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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 29.08.2005
Aktenzeichen: 1 BvR 2138/03
Rechtsgebiete: BVerfGG, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 34 a Abs. 2
BVerfGG § 93 d Abs. 1 Satz 3
GG Art. 19 Abs. 4
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES

- 1 BvR 2138/03 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. September 2003 - 7 LA 42/03 -

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier und die Richter Steiner, Gaier am 29. August 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. September 2003 - 7 LA 42/03 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.

2. Das Land Niedersachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf Zulassung der Berufung wegen Fristversäumnis.

I.

1. Die Beschwerdeführerin wandte sich als Klägerin des Ausgangsverfahrens gegen eine Verfügung, durch die ihr der Handel mit Gebraucht- und Neufahrzeugen wegen Unzuverlässigkeit untersagt worden war. Der Beklagte hatte zur Begründung für die Untersagung ausgeführt, nicht die Beschwerdeführerin selbst, sondern ihr Ehemann, dem durch bestandskräftigen Bescheid auf Dauer die selbständige Ausübung eines Gewerbes untersagt worden war, leite den Betrieb. Nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchsverfahren wies das Verwaltungsgericht die Klage der Beschwerdeführerin ab. Das Urteil wurde der Beschwerdeführerin am 23. Januar 2003 zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 24. Februar 2003, einem Montag, beantragte die Beschwerdeführerin durch ihren damaligen Prozessbevollmächtigten die Zulassung der Berufung. Der Schriftsatz wurde vom Geschäftsstellenbeamten des Verwaltungsgerichts mit dem Eingangsstempel vom 25. Februar 2003 versehen. Auf den daraufhin erteilten Hinweis des Oberverwaltungsgerichts, der Antrag auf Zulassung der Berufung sei verspätet, gab der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführerin eine eidesstattliche Versicherung mit dem Inhalt ab, er habe den Schriftsatz am 24. Februar 2003 gegen 14.00 in das Gerichtsfach, welches das Verwaltungsgericht beim Amtsgericht unterhalte, eingeworfen. Das Fach habe keinerlei Hinweise auf Leerungszeiten enthalten. Er sei davon ausgegangen, dass das Fach noch am selben Tag geleert würde. Hilfsweise beantragte er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Mit einem späteren Schriftsatz erfolgte eine umfangreiche Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung.

Mit Beschluss vom 9. September 2003 wies das Oberverwaltungsgericht den Antrag auf Zulassung der Berufung zurück und führte aus, der Antrag sei wegen Verfristung unzulässig; die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor. Mit der Einlegung des Schriftsatzes in das Gerichtsfach des Verwaltungsgerichts beim Amtsgericht sei die Frist nicht gewahrt worden. Für die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines fristwahrenden Schriftstücks sei allein entscheidend, dass es innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelange. Unterhalte ein Gericht bei einem anderen Gericht ein Gerichtsfach (Postaustauschfach) wie hier das Verwaltungsgericht beim Amtsgericht, so komme es darauf an, ob das Gericht, an welches das Schriftstück gerichtet sei, bereits mit dem Einwurf in das Austauschfach die tatsächliche Verfügungsgewalt erhalte. Dies hänge davon ab, ob das Schriftstück unter Ausschluss einer fortbestehenden Zugriffsmöglichkeit des Absenders oder Beförderers in den Gewahrsam des Gerichts gelange. Vorliegend handele es sich um ein Fach mit einer 3,5 cm hohen Einwurföffnung, das täglich durch Bedienstete des Verwaltungsgerichts am frühen Vormittag geleert werde. Auch das Amtsgericht besitze einen Schlüssel. Unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten könne von einer ausschließlichen tatsächlichen Verfügungsgewalt des Verwaltungsgerichts bereits mit Einwurf in das Fach nicht ausgegangen werden. Abgesehen davon, dass auch das Amtsgericht über einen Schlüssel verfüge, sei nach der Beschaffenheit des Fachs nicht auszuschließen, dass ein eingelegtes Schriftstück von dem Absender oder einem Dritten wieder entnommen werden könne. Dies gelte jedenfalls dann, wenn das Fach zu einer gewissen Höhe gefüllt sei. Die relativ hohe Einwurföffnung erlaube den Zugriff jedenfalls auf die im oberen Bereich des Fachs liegenden Schriftstücke. Insofern unterscheide sich das Fach von Einrichtungen wie einem in einem Gericht vorhandenen Briefkasten oder von einem Post- oder Postschließfach, das typischerweise nur von Bediensteten des jeweiligen Gerichts geöffnet werden könne und den Zugriff sonstiger Personen nicht erlaube. Ein Wiedereinsetzungsgrund liege nicht vor, weil sich die Beschwerdeführerin das Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen müsse.

2. Die Beschwerdeführerin macht mit ihrer Verfassungsbeschwerde eine Verletzung ihrer Verfassungsrechte aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Sie trägt vor, der Antrag auf Zulassung der Berufung sei fristgerecht in die Verfügungsgewalt des Verwaltungsgerichts gelangt. Das Oberverwaltungsgericht argumentiere insoweit in sachwidriger Weise mit Umständen, die sich "hinter" dem Gerichtsfach abspielten. Das Verwaltungsgericht habe mit Einlegung des Schriftsatzes in das Gerichtsfach am Tag des Fristablaufs gegen 14.00 die Möglichkeit gehabt, vom Inhalt des Schriftsatzes Kenntnis zu nehmen. Auch sei das äußere Erscheinungsbild des Gerichtsfachs geeignet, bei Rechtsuchenden einen Vertrauenstatbestand dahingehend zu schaffen, dass für das Verwaltungsgericht bestimmte Schriftsätze von diesem mit fristwahrender Wirkung entgegengenommen würden.

3. Dem niedersächsischen Justizministerium und dem Gegner des Ausgangsverfahrens wurde Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Das Justizministerium hat auf eine Stellungnahme verzichtet. Der Gegner des Ausgangsverfahrens hat sich der Argumentation des Oberverwaltungsgerichts angeschlossen und hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Verfassungsrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 40, 42 <44>; 52, 203 <209>; 57, 117 <120>). Die Verfassungsbeschwerde ist auch zulässig und begründet.

Die angegriffene Entscheidung verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat - für den Rechtsweg gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt gestützt auf Art. 19 Abs. 4 GG, für Zivilprozesse aufgrund des allgemeinen Gebots rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung - den Grundsatz entwickelt, dass der Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden darf. Der Bürger ist insbesondere berechtigt, die ihm vom Gesetz eingeräumten prozessualen Fristen bis zu ihrer Grenze auszunutzen (vgl. BVerfGE 40, 42 <44>; 41, 323 <328>; 69, 381 <385>). Für die Rechtzeitigkeit des Eingangs eines fristwahrenden Schriftstücks ist allein entscheidend, dass es innerhalb der Frist tatsächlich in die Verfügungsgewalt des Gerichts gelangt (vgl. BVerfGE 52, 203 <209>; 57, 117 <120>; 69, 381 <385 f.>). Dabei kommt es weder auf das Ende der Dienstzeit (vgl. BVerfGE 41, 323 <327>; 42, 128 <131 f.>) noch auf die fristgerechte Entgegennahme durch den zuständigen Bediensteten der Geschäftsstelle an (vgl. BVerfGE 52, 203 <209>; 57, 117 <120>). Etwaige Fristversäumungen, die auf Verzögerungen der Entgegennahme der Sendung durch das Gericht beruhen, dürfen dem Bürger nicht angelastet werden (vgl. BVerfGE 44, 302 <306>; 69, 381 <386>). Gerade in Fristfragen muss für den Rechtsuchenden klar erkennbar sein, was er zu tun hat, um einen Rechtsverlust zu vermeiden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 7. Mai 1991, NJW 1991, S. 2076).

Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Zwar ist das Oberverwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass es für die Frage nach dem fristwahrenden Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung darauf ankommt, ob der am 24. Februar 2003 erfolgte Einwurf in das vom Verwaltungsgericht beim Amtsgericht unterhaltene Fach die Verfügungsgewalt des Verwaltungsgerichts begründet (vgl. BVerfGE 52, 203 <209>). Unter Zugrundelegung der Sachdarstellung der Beschwerdeführerin, von der auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen ist, ist diese Frage aber zu bejahen.

Bei dem hier in Rede stehenden Gerichtsfach des Verwaltungsgerichts handelt es sich um ein verschlossenes Behältnis, das eine mit einem Hausbriefkasten vergleichbar hohe Einwurföffnung von 3,5 cm besitzt und das - wie sich aus den vom Gegner des Ausgangsverfahrens vorgelegten Lichtbildern ergibt - durch ein in die Außenseite eingelassenes Schloss gesichert ist. Damit ist bei normalem Lauf der Dinge ein einmal eingelegtes Schriftstück dem Zugriff des Absenders oder anderer Unbefugter entzogen, so dass das Verwaltungsgericht mit dem Einlegen in das Fach die Verfügungsgewalt über das Schriftstück erlangt. Zwar kann nicht vollkommen ausgeschlossen werden, dass ein fingerfertiger Absender entsprechend den Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts bei hinreichend hoher Befüllung des Fachs in der Lage ist, ein Dokument wieder aus dem Fach herauszuholen. Die Möglichkeit einer unbefugten Entnahme kann aber hier nicht als Kriterium gegen die Erlangung der Verfügungsgewalt durch das Verwaltungsgericht herangezogen werden. Dies gilt schon deshalb, weil sonst der Absender zunächst einmal eventuelle Manipulationsmöglichkeiten prüfen müsste, um sichergehen zu können, dass sein Schriftstück im Zeitpunkt des Einlegens zugegangen ist. Im konkreten Fall müsste er etwa seine Hand versuchsweise in die Öffnung des Fachs stecken und versuchen, das eingelegte Schriftstück wieder herauszuziehen. Die "probeweise Manipulation" eines Gerichtsfachs, das wie im vorliegenden Fall durch ein außen angebrachtes Schloss ersichtlich gerade vor einer unbefugten Entnahme von Schriftstücken geschützt werden soll, ist dem Absender aber nicht zumutbar. Dass neben dem Verwaltungsgericht auch das Amtsgericht einen Schlüssel zu dem Fach besitzt, ändert ebenfalls nichts daran, dass das Verwaltungsgericht mit dem Einwurf in das Fach Gewahrsam an den eingeworfenen Schriftstücken erlangt. Bei der Frage, wer einen Schlüssel zu dem Fach besitzt, handelt es sich ebenso wie bei der Frage, wer konkret für die Leerung des Fachs zuständig ist und zu welcher Zeit diese erfolgt, um eine Maßnahme der internen Gerichtsorganisation, auf die der Bürger keinen Einfluss hat und die daher für den fristgerechten Eingang von Schriftstücken nicht entscheidend ist (vgl. BVerfGE 52, 203 <210>).

Die Rechtsansicht des Oberverwaltungsgerichts erschwert der Beschwerdeführerin in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise den Zugang zur Berufungsinstanz. Bei der von ihm vertretenen Auslegung des Begriffs der Verfügungsgewalt ist für den Bürger nicht mehr klar erkennbar, was er tun muss, um einen Rechtsverlust durch Fristablauf zu vermeiden. Die vom Oberverwaltungsgericht vertretene Ansicht führt dazu, dass das Verwaltungsgericht durch die oben schon genannten organisatorischen Maßnahmen den Rahmen, innerhalb dessen die Rechtsmitteleinlegung möglich ist, selbst bestimmen kann. Die Entscheidung, ob eine Rechtsmittelfrist gewahrt ist, ergibt sich dann nicht mehr allein aus dem Gesetz, sondern aus internen Anordnungen der Gerichtsverwaltung über Leerungszeiten oder Schlüsselbesitz. Dies ist mit den eingangs genannten Grundsätzen, insbesondere auch unter Berücksichtigung von Aspekten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, nicht mehr vereinbar (vgl. auch BVerfGE 52, 203 <210>).

Die angegriffene Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts beruht auf dem Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG, da nicht ausgeschlossen ist, dass die Berufung der Beschwerdeführerin andernfalls zugelassen worden wäre. Die Entscheidung war demnach aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BVerfGG).

Ob die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts unter Verletzung des Rechts auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zustande gekommen ist, bedarf keiner Erörterung, da sie bereits wegen des erfolgten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG aufzuheben ist.

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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