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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 21.03.2006
Aktenzeichen: 1 BvR 1539/05
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 19 Abs. 4 | |
GG Art. 103 Abs. 1 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES
- 1 BvR 1539/05 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
gegen a) den Beschluss des Amtsgerichts Bad Iburg vom 15. Juni 2005 - 11 II 119/05 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Bad Iburg vom 15. April 2005 - 11 II 119/05 -,
c) den Beschluss des Amtsgerichts Bad Iburg vom 9. März 2005 - 11 II 119/05 -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung eines Rechtsanwalts
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs- gerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem am 21. März 2006 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Bad Iburg vom 9. März 2005, vom 15. April 2005 und vom 15. Juni 2005 - 11 II 119/05 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Bad Iburg zurückverwiesen.
Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung einer Rechtsanwältin.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen gerichtliche Entscheidungen, durch die der Beschwerdeführerin Beratungshilfe für ein sozialhilferechtliches Widerspruchsverfahren versagt wird.
I.
1. Die Beschwerdeführerin beantragte die Anerkennung eines besonderen Mehrbedarfs, der ihrer Mobilitätseinschränkung infolge einer Schwerbehinderung Rechnung trägt. Der Antrag wurde mit Schreiben vom 21. Januar 2005 zurückgewiesen. Hiergegen legte die Beschwerdeführerin am 17. Februar 2005 Widerspruch ein und kündigte eine Begründung des Widerspruchs an.
Am 18. Februar 2005 beantragte die Beschwerdeführerin beim Amtsgericht Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren. Mit Beschluss vom 9. März 2005 wurde der Antrag zurückgewiesen, da die Widerspruchsfrist versäumt sei. Gegen diesen Beschluss legte die Beschwerdeführerin Erinnerung ein. Zur Begründung führte sie aus, die Widerspruchsfrist sei nicht versäumt, da sie am 17. Februar 2005 Widerspruch eingelegt habe. Das Amtsgericht wies die Erinnerung unter Verweis auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses zurück. Die Gehörsrüge der Beschwerdeführerin, in der sie nochmals ihren Widerspruch anführte, wurde gleichfalls zurückgewiesen. Zur Begründung verwies das Amtsgericht wiederum auf die Gründe des Beschlusses vom 9. März 2005.
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG.
3. Der Landesregierung Niedersachsen wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zur Gewährung rechtlichen Gehörs sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantwortet (vgl. BVerfGE 60, 247 <249>; 70, 288 <293>; 83, 24 <35>; 96, 205 <216 f.>).
2. Die angefochtenen Beschlüsse verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Aus dem in jedem gerichtlichen Verfahren geltenden (vgl. BVerfGE 7, 53 <56 f.>; 75, 201 <215>) Anspruch auf rechtliches Gehör folgt für die Beteiligten eines solchen Verfahrens das Recht, sich vor Erlass der Entscheidung zu dem zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern (vgl. BVerfGE 60, 175 <210>; 64, 135 <143>). Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 60, 247 <249>; 70, 288 <293>; 83, 24 <35>; 96, 205 <216>). Grundsätzlich ist allerdings davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen insbesondere nicht jedes Vorbringen in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann deshalb nur dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles ergibt, dass das Gericht einer hieraus resultierenden Pflicht nicht nachgekommen ist (vgl. BVerfGE 70, 288 <293>; 96, 205 <216 f.>).
b) Nach diesen Maßstäben verletzen die angegriffenen Beschlüsse den verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör. Das Amtsgericht hat den im Erinnerungsverfahren und mit der Anhörungsrüge vorgebrachten Sachvortrag der Beschwerdeführerin, sie habe innerhalb der Widerspruchsfrist persönlich Widerspruch eingelegt, benötige jedoch zur Begründung dieses Widerspruchs anwaltliche Hilfe, offenkundig nicht berücksichtigt und damit nicht in Erwägung gezogen. Das ergibt sich daraus, dass das Gericht sich lediglich auf die Gründe des Beschlusses vom 9. März 2005 beruft. Hätte das Gericht den Vortrag der Beschwerdeführerin berücksichtigt, so hätte es in einer für die Beschwerdeführerin erkennbaren Weise zu dem Ergebnis kommen müssen, dass der ursprünglich genannte Grund für die Abweisung der Beratungshilfe unzutreffend war, da die Widerspruchsfrist nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin gerade nicht versäumt war. In der Folge hätte der Antrag auf Beratungshilfe allenfalls aus anderen Gründen zurückgewiesen werden können.
c) Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Amtsgericht bei Beachtung des Art. 103 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Insbesondere ergeben sich aus den vorliegenden Unterlagen keine Anhaltspunkte für eine mutwillige Rechtswahrnehmung, die nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHG die Gewährung von Beratungshilfe ausschließen würde.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 14 Abs. 1 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Ende der Entscheidung
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