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Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 03.02.1999
Aktenzeichen: B 9 VJ 1/98 R
Rechtsgebiete: SGG
Vorschriften:
SGG § 160 Abs 2 Nr 3 |
BUNDESSOZIALGERICHT IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
in dem Rechtsstreit
Az: B 9 VJ 1/98 R
Kläger und Revisionskläger,
Prozeßbevollmächtigter:
gegen
Land Niedersachsen, vertreten durch das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben - Landesversorgungsamt -, Domhof 1, 31134 Hildesheim,
Beklagter und Revisionsbeklagter.
Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 3. Februar 1999 durch den Vorsitzenden Richter Kummer, die Richter Prof. Dr. Bürck und Dau sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Roos und Dr. Simon
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. September 1997 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den 10. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen zurückverwiesen.
Gründe:
I
Der Kläger streitet um Versorgung wegen eines Impfschadens. Das Landessozialgericht (LSG) hat das stattgebende Urteil erster Instanz aufgehoben und die Klage abgewiesen. Dabei hat es sich wesentlich auf das im Berufungsverfahren von Amts wegen eingeholte Gutachten des Arztes Prof. Dr. W. (W.) vom 10. Juni 1996 gestützt.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Der Sachverständige Prof. Dr. W. habe zu seinem Gutachten einen - ebenfalls am 10. Juni 1996 beim LSG eingegangenen - Brief an den Berichterstatter geschrieben. Dieser Brief sei dem Kläger nicht bekanntgegeben und von seinem Bevollmächtigten erst bei Akteneinsicht im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde als lose Anlage in den Prozeßakten des LSG entdeckt worden. Das Schreiben enthalte eine Fülle von Formulierungen, wonach der Sachverständige deutlich voreingenommen sei. Diesen Ablehnungsgrund habe er, der Kläger, nicht geltend machen können, weil der Brief zwar dem Gericht bekannt gewesen, sein Inhalt den Beteiligten aber vom LSG nicht mitgeteilt worden sei.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. September 1997 aufzuheben, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 30. November 1994 zurückzuweisen und den Beklagten auf die Anschlußberufung des Klägers unter Änderung dieses Urteils zu verpflichten, als Schädigungsfolge nach dem Bundesseuchengesetz beim Kläger eine Polyneuropathie mit schwerer Gangstörung anzuerkennen,
hilfsweise, die Sache an einen anderen Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) einverstanden erklärt.
II
Die Revision hat nur iS des Hilfsantrags Erfolg. Der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG, soweit sie verfahrensfehlerfrei getroffen worden sind, läßt sich nicht entscheiden, ob der Kläger einen Impfschaden erlitten und wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieses Schadens Anspruch auf Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes hat.
Der vom Kläger gerügte Verfahrensfehler einer Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt vor. Ein Gericht verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es Beteiligte über ihnen nicht erkennbare Ablehnungsgründe in der Person eines Sachverständigen nicht informiert, die bei Kenntnis der Beteiligten mit Sicherheit zu einem Ablehnungsantrag geführt hätten (Bundessozialgericht <BSG> SozR 3-1500 § 128 Nr 7). So verhält es sich auch hier.
Der vom LSG beauftragte Sachverständige Prof. Dr. W. hat nicht nur das Gutachten - insbesondere zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen Gesundheitsstörungen und Impfungen - erstattet, mit dem ihn das Gericht beauftragt hatte. Er hat dem Gutachten einen an den Berichterstatter gerichteten Begleitbrief beigefügt, in dem sich ua folgende Passagen finden:
"Es wäre nicht nur für die Solidargemeinschaft der Versicherten schädlich, wenn es dem Kläger gelänge, mit seinem Rentenbegehren vor einem deutschen Gericht letztlich erfolgreich zu sein. Auch das Ansehen der Rechtsprechung in unserem Lande könnte darunter leiden, wenn vom Kläger besonders wirkungsvoll zur Schau gestellte 'Gebrechen' zu Mitleid veranlassen und allein deshalb der 'bemitleidenswerte' Impfling/Kläger mit seinem Rentenbegehren vor Gericht Erfolg hätte."
"Andererseits könnte man auch befürchten, daß ein für den Kläger erfolgreicher Rechtsstreit in dieser Sache dazu führt, daß der Kläger sich vor Schadenfreude über seinen Erfolg fast zu Tode lacht und dabei selbst Schaden nimmt; das will doch auch niemand."
"Unser Ziel sollte es sein, das jetzige Verfahren zur Bestätigung eines (nicht existierenden!) Impfschadens definitiv abschlägig zu entscheiden ..."
Es liegt auf der Hand, daß der Kläger bei Kenntnis dieser Äußerungen besorgt gewesen wäre, der Sachverständige sei nicht unbefangen, und daß diese Besorgnis zu einem Befangenheitsantrag geführt hätte. Der 9. Senat des LSG Niedersachsen hätte dem Kläger nicht nur das Gutachten, sondern auch den Begleitbrief zur Kenntnis geben müssen. Statt dessen ist er in einer Klarsichthülle abgesondert und in der Votentasche der Gerichtsakte aufbewahrt worden.
Der tatsächlich vorliegende Verfahrensmangel ist auch wesentlich (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn das angefochtene Urteil kann auf ihm beruhen. Dem Vorbringen des Klägers läßt sich mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen, daß er in Kenntnis des Zusatzschreibens den Sachverständigen wegen Befangenheit abgelehnt hätte. Dieser Antrag hätte aller Voraussicht nach Erfolg gehabt. Das Gutachten des erfolgreich abgelehnten Sachverständigen wäre unverwertbar und das Ergebnis einer erneuten Beweisaufnahme möglicherweise für den Kläger günstig gewesen.
Die Verweisung an den anderen mit ehrenamtlichen Richtern gemäß § 13 Abs 5 SGG besetzten - 10. - Senat des LSG war hier gemäß § 565 Abs 1 Satz 2 Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 SGG geboten (vgl zur entsprechenden Anwendbarkeit dieser Regelung im sozialgerichtlichen Verfahren: BSGE 32, 253, 255; Urteil des 9. Senats vom 24. März 1976 - 9 RV 92/74 -, Breithaupt 1976, 803; vom 8. Senat des BSG noch offengelassen im Urteil vom 25. Februar 1976 - 8 RU 88/75 -, SGb 1976, 286, und dann bejaht im Urteil vom 31. März 1998 - B 8 KN 7/97 R -, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; Urteil des 5. Senats vom 7. Juli 1998 - B 5 RJ 16/98 R -, SGb 1998, 522, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Nach dem Vortrag des Klägers hat das Verhalten des 9. Senats des LSG Niedersachsen sein Vertrauen auf ein faires Verfahren vor diesem Spruchkörper nachhaltig erschüttert. Dies läßt sich nachvollziehen und muß vom Revisionsgericht bei seiner Entscheidung berücksichtigt werden. Der Kläger darf aufgrund der ihm bekannten Fakten annehmen, daß die Berufsrichter, die an der vorinstanzlichen Entscheidung mitgewirkt haben, den Inhalt der Prozeßakten einschließlich der dort lose aufbewahrten Teile kannten. Für einen Außenstehenden haben die Berufsrichter den Eindruck erweckt, sie "spielten mit verdeckten Karten". Sie haben nicht nur den für den Kläger nachteiligen und unakzeptablen Begleitbrief des Sachverständigen Prof. Dr. W. zurückgehalten, sondern trotz dieses Schreibens dessen Gutachten verwertet. Hinzu kommt: Schon vorher war in demselben Rechtsstreit Frau Dr. Q. (Q.) mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt worden, obwohl die Sachverständige dem Gericht Umstände angezeigt hatte, die ihrer Meinung nach den Eindruck der Befangenheit erweckten. Auch über diesen Ablehnungsgrund hatte das LSG den Kläger nicht informiert (vgl zur Verpflichtung, rechtliches Gehör auch bei Selbstablehnung eines Richters zu gewähren: BVerfG SozR 3-1500 § 60 Nr 2). Es hat ihm auf seinen nach Abgabe des Gutachtens gestellten Befangenheitsantrag vielmehr aufgegeben, glaubhaft zu machen, daß er ohne sein Verschulden verhindert war, den Antrag früher zu stellen (§ 118 Abs 1 SGG iVm § 406 Abs 2 Satz 2 ZPO). Erst nachdem der Kläger dies versichert hatte, hat das LSG die Ablehnung der Sachverständigen Dr. Q. mit Beschluß vom 14. März 1996 für begründet erklärt.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Ende der Entscheidung
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