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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 21.04.2000
Aktenzeichen: 1 BvQ 10/00
Rechtsgebiete: VersG, VwGO, BVerfGG, GG


Vorschriften:

VersG § 15 Abs. 1
VwGO § 80
BVerfGG § 32 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG § 32 Abs. 1
GG Art. 8
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvQ 10/00 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

den Antrag,

unter Aufhebung der Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 20. April 2000 - 7 B 30/00 - und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. April 2000 - 11 M 1524/00 - im Weg der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 18. April 2000 gegen die Verbotsverfügung des Landkreises Harburg vom 17. April 2000 - 32-VSG-Vö/Ah-01 - wieder herzustellen,

Antragsteller: Junge Nationaldemokraten,

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Hans Günter Eisenecker, Dorfstraße 22, Goldenbow -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Papier und die Richter Steiner, Hoffmann-Riem

am 21. April 2000 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung des Landkreises Harburg vom 17. April 2000 - 32-VSG-Vö/Ah-01 - wird wieder hergestellt.

Gründe:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft ein für sofort vollziehbar erklärtes Versammlungsverbot.

I.

1. Der Antragsteller ist eine Unterorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Im März 2000 kam es in T. zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf ein Mitglied der so genannten "Skinhead-Bewegung" verletzt worden war. Der Antragsteller hatte daraufhin für den 7. April 2000 eine Demonstration unter dem Motto "Gegen Gewalt und Inländerfeindlichkeit!" angemeldet. Diese Demon-stration war ihm von der zuständigen Behörde verboten worden; die dagegen gerichteten Anträge auf Eilrechtsschutz blieben vor den Verwaltungsgerichten erfolglos.

2. Am 12. April 2000 meldete der Antragsteller die nunmehr in Frage stehende Demonstration unter dem Motto "Für Meinungsfreiheit - gegen Demoverbote" für Ostersamstag, den 22. April 2000, an. Diese Versammlung wurde mit Verfügung der zuständigen Behörde vom 17. April 2000 gemäß § 15 Abs. 1 VersG verboten. Die Behörde stützte das Verbot im Wesentlichen auf folgende Aspekte:

Es handele sich bei der angemeldeten Demonstration zweifelsfrei um eine Nachfolgeveranstaltung der ursprünglich für den 7. April 2000 geplanten verbotenen Versammlung. Der Versammlungsleiter biete keine Gewähr für einen ordnungsgemäßen Versammlungsverlauf, weil bei ihm im Juni 1999 im Zusammenhang mit einer Demonstration in Dänemark ein "Totschläger" sicher gestellt worden sei. Aufgrund der Ereignisse vom März 2000 in T. seien Straftaten zu befürchten; die Schwere der Straftat gegen das Mitglied der "Skinhead-Bewegung" lasse befürchten, dass die Gewaltbereitschaft mancher Demonstrationsteilnehmer noch gestärkt werde. Vorfälle aus der Vergangenheit belegten die Bereitschaft rechtsextremer Demonstranten zur Begehung von Straftaten. Auch nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes und nach Presseberichten sei von einer zunehmenden Gewaltbereitschaft von "Skinheads" in Niedersachsen auszugehen. Überdies ziele die Versammlung nach Inhalt, Art und Weise ihrer Durchführung, Örtlichkeit und Zusammensetzung des angesprochenen Teilnehmerkreises erkennbar darauf ab, Teile der Bevölkerung auszugrenzen, einzuschüchtern und extrem zu provozieren. Als Nachfolgeveranstaltung der verbotenen Demonstration solle sich die nunmehr geplante Versammlung gegen "Inländerfeindlichkeit", also gegen Ausländer und Aussiedler, richten. Die Versammlung ziele erkennbar darauf ab, den in T. lebenden Ausländern in einschüchternder Weise vor Augen zu führen, dass sie unerwünscht seien. Ein mit Trommeln und schwarz-weiß-roten Fahnen geplanter Aufzug müsse zu einer so starken Einschüchterung der Bevölkerung, insbesondere der Aussiedler und Ausländer, führen, dass dies durch das Versammlungsrecht nicht mehr gedeckt sei.

Es widerspreche zudem der öffentlichen Ordnung, wenn Ausländer und Aussiedler den Eindruck gewinnen müssten, sie könnten - ähnlich wie im Dritten Reich - in T. nicht sicher leben. Darüber hinaus würde aber auch grundsätzlich jede Demonstration von Rechtsradikalen zwei Tage nach dem 20. April eines jeden Jahres (dem Geburtstag Adolf Hitlers) der öffentlichen Ordnung widersprechen, weil dies als Ehrerbietung dem "Führer" gegenüber erkannt werde. Unabhängig vom Ansehensverlust der Bundesrepublik Deutschland im Ausland widerspreche das der öffentlichen Ordnung in nicht beschreibbarem Umfang.

Ein milderes Mittel als ein Verbot, etwa die Auflage, keine Fahnen, Fackeln oder Trommeln mitzuführen, komme nicht in Betracht. Selbst wenn durch Auflagen die einschüchternde Wirkung der Demonstration gemindert werden könne, müsse bei einer Demonstration durch Rechtsradikale mit derart scharfen mündlichen Äußerungen, aggressiven und grob ausländerfeindlichen sowie undifferenzierten politischen Meinungsäußerungen aus dem Teilnehmerkreis gerechnet werden, dass dies nicht mehr von der Versammlungsfreiheit gedeckt sei. Im Übrigen sei auch zu berücksichtigen, dass sicherlich mit gewaltbereiten Gegendemonstrationen linker Autonomer zu rechnen sei, wobei der Antragsteller diese bewusst auslösen wolle oder jedenfalls zwingend mit solchen Aktionen rechnen müsse. Der Antragsteller sei auch insoweit polizeirechtlich "Störer".

2. Der Widerspruch des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung blieb erfolglos. Einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Rahmen des § 80 VwGO hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. April 2000 abgelehnt. Die Verbotsverfügung erweise sich bei summarischer Prüfung als rechtmäßig. Dabei hat das Gericht maßgeblich darauf abgestellt, dass von der geplanten Versammlung eine einschüchternde Wirkung ausgehen könne. Im Übrigen sei es zweifelhaft, ob die von dem Antragsteller geplante Art und Weise kollektiver Meinungsäußerung überhaupt noch vom Grundrecht aus Art. 8 GG umfasst sei, das gerade die demokratische Willensäußerung des Einzelnen schützen wolle. Das Parteienprivileg, auf das sich auch der Antragsteller berufen könne, erlaube es nicht, sich außerhalb der Gesetze zu bewegen. Das Oberverwaltungsgericht hat den Antrag auf Zulassung der gegen diesen Beschluss gerichteten Beschwerde am selben Tag abgelehnt.

3. Der Antragsteller beantragt, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Verbotsverfügung wieder herzustellen. Er trägt dazu im Wesentlichen vor, dass ihm in Niedersachsen seit geraumer Zeit jede Demonstration verboten werde. Dabei stützten sich die Behörden nicht auf konkrete Gefahren, sondern auf Spekulationen und undifferenzierte Behauptungen. Das laufe im Ergebnis darauf hinaus, dass sein Grundrecht aus Art. 8 GG vollständig leer laufe.

4. Wegen besonderer Dringlichkeit hat das Bundesverfassungsgericht davon abgesehen, der zuständigen Behörde oder anderen Äußerungsberechtigten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des (möglichen) Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 91, 252 <257 f.>; stRspr).

2. Der Antrag ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Wohl aber ist es zweifelhaft und gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren zu klären, ob die Gefahrenprognose, auf die die Entscheidungen der Behörde und der Verwaltungsgerichte gestützt worden sind, den Anforderungen von Art. 8 GG genügt (vgl. BVerfGE 69, 315).

3. Demnach kommt es für die Entscheidung auf eine Beurteilung und Abwägung der Folgen an, die im Fall des Erfolgs oder Misserfolgs des Antrags einträten.

a) Bliebe die sofortige Vollziehbarkeit des Verbots der Demonstration bestehen, hätte eine Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, so wäre der Antragsteller um die Möglichkeit, von dem ihm zustehenden Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der gewünschten Weise Gebrauch zu machen, gebracht worden. Eine spätere Nachholung der Versammlung vermöchte die mit dem Verbot verbundenen Nachteile nicht mehr zu beseitigen. Versammlungen sind regelmäßig auf bestimmte Zeitpunkte und bestimmte Umstände bezogen. Die Wirkungen, die sie zur geplanten Zeit entfalten sollen, werden endgültig vereitelt. Eine zeitnahe Nachholung der Veranstaltung erscheint im übrigen im vorliegenden Fall auch deswegen gefährdet, weil die Behörde das Verbot der Versammlung im Wesentlichen auf Erwägungen gestützt hat, die unabhängig von der konkret in Frage stehenden Demonstration praktisch auf alle von der NPD oder dem Antragsteller geplanten Versammlungsaktivitäten bezogen werden können. In Anbetracht der Gründe, auf welche die Verbotsverfügung hier gestützt worden ist, ist vielmehr damit zu rechnen, dass dem Antragsteller jegliche Demonstration im Landkreis H. auf absehbare Zeit verboten würde.

b) Könnte die Versammlung wie geplant stattfinden, erwiese sich eine Verfassungsbeschwerde später aber als unbegründet, so wäre die Versammlung durchgeführt worden, obwohl die Voraussetzungen für ein Verbot vorlagen.

Bei der vom Bundesverfassungsgericht anzustellenden Folgenabwägung kann dabei nicht nur auf die von der Behörde vorgenommene Prognose der Gefahr als solche abgestellt werden, sondern es ist - ungeachtet des Umstandes, dass dem Bundesverfassungsgericht in der zumeist knappen Zeit eine Nachprüfung der Tatsachengrundlage der Prognose regelmäßig nicht möglich ist - unter Zugrundelegung der behördlichen Erkenntnisse auch der Grad an Eintrittswahrscheinlichkeit der befürchteten Gefahr zu berücksichtigen. Dabei kann nicht vollständig außer Betracht bleiben, ob die von der Behörde dargelegten Tatsachen und die darauf gestützte Abwägung der betroffenen Rechtsgüter das Versammlungsverbot tragen.

Im vorliegenden Fall rechnet die Behörde mit gewalttätigen Aktionen der Demonstrationsteilnehmer. Zur Stützung dieser Annahme verweist sie im Wesentlichen auf die aufgeheizte Stimmung in T. sowie auf rechtswidrige Handlungen und Straftaten, die in der Vergangenheit im Zusammenhang mit Demon-strationen der NPD oder generell von "rechtsextremen Personen" begangen worden seien. Konkrete polizeiliche Erkenntnisse über die zu erwartenden Versammlungsteilnehmer, Aufrufe zu Gewalttätigkeiten oder andere konkrete Indizien für die befürchteten Straftaten hat die Behörde allerdings nicht genannt. Sie hat sich vielmehr nur allgemein auf Erkenntnisse des Verfassungsschutzes und Presseberichte bezogen, wonach von einer zunehmenden Gewaltbereitschaft des rechtsextremen Spektrums auszugehen sei. Anhaltspunkte dafür, dass den befürchteten Gewalttaten nicht durch entsprechende Auflagen oder einen Einsatz von Ordnungskräften entgegengewirkt werden könnte, hat die Behörde nicht darzulegen vermocht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass es sich nach den Angaben des Antragstellers, denen die Behörde nicht substantiiert entgegengetreten ist, um eine vergleichsweise kleine Versammlung handeln soll.

Soweit die Prognose, es werde bei der Versammlung zu Straftaten kommen, auf die angenommene Unzuverlässigkeit des Versammlungsleiters gestützt ist, basiert dies wiederum lediglich auf einem Vorfall im Juni 1999 in Dänemark, dessen strafrechtliche Relevanz im Verwaltungsverfahren überdies unklar geblieben ist. Tatsachen, die sich auf die angemeldete Versammlung selbst beziehen, sind insoweit weder in der Verfügung noch in den Entscheidungen der Verwaltungsgerichte genannt.

Schließlich hat die Behörde auch die befürchtete Gefährdung der öffentlichen Ordnung nicht durch konkrete Tatsachen belegt, sondern sich generell auf die einschüchternde Wirkung der Versammlung berufen. Soweit sie in diesem Zusammenhang konkrete Aspekte benennt (Fackeln, Trommeln, Marschordnung), ist jedenfalls nicht ersichtlich, weshalb entsprechende Auflagen untauglich sein sollten, die einschüchternde Wirkung, welche möglicherweise zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führen mag, auszuschließen oder zu verhindern. Schließlich rechtfertigt hier das Datum der Demonstration nicht die Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung.

c) Unter diesen Umständen überwiegen diejenigen Gefahren, die bei einem Verbot der Versammlung für den Antragsteller insgesamt einträten, diejenigen, welche bei Durchführung der Versammlung als möglich erscheinen, aber durch geeignete Gegenmittel begrenzt oder ausgeschaltet werden können.

Ende der Entscheidung

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