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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 27.09.2000
Aktenzeichen: 1 BvR 2176/98
Rechtsgebiete: GewO, BVerfGG, HwO, GG


Vorschriften:

GewO § 55 Abs. 1 Nr. 1
GewO § 55
BVerfGG § 90 Abs. 1
BVerfGG § 93 c Abs. 1
BVerfGG § 34 a Abs. 2
HwO § 1
GG Art. 12 Abs. 1
GG Art. 14 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1
GG Art. 20
GG Art. 103 Abs. 2
GG Art. 12
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2176/98 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

des Herrn B...

- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Hilke Böttcher, Paul-Sorge-Straße 142g, Hamburg -

gegen

a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. Oktober 1998 - 2 Ws (B) 498/98 OWiG -,

b) das Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 18. Dezember 1997 - 706 Js 28020.5/97 372 OWi -

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Kühling, die Richterin Jaeger und den Richter Hömig

am 27. September 2000 einstimmig beschlossen:

Tenor:

1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. Oktober 1998 - 2 Ws (B) 498/98 OWiG - und das Urteil des Amtsgerichts Kassel vom 18. Dezember 1997 - 706 Js 28020.5/97 372 OWi - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben.

Das Verfahren wird an das Amtsgericht Kassel zurückverwiesen.

2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlich zulässige Grenzziehung zwischen Reisegewerbe und stehendem Gewerbe im Handwerk.

1. Dem Beschwerdeführer wurde in der Zeit, als er noch Steinmetzgeselle war (die Meisterprüfung bestand er im Juli 1998), im Landkreis K. 1994 eine Reisegewerbekarte für das Aufsuchen von Bestellungen und Anbieten von Steinarbeiten und Arbeiten am Bau, die damit in Zusammenhang stehen, ausgestellt. Die Reisegewerbekarte war mit dem Hinweis versehen, dass Arbeiten im stehenden Gewerbe nicht ausgeübt werden dürfen. Gegen einen ihm 1997 zugestellten Bußgeldbescheid wegen unzulässigen selbständigen Ausübens des Steinmetz- und Steinbildhauer-Handwerks nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Schwarzarbeitsgesetzes legte der Beschwerdeführer Einspruch ein.

Mit Urteil vom 18. Dezember 1997 verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Schwarzarbeitsgesetzes zu einer Geldbuße in Höhe von 5.000 DM wegen Verstößen im Zeitraum vom 6. Juni 1995 bis 1. Januar 1996. Dem Beschwerdeführer wurde zur Last gelegt, dass er zwar um Aufträge nachgesucht, mit der Ausführung der Arbeiten aber erst zu einem später vereinbarten Zeitpunkt begonnen habe. Das Anbieten einer Leistung im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 der Gewerbeordnung (im Folgenden: GewO) setze aber die Bereitschaft und Fähigkeit zur sofortigen vollständigen Ausführung eines Auftrages, zumindest aber zur Erbringung von wesentlichen Teilleistungen voraus, wobei die sofortige Vornahme vorbereitender Arbeiten nicht genüge (vgl. VGH Ba-Wü, GewArch 1995, S. 475 <476 f.>). Die dem Beschwerdeführer angelasteten Tätigkeiten unterfielen auch nicht dem Minderhandwerk, das nach § 1 Abs. 1 und 2 der Handwerksordnung (im Folgenden: HwO) keiner Eintragung in die Handwerksrolle bedürfe. Die Arbeiten wie "Abstrahlen/Reinigen und Ausfugen eines Sandsteinsockels eines Fachwerkhauses"; "Erstellen einer Sandsteinmauer, Ausarbeiten von Winkel- und Laibungsflächen bei Fenstern, Garagentor und Hausecken; Arbeiten von Anschlagpfalzen und Fensterbank; Fugenarbeiten"; "Sanierung eines Sandsteinsockels und einer Mauer am Wohnhaus, Einbau von Außenfensterbänken aus Sandstein ..."; "Umfangreiche Steinmetz-Sanierungsarbeiten im Rahmen der Renovierung des Hauses ..."; "Treppenbauarbeiten aus unterschiedlichen Natursteinmaterialien im Innen- und Außenbereich"; "Kleinere Reparaturarbeiten ..." zählten zum Vollhandwerk. Der Beschwerdeführer habe das Handwerk als stehendes Gewerbe und nicht als Reisegewerbe betrieben.

Mit seiner Rechtsbeschwerde vor dem Oberlandesgericht hatte der Beschwerdeführer keinen Erfolg.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die gerichtlichen Entscheidungen und rügt die Verletzung seiner Rechte aus Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 sowie aus Art. 103 Abs. 1 und 2 GG. Er vertritt die Auffassung, die Restauration müsse als Minderhandwerk angesehen werden. Im Übrigen sei er seinem Beruf im Reisegewerbe nachgegangen. § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass ein Aufsuchen von Bestellungen auf Leistungen auch dann vorliege, wenn die Leistung in einem gewissen zeitlichen Abstand erfolge. Art. 20 und Art. 103 Abs. 2 GG seien verletzt, weil die Bestrafung nicht aufgrund gesetzlicher Regelung, sondern aufgrund unerlaubter Rechtsfortbildung erfolgt sei. Das Gericht habe seine Auffassung im Wesentlichen rückwirkend auf die geänderte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (GewArch 1995, S. 475) gestützt, die im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze finde.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben Stellung genommen die Bundesregierung, die Hessische Staatskanzlei, das Bundesverwaltungsgericht, der Deutsche Industrie- und Handelstag, der Bundesinnungsverband des Steinmetz-, Stein- und Holzbildhauerhandwerks, der Zentralverband des Deutschen Handwerks, der Berufsverband unabhängiger Handwerkerinnen und Handwerker e.V., der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, der Verbraucherschutzverein e.V. und die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände e.V.

a) Die Bundesregierung und die Hessische Staatskanzlei halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. § 55 GewO trage dem Schutzbedürfnis des Kunden gegenüber einem Gewerbetreibenden ohne feste Niederlassung Rechnung, indem die Ausübung einer reisegewerblichen Tätigkeit einer Erlaubnispflicht unterworfen und die Reisegewerbekarte nur bei persönlicher Zuverlässigkeit des Antragstellers erteilt werde. Ausgehend von dieser Zielrichtung sei der Begriff des Reisegewerbes nicht zu eng auszulegen, andererseits dürfe er aber auch nicht überdehnt werden. Die Initiative müsse von dem Gewerbetreibenden, nicht dem Kunden ausgehen. Bei extensiver Auslegung des Merkmals "Aufsuchen von Bestellungen auf Leistungen" wäre es weitgehend bedeutungslos, dass zum Anbieten einer Leistung im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO die sofortige Leistungsbereitschaft gehöre.

b) Das Bundesverwaltungsgericht hat auf seine bisherige Rechtsprechung verwiesen.

c) Nach der Stellungnahme des Deutschen Industrie- und Handelstages ist bereits zweifelhaft, ob alle vom Beschwerdeführer ausgeführten Tätigkeiten dem Vollhandwerk zugeordnet werden können. Im Übrigen regele § 55 GewO den Verkauf von Waren im Reisegewerbe und das Erbringen von Dienstleistungen gleichartig. Art. 3 und Art. 12 GG geböten daher, den Absatz von Waren und das Erbringen von Dienstleistungen im Reisegewerbe gleich zu behandeln. Das Anbieten der Leistung bedeute entsprechend dem Feilbieten von Waren, dass die Tätigkeit sofort durchgeführt werden solle. Bei dem Aufsuchen von Bestellungen auf Leistungen werde die Leistung hingegen nicht sofort erbracht, sondern erst später. Der zeitliche Abstand zwischen der Bestellung und der Ausführung der Leistung dürfe nach der Systematik des § 55 GewO nicht mit dem Begriff der "vorhergehenden Bestellung" vermischt werden. Dieses Kriterium betreffe nur die Frage, ob die Initiative zunächst vom Kunden oder vom Gewerbetreibenden ausgehe.

d) Nach Ansicht des Bundesinnungsverbandes des Steinmetz-, Stein- und Holzbildhauerhandwerks hat die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg. Bei den streitgegenständlichen Tätigkeiten handele es sich nicht um Minderhandwerk. Die Arbeiten bedürften auch überwiegend der Vorbereitung in einer Werkstatt, so dass der Beschwerdeführer sein Handwerk im stehenden Gewerbe ausgeübt haben müsse.

e) Der Zentralverband des Deutschen Handwerks und der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Zwar könnten grundsätzlich im Reisegewerbe auch vollhandwerkliche Tätigkeiten ausgeführt werden. Der Ausübung vollhandwerklicher Tätigkeiten im Reisegewerbe seien jedoch aus faktischen Gründen Grenzen gesetzt. Alle handwerklichen Leistungen, deren Ausführung aus technischen Gründen nur in Verbindung mit einer festen Betriebsstätte möglich seien, könnten nicht Gegenstand eines Reisegewerbes sein. Dem Schutzzweck des § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO entspreche es zwar, die der Vertragserfüllung vorangehende Tätigkeit - wie das Aufsuchen einer Bestellung - dem Recht des Reisegewerbes zu unterwerfen, nicht aber bei Erbringung der Leistung die Vorschriften der Handwerksordnung außer Betracht zu lassen.

f) Der Berufsverband unabhängiger Handwerkerinnen und Handwerker e.V. hält die Verfassungsbeschwerde für begründet. § 55 GewO erlaube, Leistungen im zeitlichen Abstand zur ersten Kontaktaufnahme mit dem Kunden und zur Auftragserteilung zu erbringen. Das Reisegewerberecht biete dem Kunden auch genügend Schutz, weil die an der Haustür geschlossenen Verträge binnen 14 Tagen widerrufen werden könnten. Die angegriffene Rechtsprechung statuiere den Meisterzwang letztlich auch für die nicht stehenden Betriebe. Im vorliegenden Fall habe das Amtsgericht zudem versäumt, im Einzelnen zu prüfen, welche dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Tätigkeiten dem Minderhandwerk zuzurechnen seien.

g) Nach der Stellungnahme des Verbraucherschutzvereins e.V. sollten die Sondervorschriften des Reisegewerbes Verbraucher vor Belästigungen im Zusammenhang mit unvorbereiteten Geschäftskontakten schützen. Wegen des Verbraucherschutzes seien die Sondervorschriften des Reisegewerbes in Bezug auf die handwerkliche Tätigkeit eines Steinmetzes streng im Lichte der Handwerksordnung auszulegen; werde die Ausführung der Tätigkeit in Absprache mit dem Kunden auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, sei die Ausführung nicht dem Reisegewerbe zuzurechnen.

h) Die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände e.V. geht ebenfalls davon aus, dass das Tatbestandsmerkmal des Aufsuchens von Bestellungen auf Leistungen nicht erlaubt, die Leistungen in Absprache mit dem Kunden auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen. Aus der Sicht der Verbraucher bestehe ein schützenswertes Interesse daran, dass nicht jeder, so unqualifiziert er sein möge, selbständig tätig werden dürfe. Eine im Reisegewerbe ausgeübte handwerkliche Tätigkeit setze aber nicht den Nachweis einer besonderen beruflichen Qualifikation voraus.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 BVerfGG sind gegeben.

1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seiner Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG).

a) Das Bundesverfassungsgericht hat die insoweit maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum Befähigungsnachweis für das Handwerk bereits entschieden (vgl. BVerfGE 13, 97).

Die hier einschlägigen Regelungen (§ 1 HwO, § 55 GewO) stellen sich gegenüber dem Handwerker, dem eine Reisegewerbekarte erteilt worden ist, als eine einschränkende Berufsausübungsregelung dar. Der Reisegewerbetreibende hat seinen Beruf so auszuüben, dass die Schwelle zum erlaubnispflichtigen stehenden Handwerk nicht überschritten wird. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Berufsausübungsregelungen zulässig, wenn sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, d.h. wenn sie auf sachgerechten und vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls beruhen, wenn das gewählte Mittel zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit noch gewahrt ist (vgl. BVerfGE 30, 292 <316 f.>; 99, 202 <211>).

b) Auslegung und Anwendung von § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Schwarzarbeitsgesetzes, § 1 HwO und § 55 GewO können vom Bundesverfassungsgericht - abgesehen von Verstößen gegen das Willkürverbot - nur darauf überprüft werden, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen. Das ist der Fall, wenn die von den Fachgerichten vorgenommene Auslegung der Normen die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit führt (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f., 96>; 85, 248 <257 f.>; 87, 287 <323>).

c) Auf derartigen Auslegungsfehlern beruhen die angegriffenen Entscheidungen. Sie werden dem Maßstab des Art. 12 Abs. 1 GG nicht gerecht, weil sie bei Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die Ausstrahlungswirkung der Berufsfreiheit nicht genügend beachtet haben.

aa) Insbesondere ist in tatsächlicher Hinsicht nicht festgestellt worden, welche der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Tätigkeiten nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwGE 87, 191), die dem Grundrechtsschutz Raum gibt, dem Vollhandwerk unterfallen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, GewArch 2000, S. 240 <242>).

Das Amtsgericht hat nicht im Einzelnen ermittelt, ob es sich bei den Tätigkeiten des Beschwerdeführers um solche handelt, die den Kernbereich des Handwerks ausmachen, oder ob es sich um Arbeitsvorgänge handelt, die aus der Sicht des vollhandwerklich arbeitenden Betriebes als untergeordnet erscheinen, also lediglich dem Minderhandwerk unterfallen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt der Kernbereich des Steinmetz- und Steinbildhauer-Handwerks in der formenden und gestaltenden Tätigkeit am Stein und mit dem Stein, nicht aber darin, Vorhandenes lediglich restaurierend zu konservieren (BVerwG, a.a.O., S. 194 f.). Danach übt ein Restaurator von Steinwerken, der sich in seiner Tätigkeit auf die Festigung und Reinigung der vorhandenen Steinsubstanz, die Sicherung gebrochener Steinteile, die Entfernung früherer Ausbesserungen sowie die Ergänzung durch neue Steinergänzungsmassen beschränkt, nicht das Steinmetz- und Steinbildhauer-Handwerk aus (BVerwG, a.a.O., S. 195 ff.). Diese verfassungskonforme Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat das Amtsgericht nicht beachtet und deshalb nicht aufgeklärt, ob die vom Beschwerdeführer vorgenommenen Sanierungs- und Reparaturarbeiten als Restauration dem Minderhandwerk unterfallen.

bb) Auch die Auslegung von § 55 GewO genügt den Anforderungen von Art. 12 Abs. 1 GG nicht. Die Grenzen des Reisegewerbes dürfen im Lichte des Grundrechts der Berufsfreiheit nicht so eng gezogen werden, wie sie sich als Ergebnis von Auslegung und Anwendung in den angegriffenen Entscheidungen darstellen. Zur Erreichung des vom Gesetzgeber beabsichtigten Zwecks ist das Vorgehen nicht geboten; es schränkt die Berufsfreiheit unverhältnismäßig ein. Der Richter ist aber bei der Normauslegung an dieselben Maßstäbe gebunden, die nach Art. 12 Abs. 1 GG auch den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers einschränken (vgl. BVerfGE 54, 224 <235>; 97, 12 <27>).

(1) Der Zweck des vom Gesetzgeber in § 55 GewO aufgestellten Verbots mit Erlaubnisvorbehalt besteht darin, die Allgemeinheit und die Kunden vor den Risiken zu schützen, die durch eine Geschäftstätigkeit außerhalb einer ständigen gewerblichen Niederlassung oder ohne gewerbliche Niederlassung entstehen: Der Reisegewerbetreibende ist bei Rückfragen oder bei Reklamationen schwerer greifbar. Daher wird die Reisegewerbekarte nur bei Zuverlässigkeit erteilt (§ 57 GewO). Der Schutz der Allgemeinheit und der Kunden vor unlauteren Geschäftsmethoden stellt einen vernünftigen Gemeinwohlbelang dar.

(2) Die Annahme des Amtsgerichts, dass das Anbieten einer Leistung im Sinne von § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO die Bereitschaft und Fähigkeit zur sofortigen vollständigen Ausführung eines Auftrags voraussetzt, steht mit dem Zweck dieser Norm in Einklang. Kennzeichen des Reisegewerbes ist, dass es ohne vorhergehende Bestellung und außerhalb einer gewerblichen Niederlassung betrieben wird. Insofern kann nicht beanstandet werden, dass für dieses "umherziehende Gewerbe" grundsätzlich die Bereitschaft zur sofortigen Leistungserbringung gefordert wird.

(3) Allerdings ist die Norm 1960 um das "Aufsuchen von Bestellungen auf Leistungen" erweitert worden. Dieser Tatbestand setzt geradezu voraus, dass die Erfüllung erst in einem gewissen zeitlichen Abstand erfolgt. Gemeinwohlbelange, die es gebieten, bei dieser Variante die eigentliche Leistung dem stehenden Gewerbe vorzubehalten, sind nicht ersichtlich; für Warenbestellungen wird in Rechtsprechung und Literatur diese Auffassung auch nicht vertreten (vgl. OLG Stuttgart, GewArch 12, S. 80; Vogel, in: Landmann/Rohmer, GewO, § 55 Rn. 46 und Rn. 53 <Stand: September 1986>).

Eine solche Auslegung findet schon im Wortlaut der Vorschrift keine Stütze. Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat 1972 noch verfassungskonform festgestellt, dass sich schon aus dem Begriff der Bestellung ergebe, dass die bestellte Leistung nicht sofort, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt erbracht werden soll (vgl. GewArch 1973, S. 159; ebenso Frotscher, in: Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 1, 1995, § 1 IV Rn. 129; Tettinger/Wank, GewO, 6. Aufl. 1999, § 55 Rn. 36). Zutreffend weist der Deutsche Industrie- und Handelstag in seiner Stellungnahme darauf hin, dass nach dem Gesetzeswortlaut das Feilbieten oder Aufsuchen auf Bestellungen (Vertrieb) von Waren und das entsprechende Handeln bei Leistungen sich gleichwertig gegenüberstehen. Die Reisegewerbekarte erlaubt die sofortige Lieferung (Handkauf) und auch die spätere Lieferung, sofern nicht der Liefernde ein stehendes Gewerbe betreibt. Die gleichartige Wortwahl besagt danach, dass derjenige, der nicht Waren, sondern Leistungen anbietet, ebenfalls bei der Erfüllung unter § 55 GewO fällt, sofern er zur Ausführung der Leistungen keine gewerbliche Niederlassung in Anspruch nimmt.

Auch der Entstehungsgeschichte des § 55 GewO (vgl. hierzu die Begründung des Regierungsentwurfs eines Vierten Bundesgesetzes zur Änderung der Gewerbeordnung, BTDrucks 3/318) ist nicht zu entnehmen, dass der Gesetzgeber bei der Novellierung im Jahre 1960, als das "Aufsuchen von Bestellungen gewerblicher Leistungen" kartenpflichtig geworden ist, davon ausging, dass lediglich das Aufsuchen von Bestellungen im Reisegewerbe erfolge, hingegen die Vertragserfüllung regelmäßig nicht. Durch die Gleichstellung des Aufsuchens von Bestellungen auf gewerbliche Leistungen mit dem Anbieten von solchen sollten die früher in der Praxis aufgetauchten Zweifel darüber beseitigt werden, wann die eine dieser Tätigkeiten aufhört und die andere anfängt (Stober, in: Friauf, GewO, § 55 Rn. 56 <Stand: August 1996>; vgl. zur Rechtslage vor 1960 Rohfing-Kiskalt, GewO, 2. Aufl. 1958, § 55 Anm. 9). Außerdem sollten die Abgrenzungsschwierigkeiten hinsichtlich der Frage beseitigt werden, ob Bestellungen auf eine Ware oder auf eine gewerbliche Leistung aufgesucht worden sind (Stober, in: Friauf, a.a.O., § 55 Rn. 56; vgl. zur Rechtslage vor 1960 Boldt/Steffens, GewO, 1955, § 55 Anm. 3). Dies setzt voraus, dass grundsätzlich bei Waren und Leistungen die gleichen Tatbestandsvoraussetzungen gelten. Die ihm erforderlich erscheinenden Ausnahmen hat der Gesetzgeber für bestimmte Handwerke selbst festgelegt (§ 56 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe d und Nr. 5 GewO, § 30 b GewO).

Danach entspricht es weder dem Zweck des § 55 Abs. 1 Nr. 1 GewO noch vernünftigen Gründen des Gemeinwohls, diese Vorschrift derart restriktiv auszulegen, dass ein "Aufsuchen einer Bestellung auf Leistung" nicht anzunehmen ist, wenn die Leistung erst zu einem späteren Zeitpunkt erbracht wird. Dem Schutzzweck des § 55 GewO, die Verbraucher vor unlauteren Geschäftsmethoden zu schützen, wird nicht nur genügt, wenn der Reisegewerbetreibende in der Lage ist, die gewerblichen Leistungen sofort auszuführen, sondern auch dann, wenn er sie erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung erbringt. Eine Irreführung der Kundschaft ist insoweit nicht zu befürchten; denn eine Reisegewerbekarte hat nur derjenige beim Aufsuchen der Bestellung vorzuweisen, der kein stehendes Gewerbe angemeldet hat. Geht es also um handwerkliche Leistungen, ist dem Besteller hernach ohne weiteres bewusst, dass der Handwerker keinen Meisterbetrieb führt. Zudem sind aus diesem Grund Umfang und Ausmaß möglicher Leistungen regelmäßig eingeschränkt, da eine Werkstatt im Sinne eines stehenden Betriebs nicht zur Verfügung steht. Das Reisegewerbe betrifft somit im Wesentlichen Reparaturen und kleinere Handreichungen an Ort und Stelle beim Kunden. Tendenziell geht es insoweit um Minderhandwerk. Letztlich ist aber nicht ausgeschlossen, dass im Reisegewerbe auch einmal die volle Kunstfertigkeit eingesetzt wird.

An der eigentlichen Tätigkeit ändert sich auch nichts, wenn der Aufschub - bei einer grundsätzlich bestehenden Bereitschaft und Fähigkeit zur Sofortleistung seitens des Gewerbetreibenden - nur auf Wunsch des Kunden, etwa nach einem Kostenvoranschlag oder nach Zeit zu eigener Vorbereitung, geschieht. Zu Recht weist auch der Berufsverband unabhängiger Handwerkerinnen und Handwerker e.V. darauf hin, dass es - ebenso wie beim stehenden Handwerk - von Art und Umfang des Auftrags abhängt, mit welchen Arbeiten zu beginnen ist, wozu also der Handwerker im Reisegewerbe grundsätzlich sofort bereit sein muss, wenn er nicht nur um eine Bestellung nachsucht. Meist werden es zunächst nur vorbereitende Tätigkeiten sein. Entscheidend ist insoweit, dass die Initiative zur Erbringung der Leistung vom Anbietenden ausgeht. Das unterscheidet ihn vom stehenden Handwerksbetrieb, bei dem die Kunden um Angebote nachsuchen. Die gewerbliche Niederlassung und die von dort ausgehende Geschäftstätigkeit grenzen die beiden Formen der Berufsausübung voneinander ab. Nach der Wertung des Gesetzgebers wird im stehenden Betrieb neben der persönlichen auch die fachliche Zuverlässigkeit des Inhabers, der den Meisterbrief erworben haben muss, garantiert; im Reisegewerbe wird lediglich die persönliche Zuverlässigkeit überwacht. Dies ist für die Besteller deutlich, so dass eine Konkurrenz zwischen den beiden Betätigungsformen nicht zu besorgen ist. Diese vom Gesetzgeber getroffene Einschätzung kann von den Gerichten mangels gesetzlicher Grundlage nicht korrigiert werden.

d) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem dargelegten Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG, da nicht auszuschließen ist, dass die Gerichte im Ausgangsverfahren anders entschieden hätten, wenn sie § 55 GewO verfassungskonform ausgelegt und danach den Sachverhalt ordnungsgemäß ermittelt hätten.

2. Ob auch die weiteren vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen Erfolg haben könnten, bedarf unter diesen Umständen keiner Prüfung.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Ende der Entscheidung

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