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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 28.08.2003
Aktenzeichen: 1 BvR 2194/02
Rechtsgebiete: BVerfGG, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 90 Abs. 1
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstaben a
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstaben b
GG Art. 5 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2194/02 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Pfälzischen Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 29. Oktober 2002 - 8 U 85/02 -,

b) das Endurteil des Landgerichts Zweibrücken vom 24. Mai 2002 - 1 O 313/01 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Haas und den Richter Hoffmann-Riem gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 28. August 2003 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind zivilgerichtliche Verurteilungen zum Widerruf von Äußerungen gegenüber einer Landesärztekammer.

I.

Die damals 80-jährige Mutter der Beschwerdeführer begab sich zur Durchführung einer Darmspiegelung in die Praxis der Kläger des Ausgangsverfahrens. Die Untersuchung war nicht möglich, weil sie zu diesem Zeitpunkt eine ausreichende Menge von Abführflüssigkeit nicht zu sich genommen hatte. Dies gelang auch am folgenden Tag in der Praxis nicht. Nachdem sie mit einem Taxi nach Hause gefahren war, kam es dort zu starken Durchfallerscheinungen der geschwächten Patientin. Mit Hilfe eines Nachbarn und nach Einschaltung eines Notarztes wurde sie in ein Krankenhaus verbracht, wo sie nach röntgenologischer Untersuchung erfolgreich operiert wurde.

Die Beschwerdeführer richteten ein Schreiben an die Landesärztekammer Rheinland-Pfalz, in dem sie unter anderem erklärten:

Anschließend wurde unsere Mutter alleine in einem der Praxisräume bis 15:00 Uhr ihrem Schicksal überlassen. In diesem Zeitraum wurde sie durch keinen der Ärzte betreut. Auch beklagt sie, dass sie zu keinem Zeitpunkt in irgend einer Weise verständlich zu der Untersuchung und allen begleitenden Maßnahmen unterrichtet wurde. Arzthelferinnen gaben nur, wenn sie "am Kittel festgehalten" wurden, oberflächliche Auskünfte und zeigten sich überlastet. Um 15:00 Uhr wurde die Praxis geschlossen. Unsere Mutter wurde für Montag, 18.06.01 erneut einbestellt - mit dem ausdrücklichen Hinweis, wiederum nüchtern zu erscheinen. Sie wurde mit einem Taxi nach Hause geschickt und befand sich zu diesem Zeitpunkt nach drei Tagen ohne Nahrungsaufnahme und stundenlangem Warten auf eine belastende Untersuchung in einem körperlich und psychisch erheblich geschwächten Zustand (achtzigjährig!). Ärzte und Personal versäumten es, sich ausreichende Informationen über ihren Zustand und ihre Lebensbedingungen geben zu lassen. Es wurde auch keine Einweisung ins Krankenhaus veranlasst.

...

Es ist nur einer glücklichen Fügung zu verdanken, dass Nachbarn ihren Zustand bemerkten.

Die Kläger begehrten zunächst Unterlassung der Äußerungen. Auf Ihre Klage hin verurteilten das Landgericht und das Oberlandesgericht die Beschwerdeführer zum Widerruf.

Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung ihrer Grundrechte der Petitionsfreiheit, der Meinungsfreiheit sowie des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör. Die Zivilgerichte hätten die Reichweite des Petitionsgrundrechts verkannt. Eine Petition stelle die Wahrnehmung berechtigter Interessen dar. Von dem Petenten werde eine objektive Darstellung ebenso wenig verlangt wie von einem Kläger.

Ihr Grundrecht der Meinungsfreiheit sei in unzutreffender Weise über Gebühr eingeengt worden. Die Beschwerdeführer hätten keinen falschen oder gar erwiesen falschen Sachvortrag in ihrer Petition gemacht. Selbst ehrverletzende Äußerungen aber könnten durch Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt sein.

II.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung von in § 90 Abs. 1 BVerfGG bezeichneten Rechten angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstaben a und b BVerfGG).

1. Das Grundrecht der Beschwerdeführer auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) ist durch die angegriffenen Entscheidungen allerdings insoweit verletzt worden, als sie zu einem uneingeschränkten Widerruf der Äußerungen verurteilt worden sind. Der Grundrechtsverletzung kommt im vorliegenden Fall aber kein besonderes Gewicht zu.

a) Die Verurteilung zum Widerruf der Äußerungen liegt im Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur Werturteile, sondern auch Tatsachenbehauptungen, wenn und soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen sind (vgl. BVerfGE 85, 1 <15>). Außerhalb des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG liegen nur bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen und solche, deren Unwahrheit bereits im Zeitpunkt der Äußerung unzweifelhaft feststeht. Alle übrigen Tatsachenbehauptungen mit Meinungsbezug genießen den Grundrechtsschutz, auch wenn sie sich später als unwahr herausstellen (vgl. BVerfGE 99, 185 <197>). Die Aufrechterhaltung und Weiterverbreitung solcher Tatsachenäußerungen ist unter dem Blickwinkel der Meinungsfreiheit kein schützenswertes Gut, sobald ihre Unwahrheit feststeht (vgl. BVerfGE 61, 1 <8>).

Bei den streitbefangenen Äußerungen handelt es sich ungeachtet ihrer auch wertenden Beurteilung im Kern um Tatsachenbehauptungen. Sie enthalten konkrete Vorwürfe einer unzureichenden oder gar fehlerhaften Behandlung der Mutter der Beschwerdeführer durch die Kläger. Nach der Beweisaufnahme steht fest, dass die Äußerungen unrichtig sind. Die Beschwerdeführer haben auch keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass und weshalb die vom Landgericht als Ergebnis der Beweisaufnahme getroffenen Feststellungen unzutreffend sein könnten.

Im Zeitpunkt der Äußerung war die Unwahrheit den Beschwerdeführern allerdings nicht bewusst und sie stand auch nicht unzweifelhaft fest. Die Äußerungen waren daher zu diesem Zeitpunkt durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt.

b) Das Grundrecht der Meinungsfreiheit findet gemäß Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze. Dazu gehören die §§ 1004, 823 BGB, auf denen die Verurteilung zum Widerruf beruht. Die Meinungsfreiheit wird durch das Persönlichkeitsrecht anderer beschränkt. Durch die Verbreitung der unwahren Tatsachen ist das Persönlichkeitsrecht der Kläger verletzt worden. Zur Abwehr dieser Rechtsverletzung steht ihnen grundsätzlich ein Anspruch auf Widerruf der Äußerungen zu.

c) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Gerichte im vorliegenden Fall eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts festgestellt haben. Die Verurteilung zum Widerruf hätte jedoch begrenzt werden müssen, nämlich auf die Erklärung, die Behauptungen würden nicht aufrecht erhalten. In der Vergangenheit waren die Äußerungen demgegenüber gerechtfertigt.

Nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte ist auf einen solchen Widerruf in eingeschränkter Form zu erkennen, wenn - wie hier - eine ehrverletzende Äußerung zwar ursprünglich in Wahrnehmung berechtigter Interessen getätigt worden ist, nach Wegfall des berechtigten Interesses und nach Feststellung der Unwahrheit aber weiterhin ehrbeeinträchtigende Wirkungen zu befürchten sind (vgl. BGHZ 57, 325; BGH, NJW 1966, S. 647; vgl. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 4. Aufl. 1994, Rn. 13.23 f.; Löffler, Presserecht, 4. Aufl. 1997, § 6 LPG Rn. 287). Diese Rechtsprechung berücksichtigt ein berechtigtes Interesse des Äußernden, trägt aber auch dem Umstand Rechnung, dass es grundsätzlich keinen rechtfertigenden Grund gibt, an Behauptungen festzuhalten, deren Unwahrheit sich herausgestellt hat (vgl. BVerfGE 97, 125 <149>).

Die Äußerungen der Beschwerdeführer sind im Zuge der Interessenwahrnehmung durch eine Beschwerde gegenüber der Landesärztekammer erfolgt. In der fachgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Ehrenschutz aus dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen gegenüber Äußerungen in einem hierfür vorgesehenen geordneten Verfahren vor Gerichten und Behörden begrenzt ist, sofern die Äußerungen in einem Zusammenhang mit dem verfolgten Anliegen des Äußernden stehen und nicht missbräuchlich erscheinen (vgl. RGZ 140, 392; BGH, NJW 1962, S. 243). Dabei erfahren Eingaben an öffentliche Stellen wegen des öffentlichen Interesses an der Aufdeckung etwaiger Missstände den gleichen Schutz wie Äußerungen im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens (vgl. OLG Düsseldorf, NVwZ 1983, S. 502 f.; OLG Celle, NVwZ 1985, S. 69 f.). Auch für angeblich unrichtige ehrverletzende Angaben gegenüber einer kassenärztlichen Vereinigung wird die Anwendung dieser Grundsätze bejaht (vgl. OLG Frankfurt am Main, NJW-RR 1994, S. 416). Diese Rechtsprechung trägt den verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung, die für Äußerungen in solchen Zusammenhängen aus dem Rechtsstaatsprinzip und insbesondere dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgen (vgl. BVerfGE 74, 257 <260>; BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1991, S. 29; BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1991, S. 2074 <2075>).

Die im vorliegenden Fall angegriffenen Äußerungen sind ausschließlich gegenüber der Landesärztekammer erfolgt. Diese hat gemäß § 3 Abs. 1 Ziffer 3 Heilberufsgesetz Rheinland-Pfalz die Einhaltung der Berufspflichten der Kammermitglieder zu überwachen. Zu ihren Aufgaben gehört es daher auch, Vorwürfe ärztlicher Pflichtverletzung auf ihre Berechtigung zu überprüfen. Wenden sich die Beschwerdeführer an die Landesärztekammer, um ihre Vorwürfe durch diese überprüfen zu lassen, dann sind die Grenzen zulässiger Tatsachenbehauptung erst dann überschritten, wenn die Äußerung bewusst unwahr ist oder ihre Unwahrheit ohne weiteres - also ohne Beweisaufnahme - auf der Hand liegt (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, NJW 1991, S. 1475 <1476>; BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, NJW 1991, S. 2074 <2075>; OLG Düsseldorf, OLGR 1993, S. 108). Dies aber war vorliegend nicht der Fall. Darauf, ob die Äußerungen leichtfertig aufgestellt worden waren, kam es entgegen der Auffassung der Gerichte in den Ausgangsverfahren nicht an.

d) Die Erstreckung der Verurteilung zum Widerruf auch mit Bezug auf die Vergangenheit verletzt das Grundrecht der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführer. Dennoch ist allein deshalb die Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht angezeigt, weil den Beschwerdeführern durch eine Versagung der Entscheidung kein besonderes schwerer Nachteil entsteht (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Besonders gewichtig ist nur eine Grundrechtsverletzung, die auf eine generelle Vernachlässigung von Grundrechten hindeutet oder wegen ihrer Wirkung geeignet ist, von der Ausübung von Grundrechten abzuhalten. Das ist vorliegend nicht der Fall. Die Verurteilung zum Widerruf ist nicht mit einem Schuldvorwurf verbunden; auch fehlt ihr jeder Sanktionscharakter (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, NJW 1991, S. 1475 <1476>). Eine Grundrechtsverletzung hat ferner dann besonderes Gewicht, wenn sie auf einer groben Verkennung des durch ein Grundrecht gewährten Schutzes oder einem geradezu leichtfertigen Umgang mit grundrechtlich geschützten Positionen beruht oder rechtsstaatliche Grundsätze krass verletzt (vgl. BVerfGE 90, 22 <25>). Daran fehlt es vorliegend. Die Gerichte haben das Grundrecht der Beschwerdeführer gesehen und in die Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der Kläger einbezogen und es für geboten gehalten, die Fortwirkung der Ehrverletzung "und nur diese" zu beseitigen. Auch wenn die darauf gestützte Rechtsfolge hinsichtlich der Reichweite des Widerrufsanspruchs verfassungsrechtlich zu beanstanden ist, lässt sich nicht feststellen, dass sie Ausdruck einer groben Verkennung grundrechtlichen Schutzes ist.

2. Das Grundrecht der Petitionsfreiheit des Art. 17 GG gibt hinsichtlich des Inhalts einer Meinungsäußerung keinen über die dargestellten Grundsätze hinausgehenden Schutz (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, NJW 1991, S. 1475 <1476>). Der Zugang zur Landesärztekammer ist den Beschwerdeführern nicht erschwert worden Ob ihr Petitionsrecht in einem solchen Fall überhaupt beeinträchtigt worden sein kann, bedarf keiner Entscheidung. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde wäre jedenfalls auch insoweit aus den unter 1 dargestellten Gründen nicht angezeigt.

3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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