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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 04.09.2000
Aktenzeichen: 1 BvR 1571/00
Rechtsgebiete: BVerfGG, SGG, SGB V, GG
Vorschriften:
BVerfGG § 32 Abs. 1 | |
BVerfGG § 93 d Abs. 2 | |
BVerfGG § 32 | |
SGG § 97 Abs. 3 | |
SGB V § 97 Abs. 4 | |
GG Art. 12 Abs. 1 | |
GG Art. 14 Abs. 1 | |
GG Art. 19 Abs. 4 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1571/00 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn T...
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Felix Wanke und Koll., Böhringer Straße 77, Radolfzell -
gegen
den Beschluss des Sozialgerichts Köln vom 20. Juli 2000 - S 19 KA 192/00 ER -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Kühling, die Richterin Jaeger und den Richter Hömig gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 4. September 2000 einstimmig beschlossen:
Tenor:
1. Die sofortige Vollziehung des Beschlusses des Berufungsausschusses für Ärzte - Psychotherapie - für den Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein - Nr. 176/99 - vom 12. April 2000 wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, angeordnet.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die einstweilige Anordnung zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung betrifft die bedarfsunabhängige Zulassung des Beschwerdeführers zur vertragsärztlichen Versorgung als Psychologischer Psychotherapeut.
1. Der Beschwerdeführer betreibt seit 11 Jahren eine eigene Praxis als Psychotherapeut. Er behandelt seit dieser Zeit überwiegend Patienten, die in der gesetzlichen Krankenversicherung versichert sind. Er ist mit Beschluss des Berufungsausschusses für Ärzte - Psychotherapie - für den Bezirk der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein vom 12. April 2000 zur vertragsärztlichen Versorgung als Psychologischer Psychotherapeut zugelassen worden. Hiergegen hat die Kassenärztliche Vereinigung Klage beim Sozialgericht erhoben, ohne diese bis heute zu begründen. Diese Klage hat aufschiebende Wirkung.
Den Antrag des Beschwerdeführers, die Vollziehung der Zulassungsentscheidung des Berufungsausschusses für Ärzte anzuordnen, hat das Sozialgericht abgelehnt, da kein öffentliches Interesse am Sofortvollzug bestehe. Durch die Zulassungen nach dem Psychotherapeutengesetz sei die Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten mit psychotherapeutischen Leistungen mehr als gesichert. Nur bei Vorliegen eines öffentlichen Interesses könne der Sofortvollzug durch das Gericht gemäß § 97 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes angeordnet werden, da der Berufungsausschuss für Ärzte gemäß § 97 Abs. 4 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs auch nur bei Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses die sofortige Vollziehung seiner Entscheidung anordnen könne. Das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung sei vorliegend erforderlich, obwohl für den Beschwerdeführer bei summarischer Prüfung Bestandsschutz gegeben sei.
2. Seine dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde und seinen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG begründet der Beschwerdeführer wie folgt:
Er sei in seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG verletzt, da er auf Grund der Entscheidung des Sozialgerichts seine Praxis schließen müsse. Da er im Wesentlichen im Rahmen der vertragspsychotherapeutischen Versorgung tätig sei, könne er angesichts der langen fachgerichtlichen Verfahrensdauer seinen Praxisbetrieb nicht aufrechterhalten. Art. 19 Abs. 4 GG sei verletzt, weil ihm durch das Sozialgericht kein einstweiliger Rechtsschutz gewährt worden sei, obwohl er durch die Schließung seiner Praxis einen nicht wieder gutzumachenden Schaden erleide.
II.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiliegen Anordnung hat Erfolg.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Wegen der meist weit tragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 94, 334 <347>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es bleibt dem Hauptverfahren vorbehalten zu klären, ob die Verweigerung der Anordnung der sofortigen Vollziehung durch das Sozialgericht insbesondere mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar ist (vgl. hierzu BVerfGE 93, 1 <13 f.>).
3. Die danach gebotene Folgenabwägung, führt vorliegend zu einem Überwiegen derjenigen Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, die die sofortige Vollziehung der Entscheidung des Berufungsausschusses vom 12. April 2000 anordnet.
Unterbliebe die Anordnung der sofortigen Vollziehung, hätte die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg, besteht die Gefahr, dass der Beschwerdeführer seine Praxis schließen müsste. Da die Klage vor dem Sozialgericht bis heute nicht begründet worden ist, ist weder absehbar, wann das Hauptsacheverfahren vor dem Sozialgericht entschieden sein wird, noch erkennbar, welche Gründe überhaupt gegen die Rechtmäßigkeit des den Beschwerdeführer begünstigenden Verwaltungsaktes von der Kassenärztlichen Vereinigung vorgebracht werden. Der Nachteil, der dem Beschwerdeführer durch die Schließung der Praxis droht, dürfte kaum wieder gutzumachen sein. Sofern er im Fall des Erfolges der Verfassungsbeschwerde von seiner Zulassung wieder Gebrauch machen wollte, müsste er seine Praxis neu aufbauen.
Sofern die sofortige Vollziehung angeordnet wird und die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg hätte, müsste die Kassenärztliche Vereinigung hinnehmen, dass der Beschwerdeführer seine Leistungen im Rahmen der vertragspsychotherapeutischen Versorgung bis zur Entscheidung in der Hauptsache erbringen und abrechnen kann. Das denkbare langfristige Ziel der Kassenärztlichen Vereinigung, die Zahl der zugelassenen Psychotherapeuten zu reduzieren, wird davon nicht berührt. Der Nachteil der vorübergehenden Teilnahme des Beschwerdeführers an der vertragspsychotherapeutischen Versorgung wiegt auch deshalb gering, weil die dem Beschwerdeführer erteilte Zulassung von den zuständigen Gremien geprüft ist und der Beschwerdeführer nicht etwa im einstweiligen Rechtsschutz von den Gerichten die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung begehrt.
Nach allem wiegen die Nachteile, die bei einer Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung drohen, schwerer als die nachteiligen Folgen, die auf Seiten der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein eintreten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erlassen wird, zumal es weitgehend bei dieser liegt, das Klageverfahren zügig zu betreiben und den Zeitraum, für den die vorläufige Regelung gilt, abzukürzen.
Ende der Entscheidung
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