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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 30.07.1996
Aktenzeichen: 1 BvR 1308/96
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 2 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1308/96 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

der mdj. S..., - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Prof. Dr. Joachim Fischer und Partnerin, Kurze Geismarstraße 22, Göttingen -

gegen

den Beschluß des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. Mai 1996 - 13 M 1663/96 -

und Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Jaeger und die Richter Hömig, Steiner

am 30. Juli 1996 einstimmig beschlossen:

Der Beschluß des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. Mai 1996 - 13 M 1663/96 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

G r ü n d e :

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine im vorläufigen Rechtsschutzverfahren ergangene Beschwerdeentscheidung des Oberverwaltungsgerichts, mit der der Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen ihre von der Verwaltungsbehörde verfügte Überweisung in eine Sonderschule abgelehnt wurde.

1. Die Beschwerdeführerin ist seit ihrer Geburt körperbehindert. Auffallend sind als Folge der Behinderung eine deutliche Verlangsamung der Motorik und des Sprechens sowie eine feinmotorische Beeinträchtigung der Hände. Trotz dieser Beeinträchtigungen konnte sie ihre Grundschulzeit - ohne eine Klasse wiederholen zu müssen - in einer Regelschule absolvieren. Während dieser Zeit erhielt sie sonderpädagogischen Förderunterricht im Fach Mathematik. Zudem wurde sie von einem Zivildienstleistenden im Unterricht begleitet.

Zum Schuljahr 1995/96 wechselte die Beschwerdeführerin in den 5. Schuljahrgang einer Integrierten Gesamtschule. Kurz nach Beginn des Schuljahres wurde zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs ein Beratungsgutachten über sie erstellt. Hierauf stellte die Schulbehörde unter Hinweis auf das Ergebnis dieses Gutachtens und die Empfehlungen der Förderkommission einen sonderpädagogischen Förderbedarf bei der Beschwerdeführerin fest und verfügte ihre Überweisung auf eine Sonderschule (Schule für Körperbehinderte). Der dagegen erhobene Widerspruch der Beschwerdeführerin wurde zurückgewiesen. Bei der Beschwerdeführerin seien Fördermaßnahmen notwendig, die im Rahmen einer integrativen Beschulung an der von ihr besuchten Integrierten Gesamtschule nicht zu ermöglichen seien. Zugleich ordnete die Widerspruchsbehörde die sofortige Vollziehung der Überweisung in die Sonderschule an. Die Unterrichtung der Beschwerdeführerin führe zu einer Überlastung der Lehrkräfte an der Integrierten Gesamtschule und damit zu einer Beeinträchtigung des Unterrichts. Auch sei es im überwiegenden Interesse der Beschwerdeführerin, wenn sie entsprechend ihrer Körperbehinderung in einer Sonderschule beschult werde.

Über die von der Beschwerdeführerin gegen diesen Bescheid erhobene Klage ist noch nicht entschieden.

Auf Antrag der Beschwerdeführerin stellte das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Verwaltungsentscheidungen wieder her. Das Verwaltungsgericht begründete dies damit, daß nicht die zuständige Behörde die Sonderschulüberweisung verfügt habe. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde der Schulbehörde hat das Oberverwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluß den Antrag der Beschwerdeführerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage abgelehnt. Die Überweisungsentscheidung sei formell und materiell nicht zu beanstanden. Die Beschwerdeführerin benötige eine sonderpädagogische Förderung im Sinne von § 14 Abs. 2 Satz 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes - im folgenden: NSchG -. Organisationsbedingt könne ihr diese an der Integrierten Gesamtschule, auch im Rahmen des § 14 Abs. 4 NSchG, nicht zuteil werden, so daß sie nach § 68 Abs. 1 Satz 1 NSchG zum Besuch der für sie geeigneten Sonderschule verpflichtet sei. Zu Recht habe die Widerspruchsbehörde auch die sofortige Vollziehung der Überweisungsentscheidung angeordnet. Diese Maßnahme sei einerseits mit der Belastung der Lehrer an der Integrierten Gesamtschule begründet worden, andererseits damit, daß es auch im Interesse der Beschwerdeführerin selbst liege, möglichst schnell angemessen beschult zu werden. Unter beiden Gesichtspunkten überwiege das öffentliche Interesse das Interesse der Beschwerdeführerin, weiterhin an der Integrierten Gesamtschule zu bleiben.

2. Gegen diese Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts wendet sich die Beschwerdeführerin mit der Rüge, ihre Rechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG seien verletzt.

Behinderte Kinder dürften gegen ihren und den Willen ihrer Eltern nur dann durch Überweisung in eine Sonderschule gegenüber nicht behinderten Kindern benachteiligt werden, wenn dies durch zwingende Gründe gerechtfertigt sei. Insoweit sei nicht ausreichend, daß sich das Oberverwaltungsgericht auf einen Hinweis auf organisatorische und personelle Probleme in der Regelschule beschränke. Die Überweisung in die Sonderschule bedeute für sie eine Benachteiligung durch Ausgrenzung. Ihr werde die Möglichkeit genommen, bis zum Ende ihrer Schulzeit integriert zu leben und beschult zu werden. Ihre Lebens- und Berufschancen würden durch den Sonderschulbesuch und -abschluß deutlich verschlechtert, ihre Berufswahlmöglichkeiten minimiert. Damit werde auch ihr Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG beschränkt.

3. Dem Niedersächsischen Justizministerium sowie der Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist Gelegenheit gegeben worden, zur Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen. Letztere verteidigt die angegriffene Entscheidung.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die für diese Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

1. a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Entscheidungen der zuständigen Fachgerichte nicht schlechthin einer verfassungsgerichtlichen Prüfung zugänglich. Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts sind Sache der Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen. Dieses kontrolliert vielmehr nur, ob bei Auslegung und Anwendung einfachen Rechts der Einfluß der Grundrechte oder grundrechtsgleicher Rechte nicht beachtet oder grundlegend verkannt worden ist (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 43, 130 <135>; 89, 276 <285>).

b) Nach diesen Grundsätzen ist der angegriffene Beschluß mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht vereinbar.

Das Oberverwaltungsgericht hat seine Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO im Wege einer Interessenabwägung gefunden, bei der es die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs mit berücksichtigt hat. Dies entspricht der überwiegenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: 1. April 1996, § 80 Rn. 252 mit Nachweisen in Fn 936) und ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Von Verfassungs wegen zu beanstanden ist jedoch die konkrete Rechtsanwendung durch das Oberverwaltungsgericht. Die Begründung seiner Entscheidung läßt nicht erkennen, daß die Ausstrahlungswirkung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Rahmen der Prüfung der Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs sowie bei der Bewertung der Interessen der Beschwerdeführerin an einer Aussetzung des Sofortvollzugs berücksichtigt wurde.

Das Niedersächsische Schulgesetz gestaltet das spezielle Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung, wie es in dem 1994 geschaffenen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verankert worden ist, einfachrechtlich näher aus, indem es Schülerinnen und Schülern, die wegen einer Behinderung einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen, grundsätzlich einen vorrangigen Anspruch auf gemeinsame Beschulung mit Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in den allgemeinen Schulen gibt (vgl. §§ 4, 14 Abs. 2 Satz 1, § 68 Abs. 1 Satz 2 NSchG). Von diesem gesetzlichen Regelfall der Beschulung soll zugunsten einer sonderpädagogischen Betreuung in einer Sonderschule nach § 4 NSchG nur abgewichen werden, wenn dem individuellen Förderbedarf an der allgemeinen Schule nicht entsprochen werden kann oder wenn die organisatorischen, personellen und sächlichen Gegebenheiten eine integrative Beschulung nicht erlauben. Im Lichte von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG folgt aus diesem Regel-Ausnahme-Verhältnis für den Rechtsanwender eine erhöhte Begründungspflicht, wenn er vom gesetzlichen Regelfall abweichen will. Deshalb genügt es nicht, die Möglichkeit einer integrativen Beschulung nach niedersächsischem Schulrecht mit pauschalen Hinweisen auf die Funktionsfähigkeit der allgemeinen Schulen bei begrenzten organisatorischen und personellen Mitteln zu verneinen (vgl. auch Osterloh, in: Sachs, Grundgesetz, 1996, Art. 3 Rn. 312).

Diesen erhöhten Begründungsanforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. In ihrer Begründung wird, abgesehen von dem nichtssagenden Hinweis auf "organisationsbedingte" Umstände, weder dargelegt, weshalb eine sonderpädagogische Förderung der Beschwerdeführerin an der von ihr besuchten Integrierten Gesamtschule nicht möglich sein soll, noch wird ausgeführt, was dem Einsatz einer pädagogisch oder therapeutisch vorgebildeten Stützkraft entgegenstehen soll. Keine Ausführungen enthält der angegriffene Beschluß weiter dazu, warum die Beschwerdeführerin nicht in die für den 5. Schuljahrgang geplante Integrationsklasse der Integrierten Gesamtschule aufgenommen werden kann. Schließlich läßt die Entscheidung auch nicht das Bewußtsein des Oberverwaltungsgerichts dafür erkennen, daß das Interesse der Beschwerdeführerin, wegen ihrer Behinderung nicht benachteiligt zu werden, in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verfassungsrechtlich geschützt ist.

2. Da die Verfassungsbeschwerde schon wegen der Verletzung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG begründet ist, bedarf es nicht der Entscheidung, ob darüber hinaus auch Art. 2 Abs. 1 GG verletzt ist.

3. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung erledigt sich mit der vorliegenden Entscheidung, weil mit dieser der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts, dessen Aussetzung die Beschwerdeführerin begehrt hat, aufgehoben wird.

4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Jaeger Hömig Steiner Steiner

Ende der Entscheidung

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