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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 18.03.2005
Aktenzeichen: 1 BvR 143/05
Rechtsgebiete: SGB II


Vorschriften:

SGB II § 2 Abs. 1
SGB II § 2 Abs. 2
SGB II § 3
SGB II § 5
SGB II § 7
SGB II § 9 Abs. 1 Satz 2
SGB II § 9 Abs. 2
SGB II § 10 Abs. 1 Halbsatz 1
SGB II § 10 Abs. 2
SGB II § 11
SGB II § 12
SGB II § 14
SGB II § 15
SGB II § 16 Abs. 3
SGB II § 20
SGB II § 22
SGB II § 23
SGB II § 24
SGB II § 28
SGB II § 31
SGB II § 35
SGB II § 60
SGB II § 65 Abs. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
- 1 BvR 143/05 - - 1 BvR 444/05 - - 1 BvR 453/05 - - 1 BvR 454/05 - - 1 BvR 455/05 - - 1 BvR 456/05 - - 1 BvR 457/05 - - 1 BvR 458/05 - - 1 BvR 459/05 -

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

In dem Verfahren

über die Verfassungsbeschwerden

gegen § 2 Abs. 1 und 2, §§ 3, 5, 7, 9 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 10 Abs. 1 Halbsatz 1 und Abs. 2, §§ 11, 12, 14, 15, 16 Abs. 3, §§ 20, 22, 23, 24, 28, 31, 35, 60 und § 65 Abs. 4 des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch vom 24. Dezember 2003 (BGBl I S. 2954)

und Anträge der Beschwerdeführer zu 1. bis 8. auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Dr. P , Potsdam,

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, und die Richter Steiner, Gaier gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 18. März 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Die Anträge der Beschwerdeführer zu 1. bis 8. auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Dr. Purps, Potsdam, werden abgelehnt.

2. Die miteinander verbundenen Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Einbeziehung über 58 Jahre alter Bezieher von Arbeitslosenhilfe in die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 24. Dezember 2003 (BGBl I S. 2954, "Hartz IV").

I.

1. Nach § 428 Abs. 1 des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch (SGB III), zuletzt geändert durch das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2003 (BGBl I S. 2848), konnten Arbeitslose "unter erleichterten Voraussetzungen" Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe beziehen. Hierzu mussten sie gegenüber der für sie zuständigen Agentur für Arbeit erklären, nicht mehr arbeitsbereit zu sein und nicht mehr alle Möglichkeiten nutzen zu wollen, ihre Beschäftigungslosigkeit zu beenden. Nach § 428 Abs. 2 SGB III oblag ihnen, zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine abschlagfreie Altersrente in Anspruch zu nehmen. Unter diesen Umständen erhielten sie weiterhin Lohnersatzleistungen, obwohl sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung standen. Sie erhielten keine Vermittlungsvorschläge und keine Aufforderungen zu Trainings- oder anderen Eingliederungsmaßnahmen mehr und konnten sich für 17 statt drei Wochen jährlich ohne Genehmigung der Agentur für Arbeit in Urlaub begeben. Die Arbeitsverwaltung führte sie nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik. Den Beziehern von Arbeitslosenhilfe oblag es allerdings nach § 202 Abs. 1 SGB III a.F. auch ohne die Erklärung gemäß § 428 Abs. 1 SGB III, frühestmöglich eine abschlagfreie Rente zu beantragen. Die Rentenversicherungsbeiträge für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe wurden nach der Höhe dieser Leistung berechnet.

Zum 1. Januar 2005 hat der Gesetzgeber die Arbeitslosenhilfe abgeschafft. Erwerbsfähige Hilfebedürftige können nunmehr Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende in Anspruch nehmen. Nach § 65 Abs. 4 Satz 1 SGB II sind Arbeitsuchende ab Vollendung des 58. Lebensjahres auch hier leistungsberechtigt, selbst wenn sie dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen. Sie erhalten jedoch nur noch die Leistungen nach dem SGB II, also vor allem das Arbeitslosengeld II und die Kosten von Unterkunft und Heizung, soweit diese angemessen sind. Die Rentenversicherungsbeiträge, die der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende entrichten muss, werden nach einem pauschalen Satz von 400 € berechnet (vgl. § 166 Abs. 1 Nr. 2 a SGB VI n.F.).

2. Die Beschwerdeführer bezogen Arbeitslosenhilfe nach §§ 190 ff. SGB III. Sie sind älter als 58 Jahre. In den Jahren 2002 und 2003 gaben sie gegenüber ihren Agenturen für Arbeit schriftlich die Erklärungen nach § 428 Abs. 1 SGB III ab.

3. Inzwischen haben die Beschwerdeführer Bewilligungsbescheide nach dem SGB II erhalten. Die Leistungen sind zum Teil niedriger als ihre Arbeitslosenhilfe. In einigen Fällen sind sie höher; dazu hat der Träger der Grundsicherung allerdings mitgeteilt, die Kosten der Unterkunft nur für sechs Monate in voller Höhe zu übernehmen, weil sie nicht angemessen seien. Alle Beschwerdeführer haben Widerspruch erhoben.

4. Die Verfassungsbeschwerden richten sich unmittelbar gegen das SGB II.

a) Nach Auffassung der Beschwerdeführer ist es ihnen unzumutbar, zunächst den Rechtsweg zu den Sozialgerichten zu beschreiten, weil sie zu irreversiblen Dispositionen gezwungen seien. Sie müssten Vermögensgegenstände verkaufen, entgegen ihrer früheren Planung eine vorzeitige Altersrente mit erheblichen Abschlägen (vgl. § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a SGB VI) in Anspruch nehmen oder ihre bisherigen Wohnungen aufgeben.

b) Die Beschwerdeführer tragen vor, die jeweils zuständigen Agenturen für Arbeit hätten sie zur Unterzeichnung der Erklärungen nach § 428 Abs. 1 SGB III gedrängt. Einige von ihnen seien zu mehrtägigen Trainingsmaßnahmen geladen worden, auf denen man ihnen gesagt habe, sie müssten diese nicht absolvieren, wenn sie die Erklärung abgäben. In einem Fall habe die Agentur für Arbeit die Erteilung einer notwendigen Bescheinigung für das Sozialamt von der Abgabe der Erklärung abhängig gemacht. Zum Teil sei ihnen zugesagt worden, dass sie trotz der Erklärung Arbeitslosenhilfe bis zum Rentenbeginn weiter erhalten würden und keine Einbußen bei ihrer späteren Altersrente hinnehmen müssten. Aus diesen Gründen, so machen die Beschwerdeführer geltend, hätten sie ihre Erklärungen gegenüber den Agenturen für Arbeit als "Vereinbarungen" aufgefasst und auf den Fortbestand der bisherigen Leistungen vertraut. In diesem Vertrauen seien sie enttäuscht worden.

c) Die Beschwerdeführer halten zahlreiche Bestimmungen des SGB II für verfassungswidrig. Vor allem sei die Übergangsregelung des § 65 Abs. 4 SGB II nicht ausreichend.

5. Die Beschwerdeführer zu 1. bis 8. haben die Bewilligung von Prozesskostenhilfe und die Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten beantragt.

II.

Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden sind nicht gemäß § 93 a Abs. 2 BVerfGG zur Entscheidung anzunehmen. Sie sind unzulässig.

1. Die meisten der mit der Beschwerde angegriffenen Regelungen des SGB II betreffen die Beschwerdeführer nicht selbst, gegenwärtig und unmittelbar (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Zumindest ist eine solche Betroffenheit nicht ausreichend gemäß §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG dargelegt.

So greifen die Beschwerdeführer beispielsweise mit umfangreichen verfassungsrechtlichen Erwägungen die Regelungen über die Zumutbarkeit von Arbeit (§ 10 SGB II), über die Obliegenheit zur Annahme von Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung nach § 16 Abs. 3 SGB II ("1 €-Jobs"), über die Sanktionen bei Verstößen gegen die Eingliederungsvereinbarung oder bei der Verweigerung zumutbarer Arbeiten und Arbeitsgelegenheiten (§ 31 Abs. 1 bis 4 SGB II) an, insbesondere die entsprechenden Vorschriften für Arbeitsuchende zwischen 15 und 25 Jahren (§ 31 Abs. 5 SGB II). Diese Regelungen können für die Beschwerdeführer jedoch wegen ihres Alters und wegen der Übergangsregelung in § 65 Abs. 4 Satz 1 SGB II keine Bedeutung entfalten. Anders als die Beschwerdeführer befürchten, sind sie nach § 65 Abs. 4 Satz 2 SGB II auch auf Dauer und nicht nur bis zum 1. Januar 2006 von den Obliegenheiten nach dem SGB II befreit.

Soweit die Beschwerdeführer rügen, die Einkommens- und Freibeträge nach § 11 und § 12 SGB II reichten nicht aus, haben sie nicht dargelegt, dass und in welcher konkreten Höhe zu ihren Lasten Einkommen und Vermögen angerechnet worden ist. Gleiches gilt für ihre Rüge, die Regelungen nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II über die Anrechnung des Einkommens des Partners und die Haftung des Erben nach § 35 SGB II seien verfassungswidrig. Aus den Bewilligungsbescheiden, die zum Teil unvollständig eingereicht worden sind, ergibt sich vielmehr, dass nur in wenigen Fällen geringe Nebeneinkünfte und überhaupt kein Vermögen angerechnet worden sind. Ebenso haben die Beschwerdeführer nicht dargelegt, dass sie einen verstorbenen Empfänger von Leistungen nach dem SGB II beerbt hätten.

2. Die Beschwerdeführer sind auch im Übrigen nicht direkt betroffen. Eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz ist unzulässig, wenn dieses zu seiner Durchsetzung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis einen besonderen Vollziehungsakt vorsieht (vgl. BVerfGE 1, 97 <101 ff.>; 79, 174 <187 f.>). Das SGB II verlangt solche Vollziehungsakte in der Gestalt von Bescheiden über die Bewilligung von Leistungen. Die Beschwerdeführer haben jedoch nur die Regelungen des SGB II unmittelbar, nicht aber die inzwischen ergangenen Bewilligungsbescheide angegriffen.

3. Aber auch wenn angenommen wird, die Verfassungsbeschwerden richteten sich gegen die Bewilligungsbescheide, bleibt es bei der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde.

a) Insoweit haben die Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht erschöpft (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Soweit ihre Widersprüche gegen die Bewilligungsbescheide abgelehnt werden, können sie die zuständigen Sozialgerichte anrufen, wenn sie sich davon Erfolg versprechen (vgl. BVerfGE 69, 122 <125>). Darauf sind sie auch im Anwendungsbereich des SGB II zu verweisen (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 29. Oktober 2004, 1 BvR 2323/04; Beschluss vom 14. Februar 2005, 1 BvR 199/05; http://www.bverfg.de). Im Eilfall können sie dort einstweiligen Rechtsschutz beantragen.

b) Eine Vorabentscheidung nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ist nicht angezeigt.

aa) Zunächst haben die Beschwerdeführer nicht ausreichend dargelegt (§§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG), dass ihnen durch die Verweisung auf den Rechtsweg ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstände. Bei keinem von ihnen besteht die akute Gefahr, die bisherige Wohnung nicht mehr finanzieren zu können. Einbußen im Vermögen oder bei den zukünftig entstehenden Rentenanwartschaften gehören nicht zu den Gesetzesfolgen, die irreparabel sind.

bb) Selbst wenn ein solcher Nachteil besteht, scheidet eine Vorabentscheidung aus.

Auch wenn die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vorliegen, ist das Bundesverfassungsgericht zu einer Vorabentscheidung nicht verpflichtet. Es hat vielmehr alle für und gegen eine vorzeitige Entscheidung sprechenden Umstände abzuwägen (vgl. BVerfGE 8, 222 <226 f.>). Gegen eine Vorabentscheidung spricht es unter anderem, wenn die einfachrechtliche Lage und die tatsächlichen Auswirkungen einer gesetzlichen Regelung noch nicht ausreichend vorgeklärt sind und das Bundesverfassungsgericht daher genötigt wäre, auf ungesicherten Grundlagen weitreichende Entscheidungen zu treffen (vgl. BVerfGE 86, 15 <26 f.>). Eine solche rechtliche und tatsächliche Klärung ist Aufgabe der Fachgerichte (vgl. BVerfGE 69, 122 <125>). Dadurch ist gewährleistet, dass dem Bundesverfassungsgericht nicht nur die abstrakte Rechtsfrage, sondern auch die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch ein für die Materie speziell zuständiges Gericht unterbreitet wird (vgl. BVerfGE 74, 69 <74 f.>). Außerdem obliegt auch der Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen vorrangig den Fachgerichten (vgl. BVerfGE 77, 381 <401>). Insoweit dient § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG der grundgesetzlichen Aufgabenverteilung zwischen ihnen und dem Bundesverfassungsgericht. Die Regelung trägt dazu bei, den Rechtsschutz den besonderen Funktionen von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten entsprechend auszugestalten (vgl. BVerfGE 71, 305 <336 f.>; BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, NJW 2003, S. 2738 <2739>).

Aus diesen Gründen ist es auch bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende unabdingbar, dass die fachnahen Sozialgerichte die relevanten tatsächlichen und rechtlichen Fragen klären und die einzelnen Regelungen des SGB II verfassungsrechtlich überprüfen (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 29. Oktober 2004, 1 BvR 2323/04; Beschluss vom 14. Februar 2005, 1 BvR 199/05; http://www.bverfg.de). Dies gilt auch für die Anwendung des § 65 Abs. 4 SGB II. Hier kann es möglicherweise aufklärungsbedürftig sein, unter welchen Umständen die Erklärungen nach § 428 Abs. 1 SGB III zu Stande gekommen sind und ob die Agenturen für Arbeit den Betroffenen Zusagen gegeben haben. Diese Erkenntnisse sind nicht nur für die einfachrechtliche Frage erheblich, ob sich die Agenturen für Arbeit überhaupt und gegebenenfalls auch für den Fall einer Gesetzesänderung gebunden haben (vgl. § 34 Abs. 1 und 3 SGB X). Sie haben Relevanz auch für die verfassungsrechtliche Frage, ob sich die Betroffenen auf ein schutzwürdiges Vertrauen berufen können, das durch § 65 Abs. 4 SGB II möglicherweise nicht ausreichend geschützt ist.

4. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

5. Da die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen wurden, sind die Anträge der Beschwerdeführer zu 1. bis 8. auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Dr. Purps, Postdam, abzulehnen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.



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