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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 28.03.2000
Aktenzeichen: 1 BvR 1390/98
Rechtsgebiete: BGB, BVerfGG, ZPO


Vorschriften:

BGB § 892 Abs. 1
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG § 93 c Abs. 1
BVerfGG § 90 Abs. 2 Satz 1
BVerfGG § 93 c Abs. 2
BVerfGG § 95 Abs. 2
BVerfGG § 34 a Abs. 2
ZPO § 546 Abs. 2
ZPO § 546 Abs. 1
ZPO § 523
ZPO § 278 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 1390/98 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn H...

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Ulrich Seidel und Koll., Wenzelsring 12, Naumburg -

gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 24. Juni 1998 - 5 U 1875/97 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Papier und die Richter Steiner, Hoffmann-Riem

am 28. März 2000 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Oberlandesgerichts Naumburg vom 24. Juni 1998 - 5 U 1875/97 - verletzt Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Das Land Sachsen-Anhalt hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu ersetzen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft Fragen des rechtlichen Gehörs in einem Zivilrechtsstreit über ein Wegerecht.

I.

1. Der Vater des Beschwerdeführers war Eigentümer des Grundstücks Dorfstraße 9 in D. Mit notariellem Vertrag vom 14. Oktober 1991 verkaufte er eine zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgetrennte und katastermäßig noch nicht abgemessene, mit einem Wohnhaus bebaute Teilfläche des Grundstücks an die Kläger des Ausgangsverfahrens. Gleichzeitig bestellte er an dem in seinem Eigentum verbliebenen Restgrundstück zugunsten des jeweiligen Eigentümers des noch abzutrennenden Grundstücks eine Grunddienstbarkeit (Geh- und Fahrrecht). Die Kläger wurden im Grundbuch als Eigentümer des von ihnen erworbenen, inzwischen vermessenen Grundstücks (Dorfstraße 9 a) eingetragen, eine Eintragung des Geh- und Fahrrechts erfolgte jedoch nicht. Im Oktober 1994 übertrug der Vater des Beschwerdeführers das Eigentum an dem Restgrundstück (Dorfstraße 9) an den Beschwerdeführer.

Im Ausgangsverfahren begehrten die Kläger von dem Beschwerdeführer, ihnen den Zugang zu dem auf dem Grundstück Dorfstraße 9 a befindlichen Gebäude über das Grundstück Dorfstraße 9 zu gewähren und die Eintragung der entsprechenden Grunddienstbarkeit zu bewilligen. In der Berufungsinstanz änderte das Oberlandesgericht das klageabweisende erstinstanzliche Urteil ab und gab der Klage im Wesentlichen statt. Zur Begründung führte es unter anderem aus:

Der notariell beurkundete Kaufvertrag vom 14. Oktober 1991 enthalte die bindende dingliche Einigung über die näher bezeichnete Grunddienstbarkeit zur Sicherung des Geh- und Fahrrechts. Diese Grunddienstbarkeit sei zwar mangels Eintragung in das Grundbuch nicht als Vollrecht entstanden, mit dem Eigentum an dem Grundstück Dorfstraße 9 a hätten die Kläger jedoch eine dingliche Anwartschaft auf Erwerb der Grunddienstbarkeit erworben, kraft derer der Vater des Beschwerdeführers verpflichtet gewesen sei, an der Eintragung des Geh- und Fahrrechts mitzuwirken. Dieses Anwartschaftsrecht stelle eine Belastung des dienenden Grundstücks Dorfstraße 9 dar und sei als solche mit dem Eigentum an dem Grundstück auf den Beschwerdeführer übergegangen. Der Beschwerdeführer habe das Grundstück - anders als es der Senat, bei vorbehaltener abschließender Prüfung und Beratung, in der mündlichen Verhandlung angedeutet habe - nicht nach § 892 Abs. 1 BGB gutgläubig lastenfrei erworben. Das Anwartschaftsrecht auf Erwerb der Grunddienstbarkeit sei zwar nicht aus dem Grundbuch ersichtlich gewesen, der Beschwerdeführer habe jedoch bei Erwerb des Grundstücks Dorfstraße 9 positive Kenntnis von der die Grunddienstbarkeit betreffenden Vereinbarung in dem Grundstückskaufvertrag vom 14. Oktober 1991 gehabt. Die den guten Glauben ausschließende Kenntnis von dem vereinbarten Geh- und Fahrrecht komme in einem vom Beschwerdeführer der beurkundenden Notarin im April 1994 übergebenen Schriftstück zum Ausdruck. Hätte der Beschwerdeführer die bindende Einigung zwischen seinem Vater und den Klägern über die Grunddienstbarkeit nicht gekannt, wäre er nicht in der Lage gewesen, die in dem Schriftstück enthaltenen detaillierten Forderungen und Stellungnahmen hinsichtlich der Grunddienstbarkeit zu formulieren. Da der Beschwerdeführer demnach mit dem Eigentum an dem Grundstück Dorfstraße 9 auch die Belastung mit dem Anwartschaftsrecht auf Erwerb der Grunddienstbarkeit erworben habe, hätten die Kläger Anspruch auf Bewilligung der Eintragung dieser Grunddienstbarkeit durch den Beschwerdeführer als jetzigen Grundstückseigentümer.

Das Oberlandesgericht setzte den Wert der Beschwer auf unter 60.000 DM fest und ließ die Revision nicht zu.

2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Hierzu trägt er im Wesentlichen vor:

Das Oberlandesgericht habe in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass es die Berufung zurückweisen werde. Es habe mit den Parteien jede einzelne in der Klage angesprochene Anspruchsgrundlage erörtert und zu jedem einzelnen Punkt zum Ausdruck gebracht, dass dieser die Klageforderung nicht begründe. Das Schriftstück, auf welches das Urteil gestützt sei, sei in keiner Weise Gegenstand dieser Erörterung gewesen. Das Oberlandesgericht habe gegen den Grundsatz des Verbots der Überraschungsentscheidung verstoßen und damit den Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Es habe nicht nur unterlassen, darauf hinzuweisen, dass sich aus dem genannten Schriftstück entscheidungserhebliche Tatsachen ergäben, sondern darüber hinaus eindeutig herausgestellt, dass es auf einen weiteren Vortrag des Beschwerdeführers zum gutgläubigen lastenfreien Erwerb nicht mehr ankomme. Das Gericht hätte in der Entscheidung von seiner in der mündlichen Verhandlung geäußerten Meinung nicht abweichen dürfen, ohne den Parteien durch einen entsprechenden Hinweis die Möglichkeit zu eröffnen, sich hierzu zu äußern.

Hätte das Gericht nicht die Unerheblichkeit weiteren Vortrags suggeriert, hätte der Beschwerdeführer ergänzend vorgetragen und Beweis dafür angeboten, dass er bei dem Erwerb des Grundstücks keine positive Kenntnis von dem Bestehen eines Anwartschaftsrechtes der Kläger oder auch nur der dieses begründenden Tatsachen gehabt habe. Der Beschwerdeführer hätte seinen Vater als Zeugen dazu benennen können, dass dieser ihm den Inhalt des notariellen Vertrages vom 14. Oktober 1991 nicht zugänglich gemacht, sondern ihn lediglich darüber informiert habe, dass die Kläger der Ansicht gewesen seien, dort sei eine Dienstbarkeit vereinbart worden. Des Weiteren hätte der Beschwerdeführer auch die beurkundende Notarin als Zeugin dafür benennen können, dass er dieser gegenüber nicht bekundet habe, den notariellen Vertrag zu kennen. Da gemäß § 892 Abs. 1 BGB nur positive Kenntnis zur Bösgläubigkeit führe, hätte das Oberlandesgericht die Berufung zurückweisen müssen.

3. Die Kläger des Ausgangsverfahrens halten die Verfassungsbeschwerde wegen fehlender Erschöpfung des Rechtswegs für unzulässig. Der Beschwerdeführer hätte gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Revision einlegen müssen. Diese wäre nicht offensichtlich unzulässig gewesen. Die Annahme, dass das Revisionsgericht von der Wertfestsetzung des Berufungsgerichts abgewichen wäre und eine 60.000 DM übersteigende Beschwer des Beschwerdeführers angenommen hätte, sei nicht abwegig.

Die Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 84, 188 <190 f.>; 86, 133 <144 ff.>).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Der Beschwerdeführer hat den Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erschöpft. Entgegen der Auffassung der Kläger des Ausgangsverfahrens war er nicht verpflichtet, zunächst gegen das angegriffene Urteil Revision einzulegen. Im Hinblick darauf, dass das Oberlandesgericht den Wert der Beschwer gemäß § 546 Abs. 2 ZPO auf unter 60.000 DM festgesetzt und die Revision nicht nach § 546 Abs. 1 ZPO zugelassen hatte, musste der Beschwerdeführer davon ausgehen, dass der Bundesgerichtshof die Revision als unzulässig verwerfen würde. Der Bundesgerichtshof wäre zwar an die Festsetzung des Werts der Beschwer durch das Berufungsgericht auf einen Betrag unterhalb der Revisionssumme nicht gebunden gewesen (vgl. BGH, NJW 1997, S. 1241). Im vorliegenden Fall bestehen jedoch keinerlei Anhaltspunkte da- für, dass das Oberlandesgericht, das von einem Streitwert von 20.000 DM ausgegangen ist, die Beschwer für den Beschwerdeführer zu niedrig festgesetzt hat. Der Beschwerdeführer konnte daher nicht damit rechnen, dass ein Antrag auf Heraufsetzung der Beschwer auf einen für die Statthaftigkeit der Revision erforderlichen Wert von über 60.000 DM beim Bundesgerichtshof Erfolg gehabt hätte.

2. Das Urteil des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.

a) Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleistet als Folgerung aus dem Rechtsstaatsgedanken den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegen- den Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 86, 133 <144> m.w.N.). Zwar ist das Gericht weder zu einem Rechtsgespräch noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet. Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss daher ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (vgl. BVerfGE 86, 133 <145> m.w.N.). Eine dem verfassungsrechtlichen Anspruch genügende Gewährleistung rechtlichen Gehörs setzt jedoch voraus, dass ein Verfahrensbeteiligter bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermag, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>). Erteilt das Gericht einen rechtlichen Hinweis zu einer entscheidungserheblichen Frage und entscheidet im Urteil entgegengesetzt, ohne die Verfahrensbeteiligten auf die Änderung der rechtlichen Beurteilung hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben zu haben, kommt dies der Verhinderung des erforderlichen Vortrags gleich (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1996, S. 3202).

b) Gemessen an diesen Grundsätzen hält die angegriffene Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

Das Oberlandesgericht hat, wie sich aus dem angegriffenen Urteil selbst ergibt, bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertreten, der Beschwerdeführer habe das Grundstück von seinem Vater nach § 892 Abs. 1 BGB gutgläubig lastenfrei erworben. Diese Äußerung des Gerichts ließ nur den Schluss zu, weiterer Vortrag zur Frage des gutgläubigen Erwerbs sei nicht erforderlich. Im Hinblick darauf brauchte auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nicht damit zu rechnen, dass das Gericht - ohne weiteren Hinweis - in dem Urteil zum gegenteiligen Ergebnis gelangen würde. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass sich das Oberlandesgericht - mit einer allgemein gehaltenen Formulierung - die abschließende Prüfung seiner in der mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsauffassung vorbehalten hatte. Das vom Oberlandesgericht letztlich für entscheidungserheblich erachtete Schriftstück war im Verlauf des Prozesses weder von den Parteien noch von der Vorinstanz in einen Zusammenhang zur Frage des gutgläubigen Erwerbs nach § 892 Abs. 1 BGB gebracht worden. Dass diesem Schriftstück maßgebliche Bedeutung zukommen sollte, war für den Beschwerdeführer somit nach Lage des Falles nicht vorhersehbar.

Das Oberlandesgericht hätte vor Erlass des Urteils gemäß §§ 523, 278 Abs. 3 ZPO auf die Änderung seiner in der mündlichen Verhandlung geäußerten Rechtsauffassung sowie auf die Entscheidungserheblichkeit des genannten Schriftstücks hinweisen und den Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zur Äußerung hierzu geben müssen. Dass es dies unterlassen hat, ist mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz eines fairen Verfahrens (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>) nicht zu vereinbaren und verletzt zugleich den Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

c) Das angegriffene Urteil beruht auch auf der festgestellten Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis gelangt wäre, wenn es ihm Gelegenheit gegeben hätte, sich zu der entscheidungserheblichen Frage des gutgläubigen lastenfreien Erwerbs zu äußern und seine Behauptung, er habe trotz des genannten Schriftsücks keine positive Kenntnis von der bindenden Einigung über die Bestellung der Grunddienstbarkeit gehabt, unter Beweis zu stellen. Das Urteil ist daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 93 c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG).

3. Gemäß § 34 a Abs. 2 BVerfGG sind dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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