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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 06.06.2007
Aktenzeichen: 1 BvQ 18/07
Rechtsgebiete: BVerfGG, BGB, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 32 Abs. 1
BVerfGG § 32 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG § 32 Abs. 5
BVerfGG § 34 a Abs. 3
BVerfGG § 93 d Abs. 2
BGB § 1666
GG Art. 1
GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 2 Abs. 2
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG Art. 6
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 1 BvQ 18/07 -

In dem Verfahren

über

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung

gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 24. Mai 2007 - 1 UF 78/07 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier und die Richter Hoffmann-Riem, Gaier gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 6. Juni 2007 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 24. Mai 2007 - 1 UF 78/07 - wird einstweilen, längstens für die Dauer von sechs Monaten ausgesetzt.

Die Wirksamkeit der amtsgerichtlichen Entscheidung vom 13. März 2007 - 32 F 53/07 - wird insoweit wiederhergestellt.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Antragstellerin die notwendigen Auslagen im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Gründe:

Die Kammer hat die Begründung ihrer Entscheidung gemäß § 32 Abs. 5 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich abgefasst.

I.

Die Antragstellerin - in Prozessstandschaft vertreten durch das Stadtjugendamt der Stadt M. und durch ihre Verfahrenspflegerin - begehrt die Wiederherstellung der amtsgerichtlichen Entscheidung, wonach ihren Eltern die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Rahmen der Gesundheitsfürsorge für sie entzogen worden und das Stadtjugendamt der Stadt M. zu ihrem Pfleger bestellt worden ist.

1. Am 18. August 2006 erlitt die Antragstellerin im Rahmen einer diagnostischen Maßnahme einen Herz-Atem-Stillstand mit einem wahrscheinlich über mehr als 30 Minuten anhaltenden Sauerstoffmangel. Dieser hat unter anderem zu einem hypoxischen Hirnschaden geführt. Seit diesem Zeitpunkt befindet sich die Antragstellerin in einem appallischen Zustand. Die Antragstellerin wird über eine transnasale Magensonde ernährt. Die Eltern der Antragstellerin haben sich dazu entschlossen, die Antragstellerin nach Hause zu nehmen und die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr unter palliativ-medizinischer Betreuung durch einen Facharzt zu beenden, was letztendlich zum Tode der Antragstellerin führen soll.

2. Das Amtsgericht bestellte für die Antragstellerin eine Verfahrenspflegerin und entzog durch Beschluss vom 24. Januar 2007 den Eltern der Antragstellerin zunächst vorläufig und sodann durch den am 20. März 2007 durch Zustellung bekannt gemachten Beschluss in der Hauptsache die Gesundheitsfürsorge und das Aufenthaltsbestimmungsrecht im Rahmen der Gesundheitsfürsorge für die Antragstellerin und übertrug beides - unter Bestellung des Stadtjugendamtes als Pfleger - auf das Stadtjugendamt der Stadt M., weil nach Abwägung des Elternrechts aus Art. 6 GG mit dem Recht der Antragstellerin auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG und ihrer Würde aus Art. 1 GG bei Abbruch der Behandlung eine Kindeswohlgefährdung anzunehmen sei.

3. Auf die Beschwerde der Eltern hob das Oberlandesgericht die Entscheidung des Amtsgerichts auf und stellte das Verfahren auf Entziehung der elterlichen Sorge ein, weil weder eine missbräuchliche Wahrnehmung der Elternverantwortung noch ein schuldloses oder gar schuldhaftes Versagen im Sinne des § 1666 BGB erkennbar sei. Ein Sorgerechtsmissbrauch ergebe sich insbesondere auch nicht unter dem Gesichtspunkt, dass die Entscheidung der Eltern möglicherweise oder sogar wahrscheinlich - vorbehaltlich einer eventuell erforderlich werdenden Entscheidung des Vormundschaftsgerichts - den Tod der Antragstellerin zur Folge hätte.

4. Die Eltern der Antragstellerin haben die Antragstellerin am Montag, den 4. Juni 2007 aus der Klinik, in der sich die Antragstellerin zur Implantation einer so genannten Spastik-Pumpe befand, nach Hause geholt.

5. Die minderjährige Antragstellerin hat - vertreten durch ihre Verfahrenspflegerin und in Prozessstandschaft durch das Stadtjugendamt der Stadt M. - im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt, den Beschluss des Oberlandesgerichts bis zur Entscheidung über ihre Verfassungsbeschwerde auszusetzen. Die Antragstellerin macht geltend, es sei zweifelhaft, ob das Oberlandesgericht ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sowie ihre über Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde ausreichend berücksichtigt habe. Es bestehe die Gefahr, dass sie bei nicht mehr ausreichender Versorgung mit Nahrungsmitteln und Flüssigkeit nur noch eine Lebenserwartung von etwa zehn Tagen habe. Die Abwägung der eintretenden Folgen spreche für den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung.

II.

Wegen der besonderen Dringlichkeit der Entscheidung hat die Kammer nach § 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG von einer vorherigen Anhörung der Beteiligten und Äußerungsberechtigten abgesehen.

III.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Eine einstweilige Anordnung kann danach unter anderem dann erlassen werden, wenn sie notwendig ist, um die Effektivität der künftigen Entscheidung in der Hauptsache zu sichern, insbesondere den Eintritt irreversibler Zustände zu verhindern (vgl. BVerfGE 42, 103 <119>; 105, 235 <238>). Ist ein Hauptsacheverfahren noch nicht anhängig, ist ein Eilantrag nur zulässig, wenn der Streitfall als Hauptsache in zulässiger Weise vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden kann (vgl. BVerfGE 3, 267 <277>; 7, 367 <371>; 71, 350 <352>; 108, 34 <40>; stRspr).

2. Danach ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet.

a) Die in der Hauptsache zu erhebende Verfassungsbeschwerde wäre nach den vorgelegten Unterlagen weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens hängt die Entscheidung darüber, ob eine einstweilige Anordnung ergeht oder nicht, von einer Folgenabwägung ab. Dabei müssen die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, mit den Nachteilen abgewogen werden, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 94, 334 <347>; 96, 120 <128 f.>; 104, 23 <28 f.>; 108, 34 <42>; stRspr).

b) Im vorliegenden Fall fällt die Folgenabwägung zugunsten der Antragstellerin aus. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde aber später als begründet, besteht nach dem bisherigen Erkenntnisstand - insbesondere unter Berücksichtigung des vorgelegten Schreibens der Klinik H. vom 23. Januar 2007 - die Gefahr, dass die Antragstellerin unter palliativ-medizinischer Betreuung bei nicht ausreichender Versorgung mit Nahrungsmitteln und Flüssigkeit innerhalb kurzer Zeit versterben wird. Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde aber später keinen Erfolg, verbleibt den Eltern die Möglichkeit, die Antragstellerin zu sich zu nehmen und unter palliativer Betreuung die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr einzustellen. Nach dem vorliegenden Erkenntnisstand ist davon auszugehen, dass die der Antragstellerin drohenden Nachteile insgesamt schwerer wiegen als diejenigen ihrer Eltern.

3. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG.

Ende der Entscheidung

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