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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 21.08.2009
Aktenzeichen: 1 BvR 2104/06
Rechtsgebiete: FGG, GG, LFGG BW


Vorschriften:

FGG § 68 Abs. 3
FGG § 68b
GG Art. 13
LFGG BW § 37 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In dem Verfahren

...

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts

durch

die Richterin Hohmann-Dennhardt und

die Richter Gaier, Kirchhof

am 21. August 2009

einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Amtsgerichts Nürtingen vom 7. Juli 2006 - XVII 275/06 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes.

2. Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zulässigkeit der Gestattung der Anwendung einfacher Gewalt und der gewaltsamen Öffnung und des Betretens der Wohnung zum Zwecke der Vorführung zu einer amtsärztlichen Untersuchung zur Prüfung der Notwendigkeit der Anordnung einer Betreuung.

1.

Auf die Anregung der Kinder der Beschwerdeführerin im Juni 2006, für diese wegen ihres Ausgabeverhaltens eine Betreuung einzurichten, führte der als Vormundschaftsgericht handelnde Notar (§ 1, § 36, § 37 Abs. 1 Nr. 5 des baden-württembergischen Landesgesetzes über die freiwillige Gerichtsbarkeit - LFGG BW) mit der Beschwerdeführerin ein Gespräch. In dessen Verlauf bekundete die Beschwerdeführerin - unter Hinweis auf die im Jahr 2002 abgelehnte Anordnung einer Betreuung und ein im September 2002 erstelltes nervenärztliches Gutachten zur Frage ihrer Prozessfähigkeit - ihre fehlende Bereitschaft, sich für die Erstellung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens amtsärztlich untersuchen zu lassen. Für diesen Fall kündigte der Notar die Vorlage an das nach § 37 Abs. 1 Nr. 5 LFGG BW zuständige Amtsgericht an, damit dieses kläre, ob es zur Vorbereitung des Gutachtens einer Vorführung bedürfe. Der Bevollmächtigte der Beschwerdeführerin bestätigte in dem mit dem Notariat geführten Telefongespräch das fehlende Einverständnis der Beschwerdeführerin, sich untersuchen zu lassen.

Hierauf ordnete das Amtsgericht mit Beschluss vom 7. Juli 2006 an, dass die Beschwerdeführerin zum Zwecke ihrer amtsärztlichen Untersuchung zur Prüfung der Notwendigkeit der Anordnung einer Betreuung dem Gesundheitsamt durch die zuständige Behörde vorzuführen sei (Ziffer 1), und gestattete der zuständigen Behörde, einfache Gewalt anzuwenden, die Wohnung der Beschwerdeführerin gewaltsam zu öffnen und gegen ihren Willen zu betreten sowie polizeiliche Vollzugsorgane um Unterstützung nachzusuchen (Ziffer 2), weil hinreichende Anhaltspunkte dafür bestünden, dass für die Beschwerdeführerin zumindest in Teilbereichen eine Betreuung einzurichten sei. Endgültig könne dies erst durch Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens überprüft und entschieden werden. Die Beschwerdeführerin sei bisher nicht bereit, freiwillig ihrer Untersuchung zuzustimmen, weshalb nach § 68 Abs. 3 FGG ihre Vorführung sowie die zur Durchführung erforderlichen Maßnahmen anzuordnen seien. Mildere Mittel zum Schutz der Beschwerdeführerin stünden ersichtlich nicht zur Verfügung.

Der hiergegen gerichteten Beschwerde half das Amtsgericht unter anderem unter Hinweis auf das Fehlen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschwerdeführerin nicht ab. Das Landgericht Stuttgart verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 3. August 2006.

In seinem Sachverständigengutachten vom November 2006 wie auch in dem auf Betreiben der Kinder eingeholten Nachgutachten vom Februar 2007 vermochte der Gutachter keine für eine Betreuung relevante psychische Erkrankung der Beschwerdeführerin zu erkennen. Das Betreuungsverfahren wurde hiernach nicht weiter betrieben.

2.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 7. Juli 2006 rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 13 Abs. 1 GG sowie ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Amtsgericht hätte sie vor Anordnung der Vorführung anhören und ihre gegen die Begutachtung angeführten Einwendungen beachten müssen. Vor Erlass einer Durchsuchung müsse eine Anhörung des Betroffenen erfolgen. Art. 13 GG sei verletzt. Nach Art. 13 Abs. 2 GG könnten Durchsuchungen durch einen Richter nur aufgrund gesetzlicher Ermächtigung angeordnet werden. Dabei habe eine Durchsuchung jedoch Ausnahmecharakter. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass eine Vorführung nicht mit einer Wohnungsdurchsuchung verbunden sei. Dies gelte auch für § 68 Abs. 3 FGG.

3.

Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Bundesministerium der Justiz und der Landesregierung Baden-Württemberg zur Stellungnahme zugestellt.

Das Bundesministerium der Justiz hat in seiner Stellungnahme unter anderem ausgeführt, § 68b FGG werde aufgrund des FGG-Reformgesetzes vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586) mit Wirkung zum 1. September 2009 durch § 283 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) abgelöst. Künftig solle der Betroffene vor der Entscheidung über die Vorführung zur Untersuchung "persönlich" angehört werden (§ 283 Abs. 1 Satz 2 FamFG). Diese Vorschrift werde zudem künftig in Absatz 3 Satz 1 eine ausdrückliche Regelung zum Betreten der Wohnung enthalten. Der Gesetzgeber habe damit die obergerichtliche Rechtsprechung, die eine Betretensanordnung bereits aus § 68b Abs. 3 FGG ableite, aufgegriffen und ausdrücklich durch eine Klarstellung im Gesetz bestätigt.

Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen.

II.

Die Kammer gibt der Verfassungsbeschwerde statt.

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 13 Abs. 1 GG geboten (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind.

1.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere liegt ein Rechtsschutzbedürfnis der Beschwerdeführerin vor, obwohl die Anordnung der Vorführung der Beschwerdeführerin und die Gestattung des gewaltsamen Betretens ihrer Wohnung inzwischen aufgrund der nicht förmlichen Beendigung des Betreuungsverfahrens nach Erstellung des Sachverständigengutachtens ins Leere geht. Ein fortwirkendes Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin ist unter dem Gesichtspunkt eines schweren Grundrechtseingriffs im Hinblick auf die von ihr gerügte Verletzung von Art. 13 Abs. 1 GG gegeben.

2.

Der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts vom 7. Juli 2006 verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG.

a)

Die von den Fachgerichten getroffenen tatsächlichen Feststellungen und die von ihnen im Einzelnen vorgenommene Abwägung hat das Bundesverfassungsgericht nicht nachzuprüfen. Ebenso ist es grundsätzlich den Fachgerichten überlassen, welchen verfahrensrechtlichen Weg sie wählen, um zu den für ihre Entscheidung notwendigen Erkenntnissen zu gelangen (vgl. BVerfGE 79, 51 <62> ). Der verfassungsgerichtlichen Prüfung unterliegt jedoch, ob fachgerichtliche Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts beruhen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.> ).

b)

Der Begriff der Wohnung im Sinne des Art. 13 GG ist weit zu verstehen (vgl. BVerfGE 32, 54 <68 ff.> ). Das Grundrecht normiert für die öffentliche Gewalt ein grundsätzliches Verbot des Eindringens in die Wohnung oder des Verweilens darin gegen den Willen des Wohnungsinhabers (vgl. BVerfGE 65, 1 <40>). Mit der durch Art. 13 Abs. 1 GG garantierten Unverletzlichkeit der Wohnung wird dem Einzelnen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden.

In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 42, 212 <219 f.> ; 59, 95 <97> ; 96, 27 <40> ; 103, 142 <150 f. >). Eine Durchsuchung bedarf nach Art. 13 Abs. 2 GG einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage (vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, 53. Aufl. 2009, Art. 13 Rn. 21) und ist grundsätzlich nur zulässig, wenn vorher eine entsprechende richterliche Anordnung ergangen ist (vgl. BVerfGE 51, 97 <105 ff.> ).

Die prinzipielle Unverletzlichkeit der Wohnung wird weiter in Art. 13 Abs. 7 GG dadurch gesichert, dass "Eingriffe und Beschränkungen", die nicht "Durchsuchungen" sind, nur unter ganz bestimmten, genau umschriebenen Voraussetzungen vorgenommen werden dürfen. Bei Wohnräumen im engeren Sinn entspricht diese strenge Begrenzung der zulässigen Eingriffe dem grundsätzlichen Gebot unbedingter Achtung der Privatsphäre des Bürgers (vgl. BVerfGE 32, 54 <73> ).

c)

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Maßstäbe hält der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Dies gilt sowohl dann, wenn man mit der fachgerichtlichen Rechtsprechung und Literatur (vgl. KG, Beschluss vom 14. Mai 1996 - 1 W 2379/96, 1 W 2380/96 -, NJW 1997, S. 400 <401>; OLG Hamm, Beschluss vom 20. Juni 1996 - 15 W 143/96 -, FamRZ 1997, S. 440 <441>; ohne nähere Begründung BayObLG, Beschluss vom 20. Januar 1994 - 3Z BR 316, 317 und 320/93 -, FamRZ 1994, S. 1190; Sonnenfeld, in: Jansen, FGG, 3. Aufl., Bd. 2, 2005, § 68b Rn. 48) in der Gestattung der gewaltsamen Öffnung und des Betretens der Wohnung zum Zwecke der Vorführung zu einer Begutachtung in Betreuungsverfahren die Erlaubnis zu einer Durchsuchung im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG sieht, als auch bei Annahme, hierbei handele es sich um einen Eingriff und eine Beschränkung im Sinne des Art. 13 Abs. 7 GG.

(1)

Der Beschluss des Amtsgerichts vom 7. Juli 2006 genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine Durchsuchung nicht. § 68b Abs. 3 Satz 1 FGG stellt für die Erlaubnis zu einer Durchsuchung keine Rechtsgrundlage dar. Weder der Wortlaut der Vorschrift des § 68b Abs. 3 Satz 1 FGG, der allein von einer Vorführung spricht, noch die Entstehungsgeschichte lassen erkennen, dass vom Regelungszweck ein Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte Wohnung umfasst sein soll.

(2)

Auch wenn man in der Gestattung der gewaltsamen Öffnung und des Betretens der Wohnung zum Zwecke der Vorführung zu einer Begutachtung in Betreuungsverfahren keine Durchsuchung sieht, genügt die angegriffene Entscheidung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Art. 13 Abs. 7 GG fordert für Eingriffe und Beschränkungen, die nicht von Art. 13 Abs. 2 - 5 GG erfasst sind, eine spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage, es sei denn, sie dienen der Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen. Eine solche Ermächtigungsgrundlage kann in § 68b Abs. 3 Satz 1 FGG mit den vorgenannten Gründen nicht gesehen werden. Auch Anhaltspunkte, die die Annahme einer gemeinen Gefahr oder Lebensgefahr gerechtfertigt hätten, sind vom Gericht weder angeführt worden, noch sind solche im Entscheidungszeitpunkt ersichtlich gewesen.

(3)

Im Übrigen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt. Das Eindringen staatlicher Organe und ihrer Gehilfen bedeutet regelmäßig einen schweren Eingriff in die persönliche Lebenssphäre des Betroffenen. Durch die Art des Verfahrens und insbesondere durch ausreichende Anhörung des Betroffenen muss sichergestellt sein, dass diesem nur diejenige Beeinträchtigung seiner Persönlichkeitssphäre zugemutet wird, die bei Beachtung der berechtigten Anforderungen einer geregelten Rechtspflege nach seinen eigenen Bedürfnissen als die geringfügigste erscheint (vgl. BVerfGE 75, 318 <328> ). Hiervon geht auch die Fachgerichtsbarkeit aus (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1981 - VII ZB 9/81 -, BGHZ 82, 271 <272> ).

Das Amtsgericht hat die Beschwerdeführerin vor Erlass der Vorführungsanordnung und der Gestattung der gewaltsamen Öffnung und des Betretens ihrer Wohnung nicht angehört. Gründe, die ein Absehen von der Anhörung ausnahmsweise rechtfertigen könnten, sind der angegriffenen Entscheidung nicht zu entnehmen. Weder ist eine frühere Vorführung der Beschwerdeführerin gescheitert, noch sind den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts Anhaltspunkte zu entnehmen, die die Annahme rechtfertigten, die Beschwerdeführerin werde sich einer Vorführung entziehen. Allein aus der erklärten Weigerung der Beschwerdeführerin, sie stimme einer erneuten Begutachtung nicht zu, kann nicht geschlossen werden, sie werde sich der Begutachtung durch ein Verbergen in ihrer Wohnung entziehen.

Dieses hat das Amtsgericht in seiner Entscheidung verkannt.

d)

Im Hinblick auf die festgestellte Erledigung bleibt für die Aufhebung der amtsgerichtlichen Anordnung kein Raum. Die Entscheidung beschränkt sich deshalb auf die Feststellung einer Verletzung des Grundgesetzes (BVerfGE 42, 212 <222> ).

3.

Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Die Festsetzung des Werts des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 ).

Ende der Entscheidung

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