hierzu fehlen aber bisher Feststellungen. Sie sind nicht etwa deshalb entbehrlich, weil die Abgabe eines gezielten Schusses auf einen "einsamen Festteilnehmer" wegen der mangelnden Zielgenauigkeit des Abschußgeräts schlechthin "fernliegend" wäre. Denn für den nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erforderlichen tätlichen Angriff kann es genügen, daß der Täter den Schuß auf eine Personenmehrheit, zB eine der im Gelände stehenden Personengruppen, abgegeben, aber den Kläger getroffen hat.

Wie für den Vorsatz bei den Verletzungs- und Tötungsdelikten des Strafrechts (vgl Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl, RdNrn 53 und 54 zu § 15 StGB) ist es auch für den vorsätzlichen tätlichen Angriff iS des OEG nicht erforderlich, daß der Täter bewußt eine bestimmte individualisierbare Person angegriffen hat. Für die Annahme eines solchen Angriffs genügt es, daß der Täter die Verletzung oder Tötung eines (beliebigen) anderen in seinen Vorsatz aufgenommen hat. Die Materialien zum OEG (aaO S 13 ff) sprechen denn auch bei der Definition des "tätlichen Angriffs" nicht von einer auf den Körper eines "bestimmten Menschen" zielenden Einwirkung, sondern nur von einer Einwirkung auf den Körper "eines Menschen". Allerdings hat der Senat in seiner Entscheidung vom 28. März 1984 (BSGE 56, 234, 236 = SozR 3800 § 1 Nr 4) - insbesondere im Leitsatz als Voraussetzung für den "vorsätzlichen tätlichen Angriff" ein auf "eine bestimmte Person" zielendes Handeln gefordert. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, daß eine Gewalttat iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG voraussetzt, daß der Täter einen Angriff gegen eine bestimmte, individualisierbare Person richtet. Der Senat hat sich seinerzeit zu eng an die nur im Strafrecht sinnvolle Begrenzung des Personenkreises der möglichen Angriffsopfer angelehnt. Der Gesetzgeber des OEG ist bei der Formulierung des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG von dem in den §§ 113 und 121 StGB verwendeten Begriff "tätlich angreifen" ausgegangen (vgl BT-Drucks 7/2506 S 14; Kunz/Zellner, OEG, 3. Aufl, RdNr 9 zu § 1 OEG). Diese Strafrechtsnormen beziehen sich insofern auf "bestimmte" Personen, als die in ihnen geregelten Delikte nur an Angehörigen bestimmter Personenkreise begangen werden können, nämlich im Fall des § 113 StGB an Vollstreckungsbeamten (oder Soldaten) und im Fall des § 121 StGB an mit der Beaufsichtigung von Gefangenen betrauten Personen. Diese Einengung des geschützten Personenkreises ist jedoch für den im OEG verwendeten Begriff "tätlicher Angriff" bedeutungslos. Nach dem Gewaltopferentschädigungsrecht kann jedermann Opfer eines tätlichen Angriffs werden. Ein tätlicher Angriff kann sich somit auch gegen eine unbestimmte "andere Person" richten. Das LSG wird demnach zu untersuchen haben, ob sich Umstände ermitteln lassen, aus denen geschlossen werden kann, daß der - unbekannt gebliebene - Täter irgendeine Person vorsätzlich angegriffen hat. Dies wäre schon dann zu bejahen, wenn er das von ihm verwendete Abschußgerät auf eine der Personengruppen gerichtet haben sollte, weil dies auch einen tätlichen Angriff auf jedes beliebiges Mitglied dieser Gruppe darstellt. Sollte das LSG das Vorliegen derartiger Umstände festgestellt haben, wird es ggf auch untersuchen müssen, ob der Täter etwa mit bedingtem Verletzungsvorsatz gehandelt hat.

Denn ein vorsätzlicher tätlicher Angriff liegt bei Körperverletzungs- oder Tötungsdelikten auch dann vor, wenn der Täter mit bedingtem Vorsatz (sog dolus eventualis, Eventualvorsatz) gehandelt hat, dh wenn er zwar nicht wissentlich und willentlich sein Verhalten auf die Verwirklichung eines durch Eintritt eines Erfolges (zB die Verletzung oder den Tod des Opfers) gekennzeichneten Straftatbestandes ausgerichtet, den Erfolg aber für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat (vgl Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 25. Aufl, RdNrn 72 und 81 ff zu § 15 StGB; Dreher/Tröndle, 47. Aufl, RdNrn 9 ff zu § 15 StGB; Lackner, Strafgesetzbuch, 21. Aufl, RdNrn 23 ff zu § 15 StGB jeweils mwN). Ob bedingter Vorsatz genügt, hat der Senat bisher offengelassen (vgl Entscheidungen vom 22. Juni 1988 SozR 1500 § 128 Nr 34 S 31 und aaO Nr 35 S 35; auch Urteil vom 18. Oktober 1995 SozR 3-3800 § 1 Nr 5 S 17). Auch das Schrifttum hat sich dazu, soweit ersichtlich, nicht einheitlich geäußert (dafür: Kunz/Zellner, OEG, 3. Aufl RdNrn 24 und 28 zu § 1; Sailer in: Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl RdNr 7 zu § 1; zweifelnd: Schoreit/Düsseldorf, OEG RdNr 74 zu § 1 OEG; wohl ablehnend: Wulfhorst VSSR 1997, 185, 193). Die Frage ist zu bejahen. Hierfür spricht vor allem der Zweck des OEG. Die öffentliche Hand soll für gesundheitliche Schäden des durch eine Gewalttat verletzten Opfers dann einen Ausgleich gewähren, wenn es dem Staat nicht gelungen ist, die Gewalttat zu verhindern, dh die Einhaltung seiner dem Schutz der, körperlichen Unversehrtheit (auch) des Opfers dienenden Rechtsnormen durchzusetzen. Deshalb kann es sowohl aus der Sicht des Staates als auch aus der des Opfers nicht darauf ankommen, ob die Gewalttat mit direktem oder bedingtem Vorsatz begangen worden ist. Versorgungsschutz wird sogar dann gewährt, wenn der Täter schuldunfähig war und nur mit "natürlichem Willen" gehandelt hat (vgl Kunz/Zellner, aaO, RdNr 29 zu § 1 OEG; Schoreit/Düsseldorf, aaO, RdNr 75 zu § 1 OEG jeweils mwN). Wollte man zu Lasten der Opfer von Gewalttaten den Tatbestand des § 1 Abs 1 OEG verneinen, wenn die Gewalttat nur mit "dolus eventualis" begangen worden ist, käme es zu unhaltbaren Ergebnissen. Der Täter könnte dann zwar wegen einer vorsätzlich begangenen Körperverletzung oder Tötung bestraft werden, die Opferentschädigung wäre aber zu versagen.

Für den hier möglicherweise vorliegenden Fall einer "aberratio ictus" gilt nichts grundsätzlich anderes. Begeht der Täter eine Handlung, bei der er die Verletzung einer bestimmten oder einer beliebigen Person aus einer Personengruppe für möglich hält und in Kauf nimmt, und weicht der tatsächliche von dem vorgestellten Geschehensablauf in der Weise ab, daß nicht eine Person, mit deren Verletzung der Täter gerechnet hatte, sondern eine sonstige Person verletzt worden ist, so genügt es, daß er überhaupt die Verletzung eines anderen für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat. Allerdings liegt nur derjenigen Person gegenüber, der nach der Vorstellung des Täters möglicherweise eine Verletzung drohte, (bedingter) Vorsatz vor. Gegen die nicht getroffene Person hat der Kläger also ggf keine strafbare Handlung, sondern nur den - straflosen - Versuch einer vorsätzlichen Körperverletzung unternommen, während dem Verletzten gegenüber allenfalls Fahrlässigkeit vorlag. Auch in diesem Fall hat der Kläger aber einen vorsätzlichen tätlichen Angriff begangen.

Der vom Senat vertretenen Auslegung des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG steht auch nicht entgegen, daß Rechtsprechung und Schrifttum einen "tätlichen Angriff" nur dann bejahen, wenn die Einwirkung des Täters auf das Opfer "feindselig" gewesen ist. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers des OEG stellt ein "tätlicher Angriff" allerdings eine "feindselige" Einwirkung dar (vgl BT-Drucks 7/2506 S 13 ff; so auch Schoreit/Düsseldorf, aaO, RdNr 40 zu § 1 OEG mwN; Kunz/Zellner, RdNr 10 zu § 1; Sailer in: Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl RdNr 6 zu § 1 OEG; vgl im übrigen von Bubnoff in Leipziger Kommentar, 10. Aufl 1977 RdNr 17 zu § 113 StGB; RGST 59, 264; schließlich die Entscheidungen des Senats BSGE 56, 234 und BSGE 59, 46, 47 = SozR 3800 § 1 Nr 4 und Nr 6). Unter "Feindseligkeit" im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man sicherlich mehr als eine "billigende", innerlich aber gleichgültige Inkaufnahme der Verletzung einer bewußt gefährdeten Person. Abweichend vom allgemeinen Sprachgebrauch ist aber die "Feindseligkeit", die den "tätlichen Angriff" iS des § 1 Abs 1 OEG kennzeichnet, schon zu bejahen, wenn mit der Einwirkung auf den Körper des Opfers - zumindest versuchsweise - vorsätzlich ein Straftatbestand verwirklicht wird. Dazu reicht bei Erfolgsdelikten, insbesondere Delikten gegen die körperliche Unversehrtheit (Körperverletzung) bedingter Vorsatz aus. Hierfür spricht auch die neuere Rechtsprechung des Senats, nach der der Täter auch dann "feindselig" handelt, wenn er unter Verstoß gegen ein Strafgesetz vorsätzlich auf den Körper eines anderen einwirkt. So hat der Senat den "gewaltlosen" gegen § 176 Abs 1 StGB verstoßenden sexuellen Mißbrauch eines Kindes als tätlichen Angriff iS des OEG angesehen (vgl BSGE 77, 7, 9; 11, 13 = SozR 3-3800 § 1 Nrn 6 und 7; vgl. im übrigen auch BSGE 77, 18, 19 = SozR 3-3800 § 1 Nr 8 und Urteil des Senats vom 28. Mai 1997 - 9 RVg 1/95 - Kurzwiedergabe in SGb 1997, 421).

Ist der Täter - wie im vorliegenden Falle - unbekannt geblieben, so kann nur aus den festgestellten äußeren Umständen darauf geschlossen werden, ob er (bedingt) vorsätzlich gehandelt hat (vgl BSGE 56, 234 = SozR 3800 § 1 Nr 4; BSGE 59, 46 = SozR 3800 § 1 Nr 6; BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr 34; SozR 1500 § 128 Nr 35; unveröffentlichte Entscheidung des Senats vom 6. September 1989 - 9 RVg 4/88 - <Leitsatz und Inhaltsangabe in VdKMitt 1989 Nr 11 S 6>; BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 1; BSGE 77, 1 = SozR 3-3800 § 1 Nr4; BSG SozR 3-3800 § 10 Nr 1; Urteil des Senats vom 28. Mai 1997 - 9 RVg 1/95 -). Daß insoweit Beweisschwierigkeiten auftreten können, liegt auf der Hand. Nicht immer wird sich aus den äußeren Umständen feststellen lassen, welche Vorstellungen und welche Willensrichtung der Täter bei seiner zur Verletzung führenden Tat hatte. In einem solchen Fall geht die Nichtfeststellbarkeit des Vorsatzes nach den Grundsätzen der objektiven Beweis- oder Feststellungslast zu Lasten des Klägers (vgl dazu insbesondere BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr 34).

Eine begrenzte Beweiserleichterung vermag bei unbekannt gebliebenen Tätern der Beweis des ersten Anscheins zu bieten. Dieser Beweiswürdigungsgrundsatz (vgl Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 53. Aufl, Anh zu § 286 RdNr 15 ff) ist grundsätzlich auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbar (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, RdNr 9 zu § 128 mwN). Zwar mag sich der Beweis des ersten Anscheins häufig nicht zur Feststellung willensgesteuerter Verhaltensweisen eignen (BSGE 63, 270, 272 = SozR 1500 § 128 Nr 34; BSG SozR 1500 § 128 Nr 35 S 37; vgl auch BGHZ 31, 351, 357; BGHZ 104, 256). Dennoch ist er im Rahmen der Feststellungen nach § 1 OEG - auch hinsichtlich des inneren Tatbestandes - in Betracht zu ziehen (vgl BSG aaO). Nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins kann bei sog typischen Geschehensabläufen von einer festgestellten Ursache auf einen bestimmten Erfolg oder von einem festgestellten Erfolg auf eine bestimmte Ursache geschlossen werden. So wäre es zB bei entsprechenden Tatsachenfeststellungen denkbar, einen vorsätzlichen rechtswidrigen Angriff mit folgendem Erfahrungssatz zu bejahen: Ist eine Menschengruppe aus einer anderen Gruppe heraus wiederholt mit Gegenständen beschossen oder beworfen worden, die geeignet sind, Körperverletzungen hervorzurufen (zB mit Steinen oder gezündeten Feuerwerkskörpern), so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, daß der oder die Schützen bzw Werfer Verletzungen von Menschen für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen haben. Der Anspruch auf Opferentschädigung wäre in einem solchen Fall nicht durch die Möglichkeit ausgeschlossen, daß derjenige, der das Opfer getroffen hat, atypischerweise nur über die Personengruppe hinweg schießen oder werfen wollte, und mithin die Schädigung einer Person nicht, auch nicht bedingt, in seinen Vorsatz aufgenommen hatte.

Die strafrechtliche Beweisregel "in dubio pro reo" steht der Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises nicht entgegen (vgl SozR 1500 § 128 Nr 35 S 38 ff). Denn im Rechtsstreit über eine Gewaltopferentschädigung ist nicht über eine strafrechtliche Verurteilung, sondern über einen Sozialleistungsanspruch zu befinden, für den ggf das Vorliegen einer vorsätzlich begangenen Straftat nur eine entscheidungserhebliche Vorfrage darstellt.

Da der Senat die für die Beurteilung der vorstehend aufgezeigten rechtlichen Gesichtspunkte erheblichen Tatsachen nicht selbst feststellen kann (§ 163 Sozialgerichtsgesetz <SGG>), ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden haben.

Ende der Entscheidung

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