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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 30.09.2003
Aktenzeichen: 1 BvR 2388/02
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 14 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2388/02 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 28. November 2002 - 11 S 149/01 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Haas und den Richter Hoffmann-Riem

am 30. September 2003 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Landgerichts Potsdam vom 28. November 2002 - 11 S 149/01 - verletzt die Beschwerdeführer in ihren Grundrechten aus Artikel 14 Absatz 1

Satz 1 und Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz). Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Land Brandenburg hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 4.000 € (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage nach der Reichweite der Rechtskraftwirkung eines Urteils, mit dem eine auf Eigenbedarfsgründe gestützte Räumungsklage abgewiesen wurde.

1. Die Beschwerdeführer sind Eigentümer eines bebauten Grundstücks. Das Mietverhältnis mit dem Beklagten des Ausgangsverfahrens hatten sie erstmals 1997 unter anderem wegen Eigenbedarfs gekündigt. Die Räumungsklage war ohne Erfolg geblieben. Das Landgericht hatte zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Wunsch des Beschwerdeführers zu 2, das Gebäude zu erweitern und ein Architekturbüro einzurichten, beziehe sich nicht auf eine Wohnnutzung. Demgegenüber könne eine Eigenbedarfskündigung vor dem Hintergrund des Wunsches, durch den Bezug des eigenen Heims Mietzins einzusparen und so die finanzielle Situation zu verbessern, sowie des Wunsches, durch Nutzung einer ebenerdig gelegenen Wohnung Treppensteigen, das der Beschwerdeführerin zu 1 infolge ihrer gesundheitlichen Situation schwer falle, zu vermeiden, gerechtfertigt sein. Zweifel an dem Eigennutzungswunsch der Beschwerdeführerin zu 1 bestünden aber deshalb, weil die Beschwerdeführer zugleich konkrete Bemühungen unternommen hätten, das Haus zu verkaufen, und konkrete Planungen für eine gewerbliche Nutzung vorlägen. Die Beschwerdeführerin zu 1 werde vorgeschickt, um einen Eigenbedarf zu begründen, während das Grundstück in Wahrheit einer gewerblichen Nutzung zugeführt oder verkauft werden solle.

Die Beschwerdeführer kündigten das Mietverhältnis im Jahre 1999 erneut unter Berufung auf die Eigenbedarfswünsche der Beschwerdeführerin zu 1. Diese verfüge jetzt lediglich über eine Rente in Höhe von 1.528,25 DM sowie über einen Wohngeldzuschuss in Höhe von 32 DM. Gleichzeitig sei sie verpflichtet, für eine im 3. Obergeschoss gelegene Wohnung Miete in Höhe von 749,30 DM zu entrichten. Auch sei sie aus gesundheitlichen Gründen darauf angewiesen, die im Erdgeschoss gelegene Wohnung selbst zu nutzen. Nachweise über die Einkommenssituation der Beschwerdeführerin und ein neueres Attest über die Bandscheibenerkrankung wurden beigefügt. Das Amtsgericht gab der Räumungsklage der Beschwerdeführer nunmehr statt.

Das Landgericht änderte das Urteil des Amtsgerichts ab und wies die Klage der Beschwerdeführer ab. Das Amtsgericht sei infolge der Rechtskraftwirkung daran gehindert gewesen, über die neuerlich erhobene Herausgabeklage auf Grund der Eigenbedarfskündigung vom November 1999 abweichend zu entscheiden, nachdem das auf diverse vorausgegangene Eigenbedarfskündigungen gestützte Herausgabeverlangen im Vorprozess der Parteien über zwei Instanzen abgewiesen worden sei und die Kündigung neue Tatsachen nicht erkennen lasse. Aus der Zusammenschau des klägerischen Vorbringens werde deutlich, dass weder in den gesundheitlichen noch in den finanziellen Verhältnissen der Beschwerdeführerin eine maßgebliche Änderung des Kündigungssachverhalts gegenüber demjenigen im Vorprozess vorgetragen sei.

2. Die Beschwerdeführer wenden sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen das Berufungsurteil des Landgerichts und rügen im Wesentlichen eine Verletzung der Art. 14 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG). Das Landgericht habe ihnen die Möglichkeit einer Eigenbedarfskündigung genommen, indem es die zeitlichen Schranken der Rechtskrafterstreckung und den hierbei zu beurteilenden Streitgegenstand verkannt habe.

3. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens, das Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg und der Bundesgerichtshof hatten Gelegenheit zur Äußerung.

II.

1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung von Grundrechten der Beschwerdeführer angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Danach verstößt das Berufungsurteil des Landgerichts gegen Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).

a) Die Zivilgerichte haben bei der Prüfung, ob eine auf Eigenbedarfsgründe gestützte Räumungsklage begründet ist, den Einfluss des Grundrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG und des damit eng verzahnten Anspruchs auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes, der für den Bereich des Zivilprozesses durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gewährleistet ist (vgl. BVerfGE 93, 99 <107>), zu beachten (vgl. BVerfGE 79, 80 <84>). Damit ist es nicht vereinbar, wenn die Gerichte prozessrechtliche Vorschriften in einer Weise auslegen, die im Gesetz keine Stütze mehr findet und die daher die Verfolgung der Eigentümerinteressen unzumutbar erschwert (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 17. Juli 1992 - 1 BvR 893/92 -). b) Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Entscheidung mit Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zu vereinbaren.

Gemäß § 322 Abs. 1 ZPO ist ein Urteil nur insoweit der Rechtskraft fähig, als darin über den durch Klage erhobenen Anspruch entschieden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind bei der Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft eines klageabweisenden Urteils Tatbestand und Entscheidungsgründe einschließlich des Parteivorbringens heranzuziehen, da sich aus der Urteilsformel allein Streitgegenstand und damit Inhalt und Umfang der getroffenen Entscheidung nicht notwendig erkennen lassen (vgl. BGHZ 34, 337 <339>; 36, 365 <367>; 117, 1 <5>; BGH, NJW 1983, S. 2032; NJW 1995, S. 1757 f.). Sind die Entscheidungsgründe des Ersturteils, aus denen sich Tragweite und Gegenstand des klageabweisenden Urteils ergeben, dahingehend zu verstehen, dass die Klage im Vorprozess nicht als unbegründet, sondern als derzeit unbegründet abgewiesen ist, wobei es unschädlich ist, wenn dies im Tenor der Entscheidung nicht zum Ausdruck gebracht wird, dann steht die Rechtskraft dieses Urteils einer erneuten Klage nicht entgegen (vgl. BGHZ 35, 338 <340 f.>; BGH, BB 2000, S. 2490 f.). Diese Rechtsprechung entspricht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. Für den Fall einer Räumungsklage bedeutet dies, dass die Identität der Klageanträge allein ohne Bedeutung ist. Nach rechtskräftiger Abweisung der Räumungsklage steht für die Parteien lediglich fest, dass im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf Räumung nicht bestand. An einer neuen Klage, mit der geltend gemacht wird, das Mietverhältnis sei durch erneute Kündigung nunmehr beendet, ist der Eigentümer dadurch nicht gehindert (vgl. BGHZ 43, 144 <145 ff.>; BGH, NJW 1998, S. 374).

Danach hat das Landgericht den Umfang der Rechtskraft der Vorentscheidung in verfassungsrechtlich erheblicher Weise verkannt und den Beschwerdeführern dadurch die effektive Durchsetzung ihrer Eigentümerbefugnisse versagt.

Im Vorprozess war nicht darüber entschieden worden, ob eine auf finanzielle und gesundheitliche Gründe der Beschwerdeführerin zu 1 gestützte Eigenbedarfskündigung geeignet ist, das Mietverhältnis wirksam zu beenden. Das Urteil lässt aber erkennen, dass das Gericht eine auf diese Weise begründete Eigenbedarfskündigung grundsätzlich für gerechtfertigt hält. Abgewiesen wurde die Räumungsklage maßgeblich mit der Begründung, dass diese Kündigungsgründe angesichts zutagegetretener Verkaufs- und gewerblicher Nutzungsabsichten als nur vorgeschoben erschienen. Damit hat das Gericht zum Ausdruck gebracht, dass es die Räumungsklage als derzeit unbegründet erachtet. Einer erneuten, ausschließlich auf eine neuerliche Eigenbedarfskündigung der Beschwerdeführerin zu 1 gestützten Räumungsklage steht daher die Rechtskraft des im Vorprozesses ergangenen Berufungsurteils nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht entgegen. Mit der gegenteiligen Auffassung wird das Gericht der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG und dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gewährleistung wirkungsvollen Rechtsschutzes nicht gerecht.

c) Das angegriffene Urteil beruht auf der festgestellten Verletzung der Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).

2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit ergibt sich aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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