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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 26.05.1998
Aktenzeichen: 1 BvL 11/94
Rechtsgebiete: BVerfGG
Vorschriften:
BVerfGG § 19 Abs. 3 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvL 11/94 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
zur verfassungsrechtlichen Prüfung,
ob § 10 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 des Gesetzes zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz - AAÜG), verkündet als Artikel 3 des Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz - RÜG) vom 25. Juli 1991 (Bundesgesetzblatt I Seite 1606, 1677), in Kraft getreten am 1. August 1991, geändert durch das Gesetz zur Änderung des Renten-Überleitungsgesetzes (RÜG-ÄndG) vom 18. Dezember 1991 (Bundesgesetzblatt I Seite 2207) und das Gesetz zur Ergänzung der Rentenüberleitung (Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz - Rü-ErgG) vom 24. Juni 1993 (Bundesgesetzblatt I Seite 1038), insoweit mit Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 Regelung 1 und Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes vereinbar ist, als der Höchstbetrag der Versichertenrenten des Sonderversorgungssystems des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit/Amtes für Nationale Sicherheit auf 802 DM begrenzt worden ist,
- Aussetzungs- und Vorlagebeschluß des Bundessozialgerichts vom 30. März 1994 (4 RA 33/92) -
hat das Bundesverfassungsgericht - Erster Senat - unter Mitwirkung der Richter Grimm, Kühling, der Richterinnen Jaeger, Haas und der Richter Hömig, Steiner
am 26. Mai 1998 beschlossen:
Die Selbstablehnung des Vizepräsidenten Papier wird für begründet erklärt.
Gründe:
I.
1. Das vorliegende Verfahren steht in Zusammenhang mit der Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus den geschlossenen Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der Deutschen Demokratischen Republik in die Rentenversicherung. Diese Überführung vollzieht sich in mehreren Schritten, die der Gesetzgeber unter anderem in einigen Sondervorschriften des Sozialgesetzbuches Sechstes Buch und im Gesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz - AAÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S. 1606, 1677) in der Fassung des Gesetzes zur Ergänzung der Rentenüberleitung (Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz - Rü-ErgG) vom 24. Juni 1993 (BGBl I S. 1038) geregelt hat. Die Verfassungsmäßigkeit des Regelungskonzepts ist Gegenstand mehrerer Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerdeverfahren. In dem vorliegenden Verfahren ist ein Teil davon zur Prüfung gestellt.
2. Vizepräsident Papier hat den Senat gebeten, ihn gemäß § 19 Abs. 3 BVerfGG von einer Mitwirkung an der Entscheidung in dem Verfahren zu entbinden.
Zu den in dem Verfahren bedeutsamen verfassungsrechtlichen Fragen habe er im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung im Mai 1994 ein Rechtsgutachten erstattet, das anschließend als Forschungsbericht Nr. 238 des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung veröffentlicht worden sei. Dieses Rechtsgutachten habe klären sollen, ob aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Korrektur des geltenden Rechts durch den Gesetzgeber notwendig erscheine. Der Auftrag sei ergebnisoffen erteilt worden, seine rechtlichen Prüfungen könnten also nicht als parteiische Stellungnahmen gewertet werden. In diesem Gutachten komme er zu dem Ergebnis, daß die Regelungen der Überleitung der in der Deutschen Demokratischen Republik aufgebauten Zusatz- und Sonderversorgungssysteme nach dem AAÜG verfassungsgemäß seien. Die dazu entwickelten Rechtsauffassungen habe er auch in weiteren wissenschaftlichen Beiträgen vertreten, so in den Zeitschriften Deutsche Rentenversicherung (DRV) 1994, S. 840 ff. (Die Verfassungsmäßigkeit der Regelungen des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes <AAÜG>), Deutsche Richterzeitung (DRiZ) 1996, S. 402 ff. (Rentenrecht oder Rentenunrecht ?) und Deutsch-Deutsche Rechts-Zeitschrift (DtZ) 1996, S. 43 f. (Eigentumsgarantie bei DDR-Renten) sowie in einem Kommentar zum Grundgesetz (Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 14 Rn 135 - Bearbeitungsstand Mai 1994).
Ferner habe er diesen Rechtsstandpunkt auch in der gesetzgebungspolitischen Beratung über die Änderung des AAÜG vertreten. Im Rahmen einer Sachverständigenanhörung vor dem Bundestagsausschuß für Arbeit und Sozialordnung am 21. Juni 1995 habe er eine entsprechende schriftliche Stellungnahme eingereicht und anschließend mündlich die Rechtsauffassung vertreten, daß eine Gesetzesänderung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht erforderlich sei (Wortprotokoll der 17. Sitzung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 21. Juni 1995, Protokoll Nr. 17, S. 13, 14, 16, 18 f., 33 f., 37, 38). Darüber hinaus habe er darauf hingewiesen, daß er andere verfassungsrechtlich durchaus mögliche Lösungswege rechtspolitisch nicht für sinnvoll halte, insbesondere weil damit notwendig eine Einzelfallüberprüfung der Versorgungsanwartschaften verbunden wäre und dies für die Rentenversicherungsträger schwer zu bewältigende Umsetzungsprobleme aufwerfen würde (Protokoll Nr. 17, S. 33 f., 37, 38).
Vizepräsident Papier hat dargelegt, daß er damit in erster Linie eine wissenschaftliche Stellungnahme abgegeben habe. Jedoch sei die Nähe seiner Rechtsauffassung zu den von der Bundesregierung vertretenen Standpunkten unverkennbar. Daher gehe er davon aus, daß der Kläger des Ausgangsverfahrens seine Unbefangenheit anzweifele. Um auch nur einem Anschein fehlender Unbefangenheit entgegenzutreten, befürworte er seinen Ausschluß von diesem Verfahren.
3. Die Selbstablehnungserklärung ist den im Verfahren Angehörten zugestellt worden. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers im Ausgangsverfahren hat dazu Stellung genommen und die Bitte des Vizepräsidenten um Entbindung von der Mitwirkung am vorliegenden Verfahren unterstützt.
II.
1. Bei der Erklärung des Vizepräsidenten Papier handelt es sich um eine Selbstablehnung im Sinne des § 19 Abs. 3 BVerfGG. Diese Regelung setzt nicht voraus, daß der Richter sich selbst für befangen hält. Es genügt, daß er Umstände anzeigt, die Anlaß geben, eine Entscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit zu treffen (vgl. BVerfGE 88, 1 <3>; 95, 189 <191>). Die Erklärung des Richters läßt erkennen, daß er eine Senatsentscheidung über die Besorgnis seiner Befangenheit für erforderlich hält. Die mitgeteilten Umstände geben dazu auch objektiv Anlaß.
2. Die Selbstablehnung ist begründet.
a) Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfGE 82, 30 <38>; stRspr). Zwar können wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage für sich genommen kein Befangenheitsgrund sein. Anlaß zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit des Richters kann jedoch bestehen, wenn die Nähe dieser Äußerungen zu der von einem Beteiligten - hier der Bundesregierung - vertretenen Rechtsauffassung bei einer Gesamtbetrachtung nicht zu übersehen ist und die wissenschaftliche Tätigkeit des Richters vom Standpunkt anderer Beteiligter aus die Unterstützung dieses Beteiligten bezweckte. Die Sorge, daß der Richter die streitige Rechtsfrage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ist dann bei lebensnaher Betrachtungsweise verständlich.
b) Ein solcher Fall ist hier gegeben. Zwar konnte das von dem Vizepräsidenten Papier für das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung erstattete Rechtsgutachten aus der Sicht aller Beteiligten eine solche Unterstützung nicht bezwecken (vgl. auch BVerfGE 88, 1 <4>). Die rechtsgutachtliche Äußerung wurde zu einem Zeitpunkt abgegeben, als die Regelungen der Rentenüberleitung - in der Fassung des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes - bereits in Kraft getreten waren und in großem Umfang angewandt wurden. Das Gutachten sollte im Wege einer verfassungsrechtlichen Bestandsaufnahme klären, ob auf Korrekturen des geltenden Rechts für die Zukunft verzichtet werden konnte. Das Rechtsgutachten war danach bei der Übernahme des Auftrags zu seiner Erstattung ergebnisoffen und nicht von vornherein dazu bestimmt, die Rechtspositionen der Bundesregierung in einem konkreten Gesetzgebungsverfahren und einer dabei entstehenden politischen Kontroverse verfassungsrechtlich abzustützen.
Aus der Sicht der Beteiligten kann jedoch die Mitwirkung des Vizepräsidenten Papier als Sachverständiger im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages anders bewertet werden. Die Einladung zur Sachverständigenanhörung am 21. Juni 1995 erfolgte, nachdem seine wissenschaftliche Meinung zu den streitigen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Rechtsgutachten bekannt geworden war. Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zog bei seinem Bemühen, in der Anhörung ein ausgewogenes Meinungsbild zur Geltung zu bringen, Vizepräsident Papier erkennbar als einen der Sachverständigen hinzu, die die Regelungen der Rentenüberleitung für verfassungsmäßig hielten und die Rechtsauffassung der Bundesregierung bekräftigten. Auf das für das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung erstattete Rechtsgutachten, die darauf beruhende Stellungnahme im Rahmen der Sachverständigenanhörung und die weiteren Veröffentlichungen des Vizepräsidenten Papier wird mittlerweile von vielen Gerichten und in der einschlägigen Literatur zur Stütze für die verfassungsrechtliche Absicherung der Rentenüberleitung Bezug genommen. Diese unterstützende Funktion wird dem Gutachten schließlich von der Bundesregierung selbst beigelegt, die hinsichtlich der von ihr vorgetragenen verfassungsrechtlichen Erwägungen in den von ihr beim Bundesverfassungsgericht im Rahmen der anhängigen Verfahren zur Rentenüberführung und auch im vorliegenden Verfahren abgegebenen Stellungnahmen auf das Rechtsgutachten des Vizepräsidenten Papier verweist. Bei dieser Sachlage, die sich im Wege einer Gesamtschau aller geschilderten Umstände ergibt, liegen Gründe dafür vor, die bei unbefangener Betrachtungsweise geeignet sind, Besorgnis wegen der Unbefangenheit des Vizepräsidenten Papier zu wecken. Auch der Richter selbst schätzt die Wirkung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nachvollziehbar dahin ein, daß Beteiligte seine Unbefangenheit in Zweifel ziehen.
Ende der Entscheidung
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