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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundessozialgericht
Urteil verkündet am 30.11.2006
Aktenzeichen: B 9a VG 4/05 R
Rechtsgebiete: OEG, StGB


Vorschriften:

OEG § 1 Abs 1
OEG § 2
StGB § 239

Entscheidung wurde am 27.03.2007 korrigiert: die Vorschriften und der Verfahrensgang wurden geändert, Stichworte und ein amtlicher Leitsatz wurden hinzugefügt
Eine Freiheitsberaubung ist jedenfalls dann ein tätlicher Angriff, wenn sie auch durch den Einsatz körperlicher Gewalt erfolgt.
BUNDESSOZIALGERICHT Im Namen des Volkes Urteil

in dem Rechtsstreit

Az: B 9a VG 4/05 R

Der 9a. Senat des Bundessozialgerichts hat ohne mündliche Verhandlung am 30. November 2006 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Loytved, die Richter Dau und Masuch sowie die ehrenamtlichen Richter Dr. Roos und Dr. Simon

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 17. November 2005 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin als Opfer einer Gewalttat geschädigt worden ist und wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz hat. Die Klägerin besuchte am 21. September 2000 den späteren Täter (T.) in dessen Wohnung. Sie hatte T. zwei Tage zuvor kennen gelernt und den Eindruck gewonnen, er könne ihr bei der Arbeitssuche helfen. Die Klägerin und T. unterhielten sich über Berufsaussichten der Klägerin beim Film und rauchten dabei - wie schon zwei Tage zuvor - Marihuana. Weil T. die Frisur der Klägerin für eine Filmkarriere nicht für förderlich hielt, erbot er sich, ihr die Haare zu schneiden. Mit dem Ergebnis des Haarschnitts war die Klägerin nicht einverstanden und wollte deshalb zum Friseur gehen. T. stellte sich ihr an der Wohnungstür in den Weg und drängte sie ins Zimmer zurück. Er erklärte ihr, die an Armen und Händen zitterte, sie sei zu nervös für einen Friseurbesuch und solle sich setzen. Auch einen zweiten Versuch der Klägerin, die Wohnung zu verlassen, verhinderte T. Er stieß sie ins Zimmer zurück und sagte ihr, sie müsse noch eine halbe Stunde bleiben, dann könne sie gehen. Auf ihre Drohung, sie werde aus dem Fenster springen, wenn er sie nicht gehen lasse, erklärte T. die Klägerin für verrückt. Zehn Minuten vor Ende der halbstündigen Wartezeit kündigte T. das Erscheinen einer Frau an, der die Klägerin entweder gefallen oder von der sie in Stücke gerissen werde. Um die nervöse und aufgeregte Klägerin zu beruhigen, legte T. ihr seine Hand zunächst auf den Kopf und sodann auf den Nacken. Das beruhigte die Klägerin nicht, sondern ängstigte sie. Als T. sich abwandte, um eine Zigarette zu holen, ging die Klägerin zu dem im dritten Obergeschoss liegenden Fenster, kletterte hinaus und versuchte zum darunter gelegenen Stockwerk abzusteigen. Als T. am Fenster erschien, ließ sie sich fallen. Sie prallte auf das zwei Stockwerke tiefer gelegene Dach einer im Erdgeschoss befindlichen Passage. Dabei erlitt die Klägerin schwere Verletzungen an der Wirbelsäule, einen Bruch des Ellenbogens und des Handgelenks.

T. ist wegen Freiheitsberaubung zu einer auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden.

Der Beklagte lehnte es ab, Versorgung zu gewähren: T. habe die Klägerin nicht tätlich angegriffen, sondern ihrer Freiheit beraubt. Der Sprung aus dem Fenster sei letztlich eine Überreaktion auf das Verhalten des T., das objektiv keine eindeutigen Anzeichen für die Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden körperlichen Misshandlung gegeben habe (Bescheid vom 25. Oktober 2002; Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 2003).

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. September 2003). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit folgender Begründung zurückgewiesen: Die hier gegen die Klägerin verübte Freiheitsberaubung sei keine Gewalttat iS des § 1 Abs 1 OEG. Soweit T. körperlich gegen die Klägerin vorgegangen sei, handele es sich um Teilaspekte der Freiheitsberaubung, nicht um tätliche Angriffe, die auf eine Verletzung der Klägerin gezielt hätten. Es habe auch keine ausreichenden Hinweise gegeben, dass T. weitergehende tätliche Angriffe gegen die Klägerin auch nur geplant habe (Urteil vom 17. November 2005).

Die Klägerin macht mit der Revision geltend: Das LSG habe § 1 Abs 1 OEG verletzt. Zu Unrecht habe es einen tätlichen Angriff verneint. Dafür sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht einmal eine körperliche Einwirkung erforderlich, es genüge die drohende Gewalt, wenn sie - wie hier - nach dem objektiv gerechtfertigten Eindruck des Opfers unmittelbar bevorstehe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG vom 17. November 2005 und das Urteil des SG Frankfurt am Main vom 24. September 2003 sowie den Bescheid des Beklagten vom 25. Oktober 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 2003 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr wegen der Folgen der Gewalttat vom 21. September 2000 Beschädigtenrente nach dem OEG zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er verteidigt die angegriffenen Entscheidungen.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Anders als von den Instanzgerichten angenommen ist sie am 21. September 2000 Opfer eines von T. verübten vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG geworden. Welche gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen eine dadurch verursachte Schädigung hatte und ob der Klägerin deshalb Versorgung nach dem OEG zusteht, lässt sich auf Grund der im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen - selbst dem Grunde nach (vgl dazu BSG, Urteil vom 20. Oktober 1999 - B 9 VG 2/98 R - juris) - nicht abschließend entscheiden. Das angegriffene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 SGG).

Das Berufungsgericht hat gemeint, eine nach § 239 Strafgesetzbuch strafbare Freiheitsberaubung sei selbst dann kein tätlicher Angriff, wenn das Opfer durch körperliche Gewalt gehindert werde, sich frei zu bewegen. Erforderlich sei eine darüber hinausgehende, auf Verletzung des Opfers zielende Handlung, zumindest eine aus konkreten Anzeichen nachvollziehbar abzuleitende Gefahr einer Verletzung. Diese Rechtsansicht teilt der erkennende Senat nicht.

Der Senat hat neben Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit einer anderen Person auch ei-nen Angriff auf deren körperliche Bewegungsfreiheit als tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG behandelt (BSG SozR 3-3800 § 10a Nr 1; bei Nötigung durch Wegversperren). Ob daran für Fälle von Freiheitsberaubung ohne aggressives Einwirken auf das Opfer - etwa durch Einsperren in einen umschlossenen Raum oder durch bloßes Blockieren von Ausgängen oder durch List - festzuhalten ist, kann hier offen bleiben. Denn die Grenze zur Gewalttat nach § 1 Abs 1 OEG ist jedenfalls überschritten, wenn eine Person durch Mittel körperlicher Gewalt ihrer Freiheit beraubt und/oder dieser Zustand durch Tätlichkeiten aufrecht erhalten wird (vgl dazu die Materialien zum OEG, BT-Drucks 7/2506 S 10; Schoreit in Schoreit/Düsseldorf, Gesetz über die Entschädigung von Gewalttaten <OEG>, 1977, § 1 RdNr 59 f).

Ein solcher Fall liegt hier vor. T. hat die Klägerin zwei Mal tätlich angegriffen und dadurch am Verlassen seiner Wohnung gehindert. Beim ersten Versuch, entgegen ihrer Bitte zum Friseur zu gehen, hat T. sich der Klägerin an der Tür in den Weg gestellt und sie ins Zimmer zurückgedrängt. Beim zweiten Versuch hat er sie zurückgestoßen und erklärt, sie müsse bleiben. Einzeln betrachtet und für sich genommen mögen diese Tätlichkeiten nicht gravierend gewesen sein. Damit wäre der opferentschädigungsrechtliche Kern des Geschehens aber nicht erfasst. Die bis dahin verübten Tätlichkeiten zeigen, dass T. sein Verbot, die Wohnung zu verlassen als Dauerdelikt einer Freiheitsberaubung mit körperlicher Gewalt weiterhin durchsetzen wollte und würde. Damit drohte konkret die Gefahr weiterer Tätlichkeiten und von Körperverletzungen für den Fall, dass die Klägerin entschieden und nachhaltig versucht haben sollte, die Wohnung durch die Tür zu verlassen, um so ihr Recht auf Bewegungsfreiheit durchzusetzen.

Der durch den tätlichen Angriff auf die Klägerin in Gang gesetzte schädigende Vorgang endete nicht mit Vollendung der Freiheitsberaubung, sondern schließt grundsätzlich die Flucht der Klägerin und als schädigendes Ereignis deren Absturz aus dem dritten Stockwerk ein (vgl dazu BSG, Urteil vom 24. September 1992 - 9a RVg 5/91 -, NJW 1993, 880; Unfall auf der Flucht vom Ort einer Aussetzung; allgemein dazu auch BSG SozR 4-3800 § 1 Nr 1 und 2). Nähere Feststellungen zum schädigenden Vorgang und seinen Folgen hat das LSG nicht getroffen. Da der Senat die erforderlichen Ermittlungen nicht selbst durchführen darf (vgl § 163 SGG), ist eine Zurückverweisung der Sache an das LSG geboten.

Im wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG zu beachten haben, dass entschädigungsrechtlich jedermann im Allgemeinen nach seinem individuellen (auch psychischen) Zustand geschützt ist (BSGE 70, 164 = SozR 3-3100 § 1 Nr 5, mwN). Es kommt deshalb - anders als im Strafverfahren - nicht darauf an, ob die Ereignisse in der Wohnung des T. am 21. September 2000 "objektiv geeignet" waren, bei der Klägerin "die Entstehung eines derart starken Angstzustandes nachvollziehbar erscheinen zu lassen". Sollte die Klägerin allerdings noch zu einer Risikoabwägung in der Lage gewesen sein, wäre zu prüfen, ob sie grob vernunftwidrig, ohne begründete Hoffnung, unverletzt zu bleiben oder sich nur leicht zu verletzten, gleichsam "kopflos" aus dem Fenster im dritten Stock gestiegen ist. Für den Fall, dass der Angriff des T. eine wesentliche Bedingung für den Sturz der Klägerin war, stellt sich noch die Frage des Vorliegens eines Versagungsgrundes iS von § 2 OEG.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.



Ende der Entscheidung

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