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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 25.09.2006
Aktenzeichen: 1 BvR 2266/06
Rechtsgebiete: BVerfGG, ZPO, GG


Vorschriften:

BVerfGG § 90 Abs. 1
BVerfGG § 93 a
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstabe a
BVerfGG § 93 b
BVerfGG § 93 d Abs. 1 Satz 3
ZPO § 321 a
ZPO § 765 a
GG Art. 2 Abs. 2 Satz 1
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2266/06 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen a) den Beschluss des Landgerichts Hannover vom 1. August 2006 - 13 T 23/06 -,

b) den Beschluss des Landgerichts Hannover vom 13. Juni 2006 - 13 T 23/06 -

und Antrag auf Zulassung des Herrn Dr. H... als Beistand

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier und die Richter Steiner, Gaier gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 25. September 2006 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Antrag auf Zulassung von Herrn Dr. H... als Beistand wird abgelehnt.

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft den Umgang mit einer Suizidandrohung im Zusammenhang mit der Zwangsversteigerung von Wohnungseigentum.

I.

1. Die 1945 geborene Beschwerdeführerin bewohnt gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn zwei baulich miteinander verbundene Eigentumswohnungen. Seit dem Jahr 1997 betreibt die Gläubigerin, eine deutsche Großbank, die Zwangsversteigerung der Wohnungen. Bereits in der Vergangenheit waren gegen die Beschwerdeführerin Zwangsvollstreckungsverfahren geführt worden, in denen die Beschwerdeführerin erfolglos Selbsttötungsabsichten geltend gemacht hatte.

a) In vorliegender Sache stellte das Amtsgericht das Zwangsversteigerungsverfahren mit Beschluss vom 23. Oktober 2003 gemäß § 765 a ZPO wegen Suizidalität der Beschwerdeführerin bis zum 31. Dezember 2004 einstweilen ein. Der Beschwerdeführerin war zuvor mit fachpsychiatrischem Gutachten eine wahrscheinlich mit dem Vollstreckungsverfahren zusammenhängende, auf einer chronischen depressiven Erkrankung beruhende latente, phasenweise akute Suizidalität attestiert worden. Die sofortige Beschwerde der Gläubigerin zum Landgericht blieb ohne Erfolg.

b) Nach Ablauf der verfügten Schonfrist und Antrag der Gläubigerin auf Fortsetzung des Versteigerungsverfahrens holte das Amtsgericht ein weiteres forensisch-psychiatrisches Gutachten ein. Darin wurde der Beschwerdeführerin eine an die Romanfigur Michael Kohlhaas erinnernde unheilbare Charakterneurose mit querulatorischer Fehlhaltung auf dem Boden einer primär narzistisch-kränkbaren Persönlichkeitsstruktur attestiert. Weder ein Suizid noch eine Fremdaggression seien auszuschließen. Zusätzlich legte die Beschwerdeführerin ein Attest eines sie ambulant behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vor, nach dem die suizidalen Impulse fortbestünden und eine zwangsweise stationäre Behandlung das Krankheitsbild eher verschlechtern würde. Die ambulante Therapie werde dagegen fortgesetzt. Das Amtsgericht wies daraufhin mit Beschluss vom 9. März 2006 den Antrag auf Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens zurück und stellte das Verfahren bis zum 31. Dezember 2007 erneut ein.

c) Auf die sofortige Beschwerde der Gläubigerin änderte das Landgericht den Beschluss des Amtsgerichts ab und ordnete die Fortsetzung des Zwangsversteigerungsverfahrens an. Ausgehend von dem erstinstanzlich eingeholten Gutachten seien die Voraussetzungen des Vollstreckungsschutzes nach § 765 a ZPO nicht mehr gegeben. Zwar müsse weiterhin von einer latenten Suizidalität der Beschwerdeführerin ausgegangen werden. Bei entsprechender Verschlimmerung der Problematik sei jedoch jederzeit eine stationäre Akut-Behandlung möglich. Dem verschließe sich die Beschwerdeführerin nicht; auch sei sie bereit, über ihre Suizidgedanken zu sprechen und Regeln mit dem behandelnden Therapeuten zu vereinbaren. Dies decke sich mit dem ärztlichen Zeugnis des behandelnden Arztes.

Hinzu trete der Umstand, dass die Beschwerdeführerin die streitbefangene Wohnung gemeinsam mit ihrem Sohn bewohne, der somit kurzfristig für das Ergreifen von Gegenmaßnahmen zur Verfügung stünde. Vorsorglich habe man beim Amtsgericht zusätzlich die Einrichtung einer Betreuung angeregt. Auch sei zu sehen, dass die Beschwerdeführerin bereits in früheren Verfahren mit Suizid gedroht habe, ohne dass es dazu gekommen sei. Schließlich müsse berücksichtigt werden, dass zum jetzigen Zeitpunkt des Verfahrens noch keine Räumung drohe, es vielmehr um die Fortsetzung des Versteigerungsverfahrens gehe.

d) Die Anhörungsrüge wies das Landgericht mit Beschluss vom 1. August 2006 zurück.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie des Rechtsstaatsprinzips und ihres grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör.

Das Landgericht gehe zu Unrecht von alternativen Schutzmethoden aus. Der Sohn der Beschwerdeführerin stehe hierfür mangels eigener Kapazitäten nicht zur Verfügung. Zu der angeregten Einrichtung einer Betreuung werde es nicht kommen, nachdem die um Stellungnahme ersuchte Betreuungsbehörde sich mittlerweile für nicht zuständig erklärt habe. Schließlich stehe der Weg der stationären Akut-Behandlung nicht offen, da dieser ausweislich der vorliegenden Gutachten von der Beschwerdeführerin freiwillig nicht beschritten werde und die zwangsweise Einweisung ihrerseits mit Suizidgefahr einhergehe.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>). Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung im Sinn des § 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG ist nicht gegeben. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits geklärt (vgl. BVerfGE 52, 214 <219 ff.>). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist ohne Aussicht auf Erfolg.

1. Die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts verletzen die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip.

a) Ob die Voraussetzungen einer Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765 a ZPO gegeben sind, ist vorrangig eine Frage des einfachen Rechts und in erster Linie der Entscheidung der Fachgerichte anheim gegeben. Diese haben aber das Verfassungsrecht und die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte zu beachten; ob dies geschehen ist, hat das Bundesverfassungsgericht zu überprüfen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 52, 214 <219>).

Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet vorliegend die Vollstreckungsgerichte, bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 765 a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die dem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Eine unter Beachtung dieser Grundsätze vorgenommene Würdigung aller Umstände kann in besonders gelagerten Einzelfällen dazu führen, dass die Vollstreckung für einen auch längeren Zeitraum einzustellen ist. Ergibt die erforderliche Abwägung, dass die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als die Belange, deren Wahrung die Vollstreckungsmaßnahme dienen soll, so kann der trotzdem erfolgende staatliche Eingriff das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletzen. Dabei ist insbesondere zu bedenken, dass die Gefährdung von Grundrechten, deren erhebliche Beeinträchtigung durch einen staatlichen Eingriff zu besorgen ist, in besonderen Fällen einer Grundrechtsverletzung gleich zu achten sein kann (vgl. BVerfGE 52, 214 <220 f.>; BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 8. September 1997 - 1 BvR 1147/97 -, NJW 1998, S. 295 <296>).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts gerecht.

aa) Das Landgericht hat den grundsätzlichen Bedeutungsgehalt der Grundrechte für die bei Prüfung der Voraussetzungen des § 765 a ZPO vorzunehmende Abwägung in zutreffender Weise erkannt und zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht. Es hat die Gefährdung des Grundrechts der Beschwerdeführerin auf Leben und körperliche Unversehrtheit berücksichtigt und mit den Gläubigerinteressen abgewogen. Dabei hat es die Verfahrensakten, insbesondere die verschiedenen ärztlichen Gutachten ausgewertet.

bb) Auch das Ergebnis des Abwägungsvorgangs ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Würdigung der Beweisaufnahme und die tatsächlichen Feststellungen der Gerichte zu überprüfen, es sei denn, es läge eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts oder ein Verstoß gegen das allgemeine Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG vor (vgl. BVerfGE 4, 294 <297>; 34, 384, <397>). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Das Landgericht ist im Rahmen der Abwägung nach ausführlicher Auseinandersetzung mit den erstinstanzlich eingeholten Gutachten zu der Einschätzung gelangt, die Konstitution der Beschwerdeführerin habe sich insofern gebessert, dass von einer nurmehr latenten Suizidalität der Beschwerdeführerin auszugehen sei, der bei einer eventuellen Verschlimmerung der Symptomatik mit einer stationären Akut-Therapie begegnet werden könne. Diese Einschätzung findet eine hinreichende Stütze in den genannten Gutachten.

cc) Diesen für die Gewichtung der Belange der Beschwerdeführerin wesentlichen Gesichtspunkt der nurmehr latenten Suizidalität bei Möglichkeit der stationären Akut-Behandlung im Falle einer Zustandsverschlimmerung hat das Landgericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise um weitere abwägungsrelevante Erwägungen ergänzt.

So durfte es dem Umstand Gewicht beimessen, dass der die juristischen Angelegenheiten besorgende Sohn der Beschwerdeführerin mit ihr gemeinsam in den zu versteigernden Wohnungen wohnt, im Gefahrenfall deshalb kurzfristig Gegenmaßnahmen ergriffen werden können. Zwar bestünde keine rechtliche Verpflichtung des Sohnes, allein aus diesem Grund einen gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter zu begründen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 27. Juni 2005 - 1 BvR 224/05 -, NZM 2005, S. 657 <658>). Doch ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn das Landgericht in dem vorliegenden Fall eines von vornherein bestehenden gemeinsamen Haushalts die Möglichkeit eines helfenden Einschreitens des Sohnes in seine Abwägung eingestellt hat (vgl. § 1618 a BGB). Auf die Frage einer eventuell einzurichtenden Betreuung kommt es danach nicht an.

Keinen rechtlichen Bedenken begegnet auch die ergänzende Erwägung des Landgerichts, dass sich das Zwangsvollstreckungsverfahren noch im Stadium der Vorbereitung des Versteigerungstermins befinde, eine Räumung der Wohnungen folglich noch nicht zu gewärtigen sei. Die von der Beschwerdeführerin gefürchtete zwangsweise Veränderung ihrer Wohnungssituation steht damit nicht unmittelbar bevor.

Schließlich durfte das Landgericht im Rahmen der Abwägung berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin bereits in früheren Zwangsvollstreckungsverfahren mit Selbsttötung gedroht hatte, ohne dass sich diese Drohung nach Fortgang des Verfahrens realisiert hätte (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 10. Dezember 2004 - 1 BvR 796/04 -).

2. Das grundrechtsgleiche Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG ist gleichfalls nicht verletzt. Danach war das Landgericht lediglich verpflichtet, den Vortrag der Beschwerdeführerin zur Kenntnis zu nehmen und inhaltlich auszuwerten, nicht aber dazu, ihrer Rechtsansicht zu folgen (vgl. BVerfGE 64, 1 <12>; 87, 1 <33>). Soweit das Landgericht es zunächst tatsächlich versäumt hatte, der Beschwerdeführerin Gelegenheit zur Stellungnahme zu den eingesehenen Parallelverfahren mit gleichfalls geäußerter Suizidabsicht zu gewähren, ist dieser Fehler nach der Entscheidung im Anhörungsrügenverfahren nach § 321 a ZPO nicht entscheidungserheblich gewesen.

3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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