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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 20.09.1999
Aktenzeichen: 1 BvR 2048/96
Rechtsgebiete: ZPO, GKG, BVerfGG


Vorschriften:

GG Art. 1 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2048/96 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

der am 4. August 1997 verstorbenen Frau T...,

fortgeführt von dem Alleinerben Herrn T...

gegen

a) den Beschluß des Landgerichts Hannover vom 23. August 1996 - 8 T 205/96 -,

b) den Kostenfestsetzungsbeschluß des Amtsgerichts Hannover vom 29. Mai 1996 - 539 C 8336/95 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Papier und die Richter Grimm, Hömig

am 20. September 1999 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluß des Landgerichts Hannover vom 23. August 1996 - 8 T 205/96 - und der Kostenfestsetzungsbeschluß des Amtsgerichts Hannover vom 29. Mai 1996 - 539 C 8336/95 - verletzen die verstorbene Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Das Land Niedersachsen hat dem Alleinerben der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Tragung von Gerichtskosten durch eine im Zivilrechtsstreit unterlegene Partei, der Prozeßkostenhilfe bewilligt worden war.

I.

1. Die Beschwerdeführerin wurde von ihrem Vermieter auf Zustimmung zu einem Mieterhöhungsverlangen verklagt. Ihr wurde für diesen Rechtsstreit Prozeßkostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt. Nach Erholung eines vom Kläger beantragten Sachverständigengutachtens gab das Amtsgericht durch Urteil der Klage in vollem Umfang statt und erlegte der Beschwerdeführerin die Kosten des Rechtsstreits auf.

Mit dem angegriffenen Kostenfestsetzungsbeschluß setzte das Amtsgericht den von der Beschwerdeführerin an den Kläger zu erstattenden Betrag auf 2.390,90 DM fest. Hierin enthalten waren von dem Kläger vorab verauslagte Gerichtskosten in Höhe von 1.896,40 DM, wovon 1.626,40 DM die Entschädigung für den Sachverständigen betrafen.

Die Beschwerdeführerin wandte sich mit ihrer gegen den Kostenfestsetzungsbeschluß gerichteten sofortigen Beschwerde dagegen, trotz der Bewilligung von Prozeßkostenhilfe Gerichtskosten tragen zu müssen. Das Landgericht wies dieses Rechtsmittel als unbegründet zurück: Grundsätzlich bestimme § 123 ZPO, daß die Bewilligung von Prozeßkostenhilfe keinerlei Einfluß auf die Verpflichtung zur Erstattung der dem Gegner entstandenen Kosten und Auslagen habe. Eine Verpflichtung der Staatskasse, den vom Kläger bezahlten Vorschuß an diesen zurückzuzahlen, ergebe sich insbesondere nicht aus § 58 Abs. 2 Satz 2 Gerichtskostengesetz (GKG). Diese Vorschrift setze ihrem klaren Wortlaut nach voraus, daß die Haftung eines anderen Kostenschuldners zu einem Zeitpunkt im Raum stehe, in dem die Partei, der Prozeßkostenhilfe bewilligt worden sei, bereits Entscheidungsschuldnerin nach § 54 Nr. 1 GKG geworden sei. Nur diese Haftung dürfe nicht mehr geltend gemacht werden, bereits erfolgte Zahlungen hätten demgegenüber unberücksichtigt zu bleiben.

2. Mit ihrer fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Die Auferlegung der Gerichtskosten trotz Bedürftigkeit und Bewilligung von Prozeßkostenhilfe stelle faktisch eine Rechtswegsperre dar. Es verstoße gegen das Willkürverbot, der Beschwerdeführerin die Kosten für das Sachverständigengutachten aufzubürden, weil nicht sie, sondern der Prozeßgegner die Beweislast getragen habe. Beweisbelastete, aber vorschußbefreite Bedürftige hätten dem Gegner keine Sachverständigenvorschüsse zu erstatten. Bei verfassungskonformer Auslegung des § 58 Abs. 2 GKG sei die Staatskasse verpflichtet, dem obsiegenden Kläger die Vorschüsse zurückzuzahlen.

3. Die Beschwerdeführerin ist im Laufe des Verfassungsbeschwerde-Verfahrens verstorben. Die Verfassungsbeschwerde wird von ihrem Sohn als Alleinerben fortgeführt.

4. Das Bundesministerium der Justiz, das Niedersächsische Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten, der Präsident des Bundesgerichtshofs sowie der Kläger des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits hinreichend geklärt (vgl. BVerfGE 99, 129 <139>; Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. Juni 1999 - 1 BvR 984/89 -).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist - abgesehen von der unsubstantiierten Rüge einer Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG - zulässig. Der Alleinerbe der Beschwerdeführerin kann das Verfassungsbeschwerde-Verfahren weiterführen, weil es sich im Ausgangsverfahren um finanzielle Ansprüche handelt (vgl. BVerfGE 26, 327 <332>).

2. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen die verstorbene Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG.

a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes vor, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden keine Unterschiede solcher Art und solchen Gewichts bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Eine solche Grundrechtsverletzung kann nicht nur vom Gesetzgeber begangen werden. Sie liegt vielmehr auch dann vor, wenn die Gerichte im Wege der Auslegung gesetzlicher Vorschriften zu einer dem Gesetzgeber verwehrten Differenzierung gelangen (vgl. BVerfGE 99, 129 <139>).

b) Im Ausgangsverfahren haben die Gerichte § 58 Abs. 2 Satz 2 GKG dahingehend ausgelegt, daß sich die Vorschrift nur auf im Zeitpunkt der Kostenentscheidung noch nicht bezahlte Gerichtskosten bezieht, nicht aber auf von dem Prozeßgegner der mittellosen Partei bereits verauslagte Gerichtskosten. Diese Auslegung entspricht einer gefestigten Rechtsprechung (vgl. nur BGH, Rpfleger 1989, S. 376; OLG Hamm, MDR 1994, S. 104; OLG Düsseldorf, MDR 1997, S. 106 f.). Sie führt jedoch zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von mittellosen Klägern und Beklagten, denen Prozeßkostenhilfe bewilligt worden ist.

aa) Ein unbemittelter Kläger, dem Prozeßkostenhilfe (ohne Zahlungsanordnung nach § 120 ZPO) bewilligt worden ist, muß selbst dann, wenn er den Prozeß verliert und die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat, regelmäßig keine Gerichtskosten zahlen. Dem Prozeßgegner (Beklagten) muß er keine Gerichtskosten erstatten, weil dieser insoweit keinen Erstattungsanspruch nach § 123 ZPO hat. Denn der Beklagte ist gemäß § 122 Abs. 2 ZPO von der Zahlung der Gerichtskosten grundsätzlich befreit und wird vom Staat gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 GKG auch nicht als Zweitschuldner in Anspruch genommen. Der Staatskasse muß der Kläger keine Gerichtskosten zahlen, weil er nach § 122 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a ZPO von der Zahlung befreit ist.

Demgegenüber muß ein unbemittelter Beklagter, dem Prozeßkostenhilfe bewilligt worden ist, nach der von den Gerichten im Ausgangsverfahren vertretenen Auffassung im Unterliegensfall die Gerichtskosten tragen. In dieser Konstellation ist der (bemittelte) Kläger verpflichtet, die mit Einreichung der Klage fällige Gebühr für das Verfahren im allgemeinen (§§ 61, 65 GKG) sowie gegebenenfalls im Laufe des Rechtsstreits anfallende weitere Auslagenvorschüsse, insbesondere für Zeugen und Sachverständige (§§ 402, 379 Satz 2 ZPO, § 68 GKG), zu zahlen, weil § 122 Abs. 2 ZPO in diesem Fall nicht gilt. Obsiegt der Kläger, hat er nach der herrschenden Auffassung, die § 58 Abs. 2 Satz 2 GKG nur auf noch nicht bezahlte Kosten anwendet, keinen Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse hinsichtlich der bereits verauslagten Kosten. Die Erstattungspflicht des Beklagten nach § 123 ZPO umfaßt deshalb auch diese Zahlungen.

bb) Zwischen einem unbemittelten Kläger und einem unbemittelten Beklagten bestehen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, daß sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen könnten. Vielmehr lassen sich für die vorgenommene Differenzierung keine tragfähigen sachlichen Gründe finden. Insbesondere kann das Anliegen, eine mutwillige Prozeßführung oder Manipulationen zu Lasten der Staatskasse zu verhindern, die Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen (vgl. Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 1999 - 1 BvR 984/89 -, Umdruck S. 7 ff.).

cc) Die ungerechtfertigte Schlechterstellung der mittellosen Beschwerdeführerin gegenüber einem mittellosen Kläger hätten die Gerichte im Wege der verfassungskonformen Auslegung von § 58 Abs. 2 Satz 2 GKG vermeiden müssen.

Der Wortlaut von § 58 Abs. 2 Satz 2 GKG steht einer verfassungskonformen Auslegung dahingehend, daß auch die bereits vom Kläger verauslagten Gerichtskosten von der Vorschrift erfaßt werden, nicht entgegen. § 58 Abs. 2 Satz 2 GKG bestimmt, daß die Haftung eines anderen Kostenschuldners (durch die Staatskasse) nicht geltend gemacht werden soll, soweit einem Kostenschuldner, der auf Grund von § 54 Nr. 1 GKG (als Entscheidungsschuldner) haftet, Prozeßkostenhilfe bewilligt worden ist. Die Vorschrift unterscheidet mithin nicht zwischen Gerichtskostenansprüchen der Staatskasse, die vor oder nach der Kostenentscheidung geltend gemacht werden.

Auch aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt sich nicht zwingend, daß die bereits verauslagten Gerichtskosten von § 58 Abs. 2 Satz 2 GKG nicht erfaßt sein sollen. Vielmehr spricht die Gesetzesbegründung dafür, daß der Gesetzgeber mit § 58 Abs. 2 Satz 2 GKG den Schutz der mittellosen Partei umfassend ausgestalten wollte (vgl. BTDrucks 7/2016, S. 79).

Der verfassungskonformen Auslegung steht auch nicht entgegen, daß sie eine Rückerstattungspflicht der Staatskasse hinsichtlich schon verauslagter Gerichtskostenvorschüsse gegenüber einem obsiegenden Kläger, dessen Prozeßgegner Prozeßkostenhilfe bewilligt worden ist, bedingt. Aus der fehlenden gesetzlichen Regelung eines solchen Rückerstattungsanspruchs der obsiegenden Partei kann nicht geschlossen werden, der Gesetzgeber habe sie ausschließen wollen. Insoweit fehlt es in den Gesetzgebungsmaterialien an einem hinreichenden Anhaltspunkt. Es ist deshalb von einer Regelungslücke auszugehen, die durch analoge Anwendung von § 2 Abs. 4 GKG mit der Anerkennung eines entsprechenden Rückerstattungsanspruchs geschlossen werden kann (vgl. Beschluß der 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 1999 - 1 BvR 984/89 -, Umdruck S. 9).

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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