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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 13.08.2009
Aktenzeichen: 1 BvR 227/08
Rechtsgebiete: GG, BVerfGG, SGB II


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
BVerfGG § 95 Abs. 2
SGB II § 23 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
In dem Verfahren

...

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts

durch

die Richterin Hohmann-Dennhardt und

die Richter Gaier, Kirchhof

am 13. August 2009

einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Amtsgerichts Quedlinburg vom 23. November 2007 - 1 UR II 451/07 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Quedlinburg zurückverwiesen.

Das Land Sachsen-Anhalt hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz - BerHG).

I.

1.

Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Kostenübernahme für Kleinkindausstattung als Sonderbedarf nach § 23 Abs. 3 Nr. 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) wurde von der zuständigen Arbeitsgemeinschaft (ARGE) abgelehnt. Die Beschwerdeführerin beantragte beim Amtsgericht erfolglos Beratungshilfe für den Widerspruch gegen die Ablehnung. Die zuständige Rechtspflegerin wies den Antrag unter Hinweis auf die vorrangige Behördenberatung zurück. Zur Einlegung eines Widerspruchs sei in der Regel kein Rechtsanwalt erforderlich. Der Rechtsbehelf bedürfe keiner Begründung.

Die Erinnerung wurde mit dem angegriffenen richterlichen Beschluss zurückgewiesen. Ein Antragsteller müsse sich vor Inanspruchnahme von Beratungshilfe selbst um Klärung der Angelegenheit bemühen und die kostenfreie Beratung durch die zuständige Behörde in Anspruch nehmen.

2.

Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG durch die richterliche Entscheidung. Es handele sich um eine komplexe Rechtsangelegenheit. Wenn die Behörde als Gegner auftrete, müsse sich der unbemittelte Rechtsuchende auf fachkundige Hilfe Dritter verlassen. Die zunächst erhobene Rüge des Art. 103 Abs. 1 GG, weil das Amtsgericht den angebotenen Beweismitteln unter anderem zu den Kosten behördlicher Beratung nicht nachgegangen sei, wurde nicht aufrechterhalten.

3.

Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

1.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.

2.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Rücknahme einzelner Rügen ist bis zu Entscheidung über die Annahme der Verfassungsbeschwerde grundsätzlich unbeschränkt möglich (vgl. BVerfGE 85, 109 <113> ; 98, 218 <242 f.>). Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch nicht entgegen, dass die Beschwerdeführerin wegen des zunächst gerügten Gehörsverstoßes keine Anhörungsrüge erhoben hat. Dieser Weg ist nicht zu beschreiten, wenn die Anhörungsrüge offensichtlich aussichtslos wäre (vgl. BVerfGK 7, 115 <116>; 7, 403 <407>). Art. 103 Abs. 1 GG schützt nicht davor, dass das Vorbringen eines Beteiligten unberücksichtigt bleibt, weil es nach Ansicht des Gerichts für die zu treffende Entscheidung ersichtlich unerheblich ist (vgl. BVerfGE 96, 205 <216> ; stRspr).

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).

Es wird insoweit auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2009 - 1 BvR 1517/08, [...] - verwiesen, wonach die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung des Beratungshilfegesetzes, dass es einem Rechtsuchenden zumutbar sei, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die zuvor den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hat, den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht wird.

Das Amtsgericht hat keine Umstände angeführt, die die Notwendigkeit fremder Hilfe hier in Frage stellen könnten. Es geht nicht nur um Fragen allgemeiner Lebenshilfe, sondern um die rechtliche Auslegung einer Norm. Die Beschwerdeführerin beantragte Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren, insofern unterscheidet sich das Verfahrensstadium von einer erstmaligen Antragstellung oder einer bloßen Nachfrage. Die Verweisung auf die Beratung durch dieselbe Behörde, deren Entscheidung die Beschwerdeführerin angreifen will, überschreitet die Grenze der Zumutbarkeit.

III.

Die angegriffene Entscheidung wird gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut zu entscheiden hat.

Ende der Entscheidung

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