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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 11.10.2007
Aktenzeichen: 1 BvR 1680/06
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 3 Abs. 1 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES
- 1 BvR 1605/06 - - 1 BvR 1680/06 - - 1 BvR 3034/06 - - 1 BvR 911/07 -
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
gegen 1. das Endurteil des Amtsgerichts München vom 24. Mai 2006 - 341 C 6517/06 -
- 1 BvR 1605/06 -,
2. das Endurteil des Amtsgerichts München vom 21. Juni 2006 - 341 C 5170/06 -
- 1 BvR 1680/06 -,
3. das Endurteil des Amtsgerichts München vom 6. September 2006 - 341 C 12355/06 -
- 1 BvR 3034/06 -,
4. das Endurteil des Amtsgerichts München vom 7. März 2007 - 341 C 36360/06 -
- 1 BvR 911/07 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Bryde, Eichberger, Schluckebier am 11. Oktober 2007 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Die Verfahren werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Die Urteile des Amtsgerichts München vom 24. Mai 2006 - 341 C 6517/06 -, vom 21. Juni 2006 - 341 C 5170/06 -, vom 6. September 2006 - 341 C 12355/06 - und vom 7. März 2007 - 341 C 36360/06 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sachen werden an das Amtsgericht München zurückverwiesen. Damit wird der Beschluss des Amtsgerichts München vom 20. November 2006 - 341 C 12355/06 - gegenstandslos.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfahren 1 BvR 1605/06 auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt, für die Verfahren 1 BvR 1680/06, 1 BvR 3034/06 und 1 BvR 911/07 jeweils auf 6.000 € (in Worten: sechstausend Euro).
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Nichtzulassung der Berufung in vier ähnlich liegenden Zivilrechtsstreiten.
1. Der Beschwerdeführer, ein Kraftfahrzeug-Sachverständiger, erstellte für Unfallgeschädigte Gutachten über die Höhe der Unfallschäden an deren Fahrzeugen. Er berechnete seine Vergütung nicht nach den aufgewandten Stunden, sondern pauschal und orientierte sich dabei an der Höhe des Gesamtschadens.
In drei Fällen (1 BvR 1605/06, 1 BvR 1680/06 und 1 BvR 3034/06) ließ sich der Beschwerdeführer zur Sicherung seines Vergütungsanspruchs den Schadensersatzanspruch seiner Auftraggeber gegen den Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer der Unfallgegner abtreten. Nach erfolgloser Geltendmachung seines Sachverständigenhonorars gegenüber seinen Auftraggebern ging er in diesen Fällen, gestützt auf die Abtretungen, direkt gegen den Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer der Schädiger vor und erhob Zahlungsklage. Im vierten Fall (1 BvR 911/07) verklagte der Beschwerdeführer seinen Auftraggeber auf Zahlung der Vergütung. Der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer des Schädigers trat dem Rechtsstreit auf Seiten des Auftraggebers als Streithelfer bei.
Der Streitwert erreichte in keinem der Ausgangsverfahren die so genannte Berufungssumme nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die geltend gemachten Forderungen lagen zwischen 232,29 € und 506,57 €.
Das Amtsgericht wies alle vier Klagen mit der im Kern gleichen Begründung ab, die Berechnung des Sachverständigenhonorars sei unsubstantiiert und die Forderung daher nicht fällig. Ein Sachverständiger könne lediglich Leistung nach Zeitaufwand verlangen, nicht nach der Höhe des von ihm ermittelten Schadens.
Im Blick auf die Frage der Zulassung der Berufung findet sich in den mit den Verfassungsbeschwerden 1 BvR 1605/06 und 1 BvR 1680/06 angegriffenen Urteilen lediglich die Wendung, von der Darstellung des Tatbestands werde abgesehen, weil das Urteil "nicht berufungsfähig" sei.
Das mit der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 3034/06 angegriffene Urteil verhält sich zur Zulassung der Berufung nicht, obwohl der Beschwerdeführer diese ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung ausdrücklich beantragt hatte. Zudem verkündete das Amtsgericht durch denselben Richter an dem Tag, an dem das Urteil im Ausgangsverfahren erging, zwei weitere Urteile mit ähnlicher Begründung. In jenen beiden Verfahren, in denen ebenfalls die Parteien des vorliegenden Ausgangsverfahrens stritten, ließ das Gericht die Berufung "zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung" zu. Einen Antrag des Beschwerdeführers nach § 321 ZPO auf Urteilsergänzung im Hinblick auf die unterlassene Entscheidung über die Berufungszulassung wies das Amtsgericht im Ausgangsverfahren zu 1 BvR 3034/06 mit Beschluss vom 20. November 2006 ab und hob zur Begründung - abweichend von der Feststellung im Protokoll der mündlichen Verhandlung - hervor, keine Partei habe vor Erlass des Urteils die Berufungszulassung beantragt.
In der im Verfahren 1 BvR 911/07 angegriffenen Entscheidung führte das Amtsgericht aus, die Berufung werde nicht zugelassen, weil der Berufungswert nicht erreicht sei. Im Übrigen sei, auch wenn unterschiedliche Rechtsmeinungen zu der Frage der Sachverständigenentschädigung bestünden, durch die Zulassung der Berufung eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung nicht zu erwarten.
2. Mit seinen Verfassungsbeschwerden rügt der Beschwerdeführer jeweils eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG in der Ausprägung als Willkürverbot. Das Amtsgericht weiche mit seiner Rechtsauffassung zur Unzulässigkeit einer an der Schadenshöhe orientierten Pauschalierung des Sachverständigenhonorars von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie des zuständigen Landgerichts ab. Die Berufung habe daher zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 511 Abs. 4 Satz 1 ZPO zwingend zugelassen werden müssen. Die im Ausgangsverfahren zu 1 BvR 911/07 aufgestellte Behauptung, auch bei einer Zulassung der Berufung sei eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung nicht zu erwarten, sei gleichfalls willkürlich.
3. Die Äußerungsberechtigten haben von der Möglichkeit einer Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung an und gibt ihnen statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c BVerfGG): Die entscheidungserheblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind vom Bundesverfassungsgericht geklärt (vgl. BVerfGE 96, 189 <203>; BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschlüsse vom 26. Mai 2004 - 1 BvR 2682/03 -, DAR 2004, S. 514 und - 1 BvR 172/04 -, NJW 2004, S. 2584), und die Verfassungsbeschwerden sind offensichtlich begründet.
1. Die angegriffenen Urteile verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als Willkürverbot.
a) Willkürlich ist ein Richterspruch, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist und bei dem sich daher der Schluss aufdrängt, er beruhe auf sachfremden Gründen. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen. Fehlerhafte Rechtsanwendung allein macht richterliche Erwägungen nicht willkürlich. Vielmehr liegt Willkür erst dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird, so dass die Entscheidung schlechterdings unvertretbar ist. Davon kann nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Rechtsauffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. BVerfGE 96, 189 <203>).
b) Nach diesem Maßstab steht die Nichtzulassung der Berufung in den angegriffenen Urteilen des Amtsgerichts mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht in Einklang; sie ist im Blick auf § 511 Abs. 4 ZPO unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar.
Nach § 511 Abs. 4 ZPO ist die Berufung durch das Gericht des ersten Rechtszugs unter anderem dann zuzulassen, wenn die Partei durch das Urteil mit nicht mehr als 600 € beschwert ist und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Hiervon ist auszugehen, wenn entweder Gerichte erster Instanz eine Rechtsfrage unterschiedlich entschieden haben oder das erkennende Gericht von einer obergerichtlichen Rechtsprechung abweichen will (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 26. Mai 2004 - 1 BvR 172/04 -, NJW 2004, S. 2584; Reichold, in: Thomas/Putzo, ZPO, 28. Aufl. 2007, § 511 Rn. 21).
So lag es hier. Zum einen hatten die Gerichte erster Instanz die nach Auffassung des Amtsgerichts maßgebende Frage unterschiedlich beantwortet, ob ein Sachverständiger - soweit vertraglich nichts anderes vereinbart wurde - sein Honorar konkret nach Zeitaufwand berechnen müsse (vgl. einerseits AG Dortmund, Urteil vom 7. Januar 1999 - 114 C 11293/98 -, NZV 1999, S. 254 f.; AG Schwerin, Urteil vom 8. Dezember 1998 - 10 C 3484/97 -, NJW-RR 1999, S. 510 f.; andererseits AG Achern, Urteil vom 28. Januar 1999 - 1 C 584/97 -, DAR 1999, S. 220; AG Essen, Urteil vom 7. Januar 1999 - 12 C 208/96 -, NZV 1999, S. 255 f.; AG Herne-Wanne, Urteil vom 13. November 1998 - 2 C 351/98 -, NZV 1999, S. 256 f.; AG Kassel, Urteil vom 3. März 2004 - 420 C 4145/03 -, VersR 2004, S. 1196 f.; zum früheren Streitstand Palandt/Grüneberg, BGB, 65. Aufl. 2006, § 315 Rn. 10 m.w.N.). Zum anderen weicht die Auffassung des Amtsgerichts von neueren, bereits vor den angegriffenen Urteilen ergangenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ab. Danach kann auch eine pauschale, an der Schadenshöhe orientierte Berechnung der Sachverständigenvergütung eine "übliche Vergütung" im Sinne des § 632 Abs. 2 BGB darstellen, falls eine entsprechende Übung weit verbreitet ist. Soweit eine übliche Vergütung nicht feststellbar und die danach bestehende Vertragslücke nicht durch ergänzende Vertragsauslegung zu schließen sei, komme eine einseitige Bestimmung der Gegenleistung durch den Kraftfahrzeug-Sachverständigen in Betracht. Mit einer an der Schadenshöhe orientierten angemessenen Pauschalierung des Honorars überschreite ein Sachverständiger nicht den ihm insoweit nach § 315 Abs. 1 BGB zustehenden Gestaltungsspielraum (vgl. BGH, Urteile vom 4. April 2006 - X ZR 80/05 -, NJW-RR 2007, S. 56 <57 f.> und - X ZR 122/05 -, NJW 2006, S. 2472 <2473 f.>; nach den Entscheidungen des Amtsgerichts in den Ausgangsverfahren zu 1 BvR 1605/06, 1 BvR 1680/06 und 1 BvR 3034/06 bestätigt durch: BGH, Urteil vom 10. Oktober 2006 - X ZR 42/06 -, NJW-RR 2007, S. 123 <124>; Urteil vom 23. Januar 2007 - VI ZR 67/06 -, NJW 2007, S. 1450 <1452>).
Auf die beiden vorstehend zuerst angeführten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs hatte der Beschwerdeführer das Amtsgericht in allen vier Ausgangsverfahren ausdrücklich hingewiesen. Das Amtsgericht wich hiervon ab, ohne sich mit den Entscheidungen auseinanderzusetzen. Unter diesen Umständen erweist sich jedenfalls die Nichtzulassung der Berufung als schlechterdings unvertretbar und damit objektiv willkürlich. Es lag angesichts der divergierenden Entscheidungen der Amtsgerichte und der abweichenden Auffassung des Bundesgerichtshofs in allen vier Verfahren auf der Hand, dass die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung die Zulassung der Berufung unausweichlich gebot. Das Amtsgericht hat § 511 Abs. 4 ZPO in krasser Weise verkannt. Das erhellt auch daraus, dass es sich in den mit den Verfassungsbeschwerden 1 BvR 1605/06 und 1 BvR 1680/06 angegriffenen Entscheidungen mit dem bloßen Hinweis begnügt hat, das Urteil sei "nicht berufungsfähig", obwohl der Beschwerdeführer ausdrücklich auf die abweichende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hingewiesen hatte. Im Verfahren 1 BvR 3034/06 kommt hinzu, dass das Amtsgericht einen ausdrücklich gestellten und protokollierten Antrag auf Zulassung der Berufung gänzlich überging, zeitgleich in zwei ähnlich liegenden Parallelverfahren - durch denselben Richter - die Berufung hingegen richtigerweise zuließ. In dem mit der Verfassungsbeschwerde 1 BvR 911/07 angegriffenen Urteil hat das Amtsgericht die Zulassung der Berufung schließlich mit der schlechthin unhaltbaren Begründung abgelehnt, eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung sei nicht zu erwarten. Diese Erwägung ist in Ansehung der Regelung des § 511 Abs. 4 ZPO nicht nachvollziehbar. Zwar ist der Amtsrichter nicht gehindert, auch in Zukunft entsprechend seiner Auffassung zur Berechnung einer Sachverständigenvergütung zu entscheiden. Er ist dann aber gehalten, die Berufung zuzulassen, so dass jedenfalls durch die Rechtsmittelentscheidung die Rechtsprechung vereinheitlicht werden kann. Diese Zulassung setzt unter den Voraussetzungen des § 511 Abs. 4 ZPO im Übrigen entgegen der Ansicht des Amtsgerichts den Antrag einer Partei nicht voraus. Dass das Amtsgericht durch denselben Richter in vier zeitnah entschiedenen und ähnlich liegenden Verfahren objektiv willkürlich die Berufung nicht zugelassen hat, deutet auf eine generelle Verkennung der Bedeutung des § 511 Abs. 4 ZPO hin.
2. Da die Entscheidungen des Amtsgerichts auf dem Grundrechtsverstoß beruhen, sind die angegriffenen Urteile gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sachen an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Der Beschluss des Amtsgerichts über den Urteilsergänzungsantrag des Beschwerdeführers wird damit gegenstandslos.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 RVG (vgl. dazu auch BVerfGE 79, 365).
Ende der Entscheidung
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