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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 16.04.2008
Aktenzeichen: 1 BvR 2253/07
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 3 Abs. 1 | |
GG Art. 20 Abs. 3 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES
- 1 BvR 2253/07 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
gegen
a) den Beschluss des Oberlandesgerichts München - Zivilsenate in Augsburg - vom 16. Juli 2007 - 4 WF 277/07 -,
b) die Entscheidung des Amtsgerichts Landsberg am Lech vom 14. Juni 2007 - 2 F 140/07 -,
c) den Beschluss des Amtsgerichts Landsberg am Lech vom 30. April 2007 - 002 F 00140/07 (PKH) -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung eines Rechtsanwalts
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Hohmann-Dennhardt und die Richter Gaier, Kirchhof am 16. April 2008 einstimmig beschlossen:
Tenor:
1. Der Beschluss des Amtsgerichts Landsberg am Lech vom 30. April 2007 - 002 F 00140/07 (PKH) - und die Entscheidung des Amtsgerichts Landsberg am Lech vom 14. Juni 2007 - 2 F 140/07 - sowie der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 16. Juli 2007 - 4 WF 277/07 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 16. Juli 2007 - 4 WF 277/07 - wird aufgehoben und die Sache an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für die Verfassungsbeschwerde zu ersetzen. Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Prozesskostenhilfe zur Verteidigung gegen eine Klage auf Kindesunterhalt.
1. Der 1973 in Nigeria geborene Beschwerdeführer lebt von seiner Ehefrau, der Klägerin des Ausgangsverfahrens, getrennt. Bei der Ehefrau leben die beiden 1999 und 2002 geborenen gemeinsamen minderjährigen Kinder. Der Beschwerdeführer ist ohne erlernten Beruf, er kam 1996 als Asylbewerber nach Deutschland. Während des ehelichen Zusammenlebens sicherte er den Lebensunterhalt der Familie durch Gelegenheitsjobs in der Gastronomie. Zwischenzeitlich war er arbeitslos. Seit Juni 2006 ist er bei einer Zeitarbeitsfirma vollzeitbeschäftigt und wird als Maschinenführer im Schichtdienst eingesetzt. Teilweise leistet er auch Nachtschichten und Samstagsarbeit. Dabei erzielt er ein monatliches Nettoeinkommen von etwas über 1.000,00 €. Im Ausgangsverfahren wird der Beschwerdeführer von seiner Ehefrau auf Kindesunterhalt für die beiden Kinder in Höhe von 100 % des Regelbetrags nach der Regelbetrag-Verordnung in Anspruch genommen. Die monatlichen Zahlbeträge des geltend gemachten Kindesunterhalts betragen monatlich 247,00 € und 199,00 €, insgesamt also monatlich 446,00 €.
a) Im Ausgangsverfahren wies das Amtsgericht Landsberg am Lech mit Beschluss vom 30. April 2007 den Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe zur Verteidigung gegen die Klage auf Kindesunterhalt zurück. Die beabsichtigte Rechtsverteidigung erscheine mutwillig.
Der sofortigen Beschwerde des Beschwerdeführers half das Amtsgericht mit Entscheidung vom 14. Juni 2007 nicht ab. Der Beschwerdeführer unterliege der verschärften Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigen Kindern gemäß § 1603 Abs. 2 BGB. Danach bestehe insbesondere die Pflicht zur gesteigerten Ausnutzung der Arbeitskraft. Alle zumutbaren Erwerbsmöglichkeiten seien auszuschöpfen. Der Barunterhaltspflichtige habe darzulegen und zu beweisen, dass er trotz der gebotenen Anstrengungen nicht in der Lage sei, den Mindestbedarf der Kinder zu befriedigen. Hierfür seien die den eigenen Bedarf bestimmenden Tatsachen wie Alter, Lebensstellung, Höhe des Vermögens und Einkommens et cetera darzulegen, die Bemühungen um eine Arbeitsstelle bei Erwerbslosigkeit, sowie die Gründe dafür, dass bei einem minderjährigen Kind nicht einmal der Mindestbedarf gedeckt werden könne. Der Beschwerdeführer habe diese Tatsachen nicht dargelegt und nicht bewiesen oder belegt.
b) Das Oberlandesgericht München wies mit Beschluss vom 16. Juli 2007 die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers zurück. Das Amtsgericht habe zu Recht die beantragte Prozesskostenhilfe verweigert. Es bestehe eine erhöhte Leistungsverpflichtung mit einer erweiterten Erwerbsobliegenheit zu Tätigkeiten auch unterhalb des Ausbildungsniveaus und zu Nebenbeschäftigungen und Überstunden. In zumutbaren Grenzen könne sowohl ein Orts- als auch ein Berufswechsel verlangt werden. Das Ausgangsgericht habe darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer dafür darlegungs- und beweispflichtig sei, dass er unter Wahrung seines Selbstbehalts außerstande sei, den Unterhalt in Höhe von 100 % des Regelbetrags an seine Kinder zu bezahlen. Dabei sei es mit Blick auf die aus Art. 6 Abs. 2 GG folgende Verpflichtung der Eltern zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft geboten, dass nicht nur die tatsächlichen, sondern fiktiv die erzielbaren Einkünfte berücksichtigt würden, wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlasse, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte. Der Beschwerdeführer genüge insoweit seiner Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf die gesteigerte Erwerbsobliegenheit nicht. Er könne sich nicht darauf zurückziehen, sein aktuell erzieltes Einkommen vorzutragen und unter Verweis auf die ungünstige Arbeitszeit eine Nebenerwerbstätigkeit abzulehnen. Vielmehr habe er darzulegen, wieso ihm ein Arbeitsplatz- oder Berufswechsel nicht zumutbar sei beziehungsweise weshalb dieser nicht erfolgversprechend sein solle. Er habe darzulegen und zu beweisen, dass er trotz der gebotenen Anstrengung nicht in der Lage sei, den Mindestbedarf zu befriedigen. Dabei müsse auch berücksichtigt werden, ob ein Arbeitsplatzwechsel nicht auch mit Blick auf die verschärfte Unterhaltspflicht notwendig wäre, da damit dem Unterhaltsschuldner gegebenenfalls bei einer günstigeren Arbeitszeit eine den Unterhaltsbedarf deckende Nebenbeschäftigung möglich wäre.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Er beantragt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Rechtsanwalts für das Verfassungsbeschwerdeverfahren.
3. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Ausgangsverfahrens vorgelegen. Die Bayerische Staatsregierung und die Klägerin des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers geboten ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Zu dieser Entscheidung ist die Kammer berufen, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die zulässige Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet ist (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
1. Die angefochtenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet das Grundgesetz eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 9, 124 <129 f.>; 10, 264 <270>; 22, 83 <87>; 51, 295 <302>; 63, 380 <394>; 67, 245 <248>). Dabei wird es als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Das Gebot der Rechtsschutzgleichheit verlangt keine völlige Gleichstellung; der Unbemittelte muss vielmehr nur dem Bemittelten gleich gestellt werden, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>). Die Auslegung und Anwendung des § 114 ZPO obliegen in erster Linie den zuständigen Fachgerichten, die dabei den - verfassungsgebotenen - Zweck der Prozesskostenhilfe zu beachten haben. Das Bundesverfassungsgericht kann folglich nur eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffene Entscheidung Fehler erkennen lässt, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit beruhen.
Maßgeblich für die Erfolgsaussicht der Rechtsverteidigung des Beschwerdeführers ist, ob er sich erfolgreich auf fehlende Leistungsfähigkeit berufen kann. Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Unterhaltsrecht ist § 1603 Abs. 1 BGB, nach dem nicht unterhaltspflichtig ist, wer bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande ist, ohne Gefährdung seines angemessenen Unterhalts den Unterhalt zu gewähren. Eltern, die sich in dieser Lage befinden, sind gemäß § 1603 Abs. 2 BGB ihren minderjährigen unverheirateten Kindern gegenüber verpflichtet, alle verfügbaren Mittel zu ihrem und der Kinder Unterhalt gleichmäßig zu verwenden. Hieraus sowie aus Art. 6 Abs. 2 GG folgt die Verpflichtung der Eltern zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft. Daher ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nicht nur die tatsächlichen, sondern auch fiktiv die erzielbaren Einkünfte berücksichtigt werden, wenn der Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt, obwohl er diese "bei gutem Willen" ausüben könnte. Grundvoraussetzung eines jeden Unterhaltsanspruchs bleibt dennoch die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsverpflichteten. Überschreitet der ausgeurteilte Unterhalt die Grenze des Zumutbaren, ist die Beschränkung der Dispositionsfreiheit des Verpflichteten im finanziellen Bereich als Folge der Unterhaltsansprüche des Bedürftigen nicht mehr Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und kann vor dem Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG nicht bestehen (vgl. BVerfGE 57, 361 <381>).
b) Vorliegend haben die Gerichte die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung überspannt und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, verfehlt. Selbst wenn die Feststellungen des Oberlandesgerichts, den Beschwerdeführer treffe als Unterhaltsschuldner die Darlegungs- und Beweislast für seine Leistungsfähigkeit und er habe nicht dargelegt, weshalb ein Arbeitsplatzwechsel - welcher ihm möglicherweise durch günstigere Arbeitszeiten Raum für die Aufnahme einer Nebentätigkeit geben könne - nicht zumutbar oder nicht erfolgversprechend sei, zutreffend sind, so darf von einem Unterhaltsschuldner auch im Rahmen der gesteigerten Erwerbsobliegenheit des § 1603 Abs. 2 BGB nichts Unmögliches verlangt werden. Daher ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass die Zurechnung fiktiver Einkünfte, welche die Leistungsfähigkeit begründen sollen, neben den fehlenden subjektiven Erwerbsbemühungen des Unterhaltsschuldners objektiv zur Voraussetzung hat, dass die zur Erfüllung der Unterhaltspflichten erforderlichen Einkünfte für den Verpflichteten überhaupt erzielbar sind, was von den persönlichen Voraussetzungen des Unterhaltsschuldners (Alter, Ausbildung, Berufserfahrung, Gesundheitszustand) und dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen abhängig ist (vgl. BGH, Urteil vom 15. November 1995 - XII ZR 231/94 -, FamRZ 1996, S. 345 <346>).
Nach dem Klageantrag müsste der Beschwerdeführer für die beiden minderjährigen Kinder monatlich 446,00 € aufbringen. Zur Deckung dieses monatlich geschuldeten Unterhaltsbetrages und seines eigenen notwendigen Selbstbehaltes von im Entscheidungszeitpunkt 890,00 € müsste der Beschwerdeführer ein monatliches Nettoeinkommen von 1.336,00 € erzielen. Bei Steuerklasse I ohne persönliche Freibeträge (nur Kinderfreibetrag) und den üblichen Abzügen für Steuern und Sozialversicherung müsste der Beschwerdeführer hierfür einen Bruttoverdienst von über 2.000,00 € erzielen. Der derzeitige Bruttoverdienst liegt bei etwa 1.350,00 € für eine Vollzeittätigkeit im Schichtdienst und mit Nachtzuschlägen. Auch unter Berücksichtigung einer zumutbaren Nebentätigkeit ist es - erst recht im Rahmen der Beurteilung der Erfolgsaussicht im Prozesskostenhilfeverfahren - nicht realistisch, vom Beschwerdeführer die Steigerung seines Einkommens um nahezu die Hälfte seines bisherigen Einkommens zu verlangen, wenn er bereits für das tatsächlich erzielte Einkommen den Einsatz einer Vollzeittätigkeit unter Inkaufnahme von Schichtdienst erbringen muss und das Einkommen unter Berücksichtigung seiner fehlenden Ausbildung und seines Werdegangs auch nicht unterdurchschnittlich ist. Für ein mutwilliges Unterlassen der Erzielung höherer Einkünfte sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich. Bei der Beurteilung dessen, was durch eine Nebentätigkeit realistischerweise an Einkünften erzielbar ist, kann zudem nicht außer Betracht bleiben, dass die Einkünfte aus einer neben einer Vollerwerbstätigkeit ausgeübten Nebentätigkeit voll zu versteuern sind und auch in der Sozialversicherung eine Zusammenrechnung der Einkünfte aus Vollzeit- und Nebentätigkeit erfolgt (vgl. § 20 Abs. 2 2. Halbsatz SGB IV).
Allein aus den fehlenden Bemühungen des Beschwerdeführers um eine andere Vollzeittätigkeit oder eine Nebentätigkeit hätten die Gerichte daher nicht auf eine volle Leistungsfähigkeit in Höhe des beantragten Kindesunterhalts schließen dürfen.
c) Amtsgericht und Oberlandesgericht haben daher, indem sie die Erfolgsaussichten der Rechtsverteidigung verneinten und die Prozesskostenhilfe versagten, die Anforderungen überspannt. Die Frage der Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers war für eine Entscheidung im summarischen Prozesskostenhilfeverfahren nicht geeignet, zumal eine fehlerhafte Zurechnung fiktiven Einkommens zugleich eine Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 GG auf Schutz vor einer unverhältnismäßigen Belastung durch Unterhaltsleistungen darstellt.
2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf dem dargestellten Verfassungsverstoß. Es erscheint angezeigt, nur den Beschluss des Oberlandesgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG), weil dem Beschwerdeführer damit besser gedient ist; denn es liegt in seinem Interesse, möglichst rasch eine das Verfahren abschließende Entscheidung über sein Prozesskostenhilfegesuch zu erhalten.
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Ende der Entscheidung
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