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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 02.09.2004
Aktenzeichen: 1 BvR 1860/02
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 14 Abs. 1 | |
GG Art. 2 Abs. 1 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES
- 1 BvR 1860/02 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
gegen a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz vom 22. August 2002 - 8 A 11014/02.OVG -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 28. Februar 2002 - 2 K 2562/01.NW -,
c) den Bescheid der Kreisverwaltung Südwestpfalz vom 13. September 2000 - VI/60/AB/1/99 - in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 4. September 2001 - KRA-Nr. 344/00 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Haas und den Richter Hoffmann-Riem am 2. September 2004 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz in Koblenz vom 22. August 2002 - 8 A 11014/02.OVG - verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 14 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Rheinland-Pfalz hat den Beschwerdeführern die Hälfte ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 50.000 € (in Worten: fünfzigtausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine baurechtliche Beseitigungsanordnung.
1. Die Beschwerdeführer sind Eigentümer eines Außenbereichsgrundstücks, auf dem sich unter anderem ein ungenehmigtes und nicht genehmigungsfähiges Wochenendhaus befindet. Das Grundstück liegt im Landkreis Südwestpfalz und damit im räumlichen Geltungsbereich der so genannten Pirmasenser Amnestie. Dabei handelt es sich um eine Verfügung der früheren Bezirksregierung der Pfalz an das Landratsamt Pirmasens vom 11. Juli 1967, wonach die Beseitigung bestehender Wochenendhäuser aus Gründen des allgemeinen Wohls nicht für geboten gehalten werde und die Bezirksregierung die stillschweigende Duldung dieser Bauten nicht beanstanden werde. Die Verwaltungspraxis in dem Landkreis orientierte sich in der Folgezeit an dieser Verfügung, so dass von der Rechtsprechung eine auf dem Gleichbehandlungsgebot beruhende Ermessensbindung angenommen wurde. Allerdings ging die Verwaltung zunächst weiterhin gegen an sich der Amnestie unterfallende Schwarzbauten vor, wenn an ihnen nach dem 1. Juli 1967 Bauarbeiten durchgeführt wurden, unabhängig davon, ob es sich um qualitative oder quantitative Veränderungen oder um bloße Unterhaltungs- oder Reparaturarbeiten handelte. Mit Urteil vom 8. September 1989 - 8 A 93/88 - entschied das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, dass sich aus der Pirmasenser Amnestie auch ein Vertrauensschutz darauf ergebe, dass der Amnestie grundsätzlich unterfallende Bauwerke auch nach Durchführung bestandserhaltender Maßnahmen geduldet würden. Die Duldung beziehe sich dagegen nicht auf darüber hinausgehende Arbeiten, die die am 1. Juli 1967 fertiggestellten Bauten erweiterten oder sonst in ihrem Äußeren oder ihrem Bauzustand veränderten, verbesserten oder in ihrer Funktionsfähigkeit erhöhten.
Die Beschwerdeführer erwarben das mit dem Wochenendhaus bebaute Grundstück im Jahr 1983. Das Haus verfügt über eine überdachte Terrasse mit drei das Terrassendach tragenden Holzstützen. Die Beschwerdeführer versahen die Holzstützen mit einer Vorrichtung, die es erlaubt, zwischen die Holzpfosten mobile Kunststofffenster einzuhängen.
Durch Bescheid des Landkreises Südwestpfalz vom 13. September 2000 wurden die Beschwerdeführer aufgefordert, unter anderem ihr Wochenendhaus zu beseitigen. Rechtsgrundlage für die Beseitigung sei § 81 Satz 1 Landesbauordnung (LBO) Rheinland-Pfalz. Das Gebäude sei im Widerspruch zu baurechtlichen Vorschriften errichtet worden; auf andere Weise als durch den Abbruch könne ein rechtmäßiger Zustand nicht hergestellt werden. Die Beschwerdeführer könnten sich auch nicht auf die Pirmasenser Amnestie berufen. Sie hätten bereits nicht nachgewiesen, dass das Gebäude vor 1967 errichtet worden sei. Zudem seien die von ihnen durchgeführten baulichen Veränderungen als amnestieschädliche Maßnahmen zu würdigen. Nach erfolgloser Durchführung des Widerspruchsverfahrens erhoben die Beschwerdeführer Klage, die sie unter anderem darauf stützten, dass das Haus vor 1967 errichtet worden sei und an ihm auch keine amnestieschädlichen Maßnahmen vorgenommen worden seien. Sie hätten lediglich herausnehmbare Plastikelemente zwischen die Holzpfosten eingehängt. Diese würden nur benutzt, wenn sie sich im Haus aufhielten und es regne. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 28. Februar 2002 ab und führte in seiner Begründung insbesondere aus, die Beschwerdeführer hätten bereits nicht nachgewiesen, dass die rechtswidrigen Anlagen bereits im Jahr 1967 vorhanden gewesen seien. Zum anderen hätten sie so genannte amnestieschädliche Maßnahmen vorgenommen.
Das Oberverwaltungsgericht lehnte den Antrag der Beschwerdeführer auf Zulassung der Berufung bezüglich des Wochenendhauses ab. Die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils unterläge keinen ernstlichen Zweifeln. Das Verwaltungsgericht habe zu Recht die Ermessensausübung des Beklagten unbeanstandet gelassen. Dabei sei es auf weitere Ermittlungen zum Errichtungszeitpunkt des Hauses nicht angekommen. Ein etwaiger Vertrauensschutz sei durch amnestieschädliche Maßnahmen der Beschwerdeführer entfallen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats gewähre die "Pirmasenser Amnestie" für vor dem 1. Juli 1967 im Außenbereich errichtete Schwarzbauten nur solange bei der Ermessensausübung zu berücksichtigenden Vertrauensschutz, als an diesen lediglich Arbeiten zur Erhaltung des im Januar 1968 vorhandenen Zustandes durchgeführt worden seien. Alle darüber hinausgehenden Arbeiten, die den Baubestand erweiterten oder sonst veränderten, verbesserten oder die Funktionsfähigkeit erhöhten, ließen den Schutz des Vertrauens auf die weitere Duldung der illegalen Bauten entfallen. Bei der Schließung der überdachten Terrasse durch holzgerahmte Plexiglaselemente handele es sich um eine derartige, amnestieschädliche Maßnahme. Dadurch sei die bis dahin offene Terrasse in einen nach drei Seiten umschlossenen Raum nach Art eines Wintergartens verwandelt worden. Dies habe zu einer Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes und einer deutlichen Funktionsverbesserung des Hauses geführt. Ungeachtet der Möglichkeit der gelegentlichen Entfernung der Glasscheiben handele es sich um eine Maßnahme zur dauerhaften Funktionsverbesserung des vorhandenen Baubestandes. Der Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, eine Beschränkung der Beseitigungsverfügung auf die Glaselemente in Betracht zu ziehen. Dies reiche zur Herstellung rechtmäßiger Zustände nicht aus, da die Existenz des gesamten Wochenendhauses rechtswidrig sei. Die Pirmasenser Amnestie bewirke keine Legalisierung des seinerzeit vorhandenen Baubestandes, sondern lediglich eine Beschränkung der baupolizeilichen Möglichkeiten, hiergegen einzuschreiten. Nach Wegfall dieser Beschränkungen durch Änderungen am amnestiefähigen Gebäude könne gegen dieses insgesamt eingeschritten werden. Auch die weiteren von den Beschwerdeführern für maßgeblich gehaltenen Umstände (Errichtung des Hauses durch Rechtsvorgänger, Geringfügigkeit der Änderungen, jahrzehntelange Existenz des Hauses) müssten nicht berücksichtigt werden. Bei Erlass einer Beseitigungsanordnung sei auf persönliche Verhältnisse des Adressaten kein Bedacht zu nehmen. Auch die Dauer des baurechtswidrigen Zustandes entbinde die Bauaufsichtsbehörde nicht von ihrer Aufgabe, rechtmäßige Zustände herzustellen. Der Umfang der vorgenommenen Änderungen sei ebenfalls für die Ermessensausübung irrelevant, da nicht er die Baurechtswidrigkeit des Hauses begründe und daher keinen Bezug zum Zweck der Ermächtigung aufweise.
2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Nur aufgrund des Umstandes, dass sie lose Elemente in die Terrasse eingestellt hätten, werde die Beseitigung des gesamten Hauses angeordnet. Dies verstoße gegen das Übermaßverbot.
3. Das Land Rheinland-Pfalz, der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts sowie der Beklagte des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde wird in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang gemäß § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführer aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt ist. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts, wonach an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils, welches die Rechtmäßigkeit der Abbruchsanordnung festgestellt hat, keine ernsthaften Zweifel bestehen, verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 GG.
a) Der Beschluss berührt den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Dies folgt bereits daraus, dass die Beschwerdeführer durch die auf § 81 LBO Rheinland-Pfalz gestützte Abbruchsanordnung verpflichtet werden, das Gebäude zu beseitigen, und damit in das Eigentum an der tatsächlich vorhandenen Gebäudesubstanz eingegriffen wird.
b) § 81 LBO Rheinland-Pfalz stellt eine verfassungsmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums dar. Die Gerichte haben bei der Auslegung und Anwendung dieser Inhalts- und Schrankenbestimmung Bedeutung und Tragweite der Eigentumsgarantie nach Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu beachten. Sie müssen bei ihren Entscheidungen der verfassungsrechtlichen Anerkennung des Privateigentums sowie seiner Sozialpflichtigkeit gleichermaßen Rechnung tragen und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (vgl. BVerfGE 102, 1 <18>). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordert, dass eine Maßnahme zur Erreichung des von ihr verfolgten Zwecks geeignet und erforderlich ist sowie dass die Belastung des Eigentümers in einem angemessenen Verhältnis zu den mit der Regelung verfolgten Interessen steht.
c) Zweck der vorliegenden Anordnung ist die Herstellung eines baurechtmäßigen Zustands. Zur Erzielung dieses Zwecks ist die Verfügung geeignet und erforderlich. Insbesondere reicht hierfür die Beseitigung der nachträglich angebrachten Fensterelemente nicht aus, weil dies an der baurechtlichen Unzulässigkeit des Gebäudes insgesamt nichts ändert.
Die Beseitigungsanordnung stellt jedoch unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls eine unangemessene Belastung der Beschwerdeführer dar. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in dem Gebiet, in dem das Grundstück liegt, baurechtswidrige Wochenendhäuser, die vor dem 1. Juli 1967 errichtet worden sind, grundsätzlich geduldet werden. Dadurch wird zum Ausdruck gebracht, dass in diesem Gebiet in der Regel kein die Eigentümerposition überwiegendes öffentliches Interesse an der Beseitigung eines unter die "Amnestie" fallenden Gebäudes besteht.
Zwar kann ein Interesse der Öffentlichkeit daran bestehen, eine weitere Intensivierung des baurechtswidrigen Zustands zu verhindern und daher eine Funktionsverbesserung der nur geduldeten Wochenendhäuser zu unterbinden. Jedenfalls dann, wenn die Funktionsverbesserung auf einer geringfügigen baulichen Veränderung beruht, die sich leicht rückgängig machen lässt, kann dieses Interesse aber nur die Beseitigung der nachträglich vorgenommenen Veränderungen tragen, nicht jedoch den Abbruch des gesamten Hauses begründen.
d) Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts beruht auf der festgestellten Verletzung des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Er ist daher aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93 c Abs. 2, § 95 BVerfGG).
2. Nicht zur Entscheidung anzunehmen ist die Verfassungsbeschwerde, soweit die Beschwerdeführer das Urteil des Verwaltungsgerichts und den Bescheid der Kreisverwaltung Südwestpfalz in Gestalt des Widerspruchsbescheids angreifen. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil sie nicht dem Darlegungsgebot der §§ 23, 92 BVerfGG genügt. Gegen die tragende Erwägung dieser Entscheidungen, es sei bereits nicht dargelegt worden, dass das Wochenendhaus unter den zeitlichen Anwendungsbereich der Pirmasenser Amnestie falle, haben die Beschwerdeführer keine verfassungsrechtlichen Rügen vorgebracht.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Da die Verfassungsbeschwerde nur zum Teil zur Entscheidung angenommen wird, erscheint es angemessen, den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen nur zur Hälfte zu erstatten.
4. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit ergibt sich aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Ende der Entscheidung
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