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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 03.02.2004
Aktenzeichen: 1 BvR 2491/97
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2491/97 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen § 41 Abs. 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch in der Fassung des Art. 1 Nr. 10 des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG) vom 25. September 1996 (BGBl I S. 1461) - nunmehr § 237 a Abs. 2 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch in der Fassung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1999 - RRG 1999) vom 16. Dezember 1997 (BGBl I S. 2998) -

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, den Richter Steiner und die Richterin Hohmann-Dennhardt gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 3. Februar 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Beschleunigung der Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen von 60 auf 65 Jahre durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996.

I.

1. Seit der Reform des Rentenversicherungsrechts durch das Arbeiterrenten- und das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 23. Februar 1957 (BGBl I S. 45, 88) konnten Frauen vorzeitig ohne Abschläge zu ihrem 60. Geburtstag in Rente gehen, wenn sie die Wartezeit von 15 Jahren zurückgelegt und nach ihrem 40. Lebensjahr mehr als zehn Jahre Pflichtbeiträge geleistet hatten. Für Arbeitslose galt eine ähnliche Regelung. Das regelmäßige Renteneintrittsalter wurde bei 65 Jahren belassen. Das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S. 1965) führte eine Altersgrenze von 63 Jahren für langjährig Versicherte ein.

a) Im Zuge der auf die Einfügung des Sechsten Buches (SGB VI) in das Sozialgesetzbuch gerichteten Rentenreform 1989/1992 entschied sich der Gesetzgeber dafür, die vorgezogenen Altersrenten stufenweise abzuschaffen, da sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern ständig verschlechtert hatte. Diese Entwicklung beruhe neben anderen Faktoren, auf die der Gesetzgeber keinen Einfluss habe, wie der Wirtschaftsentwicklung, der Geburtenzahl und der längeren Lebenserwartung, wesentlich auf dem Rentenzugangsalter, das stark gesunken sei. Dieser Trend müsse gebrochen werden (BTDrucks 11/4124, S. III, 136 f., 144 f.). Dadurch könne der Anstieg der Rentenversicherungsbeiträge gebremst werden.

§ 41 Abs. 1 SGB VI in der Fassung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (Rentenreformgesetz 1992 - RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I S. 2261) sah deshalb eine Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen und für Arbeitslose auf die Vollendung des 65. Lebensjahres vor. Diese Anhebung sollte stufenweise erfolgen, mit dem Geburtsjahrgang 1941, also mit Wirkung für das Rentenzugangsjahr 2001, einsetzen und mit dem Geburtsjahrgang 1952, demnach im Jahr 2017, abgeschlossen sein. Für die Jahrgänge 1941 bis 1944 sollte das Eintrittsalter um einen Monat je vier Monate, danach um einen Monat je zwei Monate kürzere Lebenszeit steigen. Ein vorzeitiger Rentenbeginn war für Versicherte mit Geburtstag ab November 1950 ab 61 und 62, für die älteren Jahrgänge ab 60 möglich. Die vorzeitige Inanspruchnahme führte aber zu einem dauerhaften Abschlag von 0,3 vom Hundert je Monat (§ 77 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a SGB VI). Das Rentenreformgesetz 1992 trat am 1. Januar 1992 in Kraft.

b) Auch nach der Reform 1992 sank das durchschnittliche Renteneintrittsalter weiter auf weniger als 60 Jahre (vgl. BTDrucks 13/4610, S. 19, 22). Die Belastung der Rentenkassen und die Beitragssätze stiegen weiter an. Ein besonderes Problem bestand im Zusammenhang mit der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit; die Frühverrentungspraxis weitete sich noch aus. Viele Unternehmen nutzten diese Möglichkeit zur Personalverringerung. Der Gesetzgeber befürchtete, diese Tendenz werde in den folgenden Jahren, in denen zahlenmäßig starke Jahrgänge ins Rentenalter kommen würden, noch zunehmen. Die Arbeitslosigkeit könne ohne Belastung der Rentenkassen durch Altersteilzeitmodelle bekämpft werden. Wer vorzeitig in Rente gehen wolle, solle die Kosten hierfür selbst tragen (vgl. BTDrucks 13/4336, S. 1 ff.). Änderungen bei der Rente wegen Arbeitslosigkeit müssten gleichermaßen die Rente für Frauen betreffen, insbesondere um Ausweichreaktionen zu vermeiden.

Auf der Grundlage dieser Erfahrungen zog der Gesetzgeber die durch das Rentenreformgesetz 1992 erfolgte Anhebung der Altersgrenze für Renten wegen Arbeitslosigkeit durch Art. 2 Nr. 5 des Gesetzes zur Förderung eines gleitenden Übergangs in den Ruhestand vom 23. Juli 1996 (BGBl I S. 1078) vor und beschleunigte sie. Sie setzte schon ab dem Jahrgang 1937 ein, also für das Rentenzugangsjahr 1997. Für rentennahe Jahrgänge blieb es aus Vertrauensschutzgründen bei der Staffelung nach dem Rentenreformgesetz 1992. Für alle Betroffenen wurde durch § 187 a SGB VI die Möglichkeit eingeführt, die Renteneinbuße bei vorzeitigem Rentenbeginn durch nachträgliche Zahlung von Beiträgen zu vermeiden.

Die entsprechende Neuregelung für Frauen enthielt Art. 1 Nr. 10 des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG; im Folgenden: WFG 1996) vom 25. September 1996 (BGBl I S. 1461). Nach § 41 Abs. 2 SGB VI in Verbindung mit Anlage 20 in der Fassung dieses Gesetzes begann die Anhebung bereits mit dem Jahrgang 1940, also ab dem Rentenzugangsjahr 2000. Die Anhebung wurde beschleunigt. Nunmehr stieg das Renteneintrittsalter durchgehend um einen Monat pro Monat kürzerer Lebenszeit. Die Anhebung wird im Jahre 2009 mit dem Jahrgang 1944 beendet sein. Alle betroffenen Frauen können vorzeitig mit 60 Jahren in Rente gehen. Dies führt aber zu einem Abschlag von bis zu 18 vom Hundert. Das WFG 1996 trat am 1. Januar 1997 in Kraft.

Aus Gründen des Vertrauensschutzes wurde der Beginn der Anhebung weniger stark vorgezogen als bei den Renten wegen Arbeitslosigkeit. Außerdem enthielt das WFG 1996 eine Übergangsregelung. Nach § 237 a Abs. 1 SGB VI in der Fassung dieses Gesetzes blieb es für bis zum 7. Mai 1941 geborenen Frauen bei der Regelung aus dem Rentenreformgesetz 1992, wenn sie am 7. Mai 1996 arbeitslos waren oder ihr Arbeitsverhältnis auf Grund einer Kündigung oder Vereinbarung, die vor dem 7. Mai 1996 erfolgt war, nach dem 6. Mai 1996 beendet worden ist. Dies sollte die rentennahen Jahrgänge über 55 schützen. Im so genannten Montanbereich wurden alle mehr als 52 Jahre alten Frauen von der Übergangsregelung erfasst. Der 7. Mai 1996 war der Tag, an dem das Bundeskabinett den Entwurf des WFG 1996 beschlossen hatte (vgl. BTDrucks 13/4610, S. 25).

c) Durch das Rentenreformgesetz 1999 (RRG 1999) vom 16. Dezember 1997 (BGBl I S. 2998) wurde der besondere Zugang von Frauen zur Altersrente ganz abgeschafft. Nach § 237 a Abs. 1 SGB VI ist eine vorzeitige Inanspruchnahme mit Abschlägen nur noch bis zum Jahrgang 1951 möglich. Die Anhebung der Altersgrenzen nach dem WFG 1996 ist jetzt in § 237 a Abs. 2 SGB VI, die Übergangsregelung für die vor dem 7. Mai 1941/1944 geborenen Frauen in § 237 a Abs. 3 SGB VI geregelt. Dort wurden in Nr. 3 zusätzlich Frauen bis zum Geburtsjahrgang 1941 und 45 Jahren mit Pflichtbeiträgen in die Vertrauensschutzregelung aufgenommen.

2. Die Beschwerdeführerin ist am 4. Januar 1942 geboren. Sie arbeitete beitragspflichtig von 1958 bis 1964 und nach einer Familienpause wieder ab 1970. Ihr Ehemann ist 17 Jahre älter als sie. Er hatte bei der Scheidung seiner ersten Ehe Teile seiner Versorgungsanwartschaften seiner früheren Ehefrau übertragen. Nachdem er mit 65 Jahren in Rente gegangen war, wollte auch die Beschwerdeführerin ihre Erwerbstätigkeit beenden. Sie kündigte ihr Arbeitsverhältnis zum 31. Januar 1992, als sie die Halbbelegung nach dem 40. Geburtstag erreicht hatte. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) hatte die Beschwerdeführerin in einer Auskunft im Juni 1991 auf die bevorstehenden Änderungen durch das Rentenreformgesetz 1992 hingewiesen, ebenso darauf, dass sich aus künftigen Rechtsänderungen weitere Abweichungen ergeben könnten. Nach dem Rentenreformgesetz 1992 hätte die Beschwerdeführerin bei Rentenbeginn ab Vollendung ihres 60. Lebensjahres eine um 1,2 vom Hundert geminderte oder bei einem Rentenbeginn vier Monate später, am 1. Juni 2002, die volle Rente erhalten.

1997 teilte die BfA der Beschwerdeführerin mit, sie könne nach den nun maßgeblichen Bestimmungen des WFG 1996 erst mit 62 Jahren und einem Monat am 1. März 2004 eine volle Rente beziehen. Gehe sie mit 60 Lebensjahren in Rente, so müsse sie eine Einbuße von 7,5 vom Hundert, etwa 160 DM monatlich, hinnehmen. Diese Einbuße könne sie durch eine Nachzahlung von ca. 36.000 DM verhindern.

3. Mit ihrer am 19. Dezember 1997 eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin direkt gegen § 41 Abs. 2 SGB VI in der Fassung des WFG 1996. Sie trägt vor, schon das Gesetz beschwere sie, weil es sie zu Dispositionen für 21 Monate ohne Rente oder die hohe Rentenminderung bei vorzeitigem Bezug zwinge; damit habe sie nicht gerechnet. Sie habe darauf vertraut, mit 60 Lebensjahren oder nach den Regelungen des Rentenreformgesetzes 1992 zumindest vier Monate später die volle Rente zu erhalten. Bis zu ihrem Renteneintritt sei sie bei einem Tod ihres Mannes nicht ausreichend abgesichert. Diesen Zeitraum habe das WFG 1996 erheblich verlängert. Die Anhebung der Altersgrenzen verletze Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Vor allem habe der Gesetzgeber den Grundsatz des Vertrauensschutzes missachtet, als er schon nach vier Jahren eine detaillierte, lang in die Zukunft weisende Übergangsregelung zu ihrem Nachteil verändert habe. Jedenfalls hätte er Frauen wie sie, die im Hinblick auf den vorherigen Rechtszustand ihre Berufstätigkeit aufgegeben hätten, in die neue Übergangsregelung einbeziehen müssen. Außerdem rügt die Beschwerdeführerin, der Grundsatz der Belastungsgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG sei verletzt, weil das neue Recht nur künftige Rentenbezieher und nur bestimmte Gruppen von ihnen treffe.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Sie hat im Ergebnis keine Aussicht auf Erfolg (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Die Beschwerdeführerin ist durch die angegriffene Vorschrift, gegen die sie fristgemäß Verfassungsbeschwerde eingelegt hat, selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Zwar muss ein Normadressat grundsätzlich einen besonderen Vollzugsakt abwarten, den ein Gesetz voraussetzt (vgl. BVerfGE 58, 81 <104 f.>; stRspr). Ausnahmsweise trifft ihn aber ein Gesetz unmittelbar, wenn es ihn bereits vor dessen Vollzug zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder zu Dispositionen veranlasst, die er nicht oder nur schwer wieder rückgängig machen kann (vgl. BVerfGE 65, 1 <37 f.>; 72, 39 <44>). Eine solcher Fall liegt hier vor. Ab welchem Zeitpunkt die Beschwerdeführerin mit welchen Abschlägen in Rente gehen kann, ergibt sich unmittelbar aus der von ihr angegriffenen Bestimmung. Bereits 1997 musste sie im Hinblick auf die veränderte rentenrechtliche Situation entscheiden, ob sie wieder erwerbstätig werden, Beiträge nachzahlen oder privat vorsorgen sollte. Diese Schritte hätte sie später nicht oder nur schwer wieder rückgängig machen können.

2. Die Verfassungsbeschwerde hat jedoch keine Aussicht auf Erfolg. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten.

Es ist hier nicht zu prüfen, ob die im RRG 1992 getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, den Regelzugang zur Altersrente für Mann und Frau gleichermaßen auf das vollendete 65. Lebensjahr festzulegen und eine Anhebung des Renteneintrittsalters für Frauen schrittweise ab dem Geburtsjahrgang 1941 vorzunehmen, im Einklang mit dem Grundgesetz steht. Diese Regelung, von der die 1942 geborene Beschwerdeführerin bereits betroffen wurde, ist nicht Gegenstand der vorliegenden Verfassungsbeschwerde. Die Kammer braucht auch nicht zu entscheiden, ob die gesetzliche Gewährung einer ungeminderten Altersrente bei Vollendung eines bestimmten Lebensjahres zur grundrechtlich geschützten Rentenanwartschaft zählt (vgl. BVerfGE 22, 241 <253>). Bejaht man dies, läge zwar ein Eingriff vor, weil die angegriffene Regelung auch die rentenrechtliche Position solcher Frauen minderte, die im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des WFG 1996 - bis auf das Eintrittsalter - bereits alle Voraussetzungen einer vollen Rente ab 60 Lebensjahren erfüllt hatten. Im Falle der Beschwerdeführerin wurde insbesondere der Abschlag bei vorzeitigem Renteneintritt von 1,2 auf 7,5 vom Hundert erhöht; dies minderte den Wert ihres Rentenanspruchs um weitere 6,3 vom Hundert. Als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG genügt die angegriffene Regelung jedoch verfassungsrechtlichen Anforderungen.

a) Die in Frage stehende Regelung ist von gewichtigen öffentlichen Interessen getragen. Der Gesetzgeber wollte mit dem WFG 1996 ebenso wie schon vorher mit dem RRG 1992 die Beitragssätze senken oder jedenfalls stabilisieren, um so die Rentenversicherung dauerhaft für die Beitragspflichtigen bezahlbar zu erhalten und den Produktionsfaktor Arbeit im Interesse der Schaffung oder jedenfalls der Erhaltung von Arbeitsplätzen von zusätzlichen Lohnnebenkosten frei zu halten. Diese Ziele dienen dem allgemeinen Wohl im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG und sind legitim (vgl. BVerfGE 103, 293 <306 f.>).

b) Die angegriffene Regelung ist auch verhältnismäßig im weiteren Sinne.

aa) Die Regelung war geeignet, die vom Gesetzgeber angestrebten Ziele zu erreichen. Ihm steht im Sozialversicherungsrecht wie in allen komplexen, auf künftige Entwicklungen ausgelegten Rechtsbereichen ein weiter Einschätzungsspielraum zu (vgl. BVerfGE 37, 104 <118>; 78, 249 <288>). Von diesem Einschätzungsspielraum sind die Vorschriften über die beschleunigte Anhebung des Renteneintrittsalters gedeckt. Sie veranlassen regelmäßig die Versicherten, länger erwerbstätig zu sein und Beiträge in die Sozialkassen zu zahlen. Anreize zur Frühverrentung, die sich mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit seit den 1980er Jahren stark verbreitet hatte (vgl. Binne, DRV 1996, 145 <147>), werden vermindert. Auch die Altersrente für Frauen löste solche Anreize aus, denn gerade sie konnte wegen des Erfordernisses der Halbbelegung nach dem 40. Lebensjahr überwiegend nur von berufstätigen Frauen in Anspruch genommen werden. Auf der anderen Seite wurde die durchschnittliche Rentenbezugsdauer der Frauen um den Zeitraum bis zu dem späteren Renteneintritt verringert. Der Gesetzgeber schätzte das Einsparvolumen als Folge des veränderten Rentenzugangsrechts des WFG 1996 auf 27,0 Mrd. DM (BTDrucks 13/4610, S. 3). Diese Einschätzung hat sich nicht als offensichtlich unhaltbar erwiesen. Das Bundesverfassungsgericht kann sie daher seiner Prüfung zu Grunde legen (vgl. BVerfGE 50, 290 <332 f.>).

bb) Die beschleunigte Anhebung der Altersgrenze durch das WFG 1996 war auch erforderlich. Dem Gesetzgeber stand kein milderes, die Betroffenen insgesamt weniger belastendes Mittel zur Verfügung, mit dem er seine Ziele ebenso gut erreichen konnte. Der Gesetzgeber kann nicht darauf verwiesen werden, eine Einsparung an anderer, von dem betreffenden Gesetz nicht erfasster Stelle zu erzielen (vgl. BVerfGE 75, 78 <101 f.>; 103, 172 <189>). Er war unter dem Gesichtspunkt des Erforderlichkeitsgrundsatzes nicht verpflichtet, die Bestandsrenten abzusenken oder auf eine Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung zu verzichten. Ebenso wenig musste er zur Finanzierung eines höheren Bundeszuschusses Steuern einführen oder erhöhen.

cc) Die Regelung ist auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Sie war durch einen massiven Anstieg der Ausgaben der Rentenversicherungsträger veranlasst, der zu immer höheren Beiträgen geführt hatte. Die nachteiligen Folgen dieser Entwicklung für Beitragszahler, Wirtschaft und Arbeitsmarkt durfte er als gewichtig bewerten. Für die Zukunft wurden Beiträge von 26 bis 28 vom Hundert befürchtet; vor der Reform 1989/1992 waren sogar Sätze von 40 vom Hundert prognostiziert worden (Ruland, DRV 1997, S. 94 <97>). Dem stand auf Seiten der betroffenen Frauen ein Eingriff in eine Rentenanwartschaft und nicht in einen schon bestehenden Rentenanspruch gegenüber. Anwartschaften sind aber wegen des großen Zeitraums zwischen ihrem Erwerb und der Aktivierung des Rentenanspruchs naturgemäß stärker einer Veränderung der für die Rentenversicherung maßgeblichen Verhältnisse unterworfen. Die in ihrer Wertigkeit durch den Zeitpunkt des Renteneintritts mitbestimmten Anwartschaften waren bereits durch die Reform 1992 - die nicht Gegenstand der vorliegenden Verfassungsbeschwerde ist - geschwächt. Die Versicherten hatten sich bereits darauf einstellen müssen, länger im Erwerbsleben zu verbleiben oder eine zusätzliche Absicherung aufzubauen.

Zudem beließ auch das WFG 1996 den Frauen die Wahlmöglichkeit, zu dem geplanten Zeitpunkt mit Abschlag in Rente zu gehen oder länger zu arbeiten und den Rentenantrag hinauszuschieben, um so die Einbuße zu vermeiden. Letztlich diente die in Frage stehende Regelung auch den betroffenen Frauen selbst, weil sie es - auch im Interesse der Funktionsfähigkeit des Rentenversicherungssystems - der erwerbstätigen Generation erleichterte, den Aufwand für die Altersrente durch Beiträge zu finanzieren.

c) Die Neuregelung durch das WFG 1996 genügte auch dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes. Dabei kann offen bleiben, ob sich dieser Grundsatz bei Rentenanwartschaften aus Art. 14 Abs. 1 GG ergibt oder aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet wird (vgl. BVerfGE 67, 1 <14 f.>).

aa) Die hier angegriffene Regelung stellt sich für die Beschwerdeführerin als nachteilige Abänderung einer Übergangsregelung dar, die die Grundsatzentscheidung des Gesetzgebers für eine Anhebung des Lebensalters als Voraussetzung des Zugangs der Frauen zur Altersrente flankieren und sie abmildern sollte. Diese Grundsatzentscheidung hat die Beschwerdeführerin rechtlich nicht angegriffen.

bb) Beseitigt der Gesetzgeber Übergangsregelungen, die er aus Vertrauensschutzgründen erlassen hat, vor Ablauf der für den Übergang vorgesehenen Zeit zu Lasten des Berechtigten, so muss seine Regelung im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz besonders strengen Anforderungen genügen (vgl. BVerfGE 102, 68 <97>). Mit Übergangsregelungen verwirklicht er sein Konzept, in welchem Zeitraum und in welchen Stufen er ein Ziel erreichen will. Dadurch setzt er einen besonderen Vertrauenstatbestand. Der Bürger darf davon ausgehen, dass der Gesetzgeber sein Konzept für den Übergangszeitraum durchdacht hat und insbesondere künftige Entwicklungen, soweit sie vorhersehbar sind, berücksichtigt. Auf diese Übergangsregelungen stellt sich der Bürger ein. Deshalb darf der Gesetzgeber sein Konzept nur ändern, wenn sich die für die Ausgestaltung der Übergangsregelung ursprünglich maßgebenden Umstände nachträglich geändert haben und wenn darüber hinaus - vorausgesetzt, das Interesse der Betroffenen auf einen Fortbestand der Regelung ist schutzwürdig und hat hinreichendes Gewicht - schwere Nachteile für wichtige Gemeinschaftsgüter zu erwarten sind, falls die geltende Übergangsregelung bestehen bleibt (BVerfG, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch für befristete Übergangsregelungen, die noch nicht zur Anwendung gekommen sind. In diesen Fällen wiegt jedoch der gesetzgeberische Eingriff weniger schwer. Die durch die Übergangsregelung bewirkte Begünstigung wird nicht beseitigt. Sie wird nur abgeschwächt. Hat der Vollzug einer Übergangsregelung - wie hier - noch nicht zu dem Zeitpunkt begonnen, zu dem sie geändert wird, so verbleibt den Betroffenen ein größerer Zeitraum, sich - erneut - auf die neue Rechtslage einzustellen und etwa getroffene Dispositionen anzupassen. Weiter sind geringere Anforderungen an die Änderung von Übergangsrecht zu stellen, wenn dieses langfristig angelegt ist. Je länger dieser Zeitraum ist, umso wahrscheinlicher ist es, dass sich die für das Übergangskonzept maßgeblichen Umstände ändern und den Gesetzgeber vor eine neue Situation stellen. Die mit langfristigen Regelungen, auch mit solchen des Übergangsrechts, verbundene Unsicherheit ist regelmäßig dem Bürger auch bewusst.

Eine solche Situation war hier gegeben. Die Regelungen des RRG 1992 sollten erst mit dem Jahr 2001 einsetzen; 1996 war dieser Zeitpunkt noch fünf Jahre entfernt. Der vorzeitige Rentenbeginn für Frauen wurde nicht abgeschafft, sondern zeitlich hinaus geschoben. Es blieb zudem die Möglichkeit erhalten, mit etwas höheren Abschlägen den auf Grund der alten Rechtslage geplanten Zeitpunkt für die Stellung des Rentenantrags wahrzunehmen. Die ursprüngliche Regelung war bis zum Jahre 2017 auf einen Vollzug angelegt. Dies ist vom In-Kraft-Treten des RRG 1992 ab immerhin ein Zeitraum von fast 28 Jahren.

cc) Der Gesetzgeber konnte 1996 für die von ihm vorgenommene Änderung des Übergangsrechts gewichtige Belange des Gemeinwohls geltend machen, die ihre Grundlage in den nach der Rentenreform 1992 entstandenen Verhältnisses hatten. Die Beiträge stiegen nach 1992 weiter, von 17,7 vom Hundert im April 1991 bis auf 19,2 vom Hundert 1996 und sogar 20,3 vom Hundert 1997 (vgl. BfA, www.bfa.de/ger/ger_zahlenfakten.8/ger_rvwerte.81/ger_81_beitragssatz.html). Die Frühverrentung nahm zu. Das Renteneintrittsalter sank weiter ab, gerade bei Frauen. 1996 waren schon 373.000 von 542.000 der Neurentnerinnen, also 68,8 vom Hundert, unter 65 (vgl. Statistisches Jahrbuch 1998, Tab. 19.4.3, S. 454). Diese Entwicklung hatte der Gesetzgeber bei der Rentenreform 1989/1992 ebenso wenig absehen können wie den Misserfolg der 1992 eingeführten Teilrente (§ 42 SGB VI in der Fassung des RRG 1992). Vor allem aber hatte die deutsche Vereinigung seine Erwartungen durchkreuzt. Die Rentenreform 1989/1992 war vor dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik, nämlich im November 1989, verabschiedet worden und zeitgleich mit der Überleitung der Renten des Beitrittsgebiets am 1. Januar 1992 in Kraft getreten. Diese Überleitung hatte die Rentenkassen erheblich belastet. Der Bund hatte nur einen Teil der übergeleiteten Renten übernommen (§ 15 Abs. 1 AAÜG). Zudem entwickelte sich die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland erheblich ungünstiger als zuvor angenommen worden war. Die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Regelung sollte die Rentenkasse auch aus diesem Grunde wirksam entlasten.

dd) Die vom Gesetzgeber vorgenommene Abwägung der dargestellten Gemeinwohlbelange mit den Interessen der betroffenen Frauen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die den Frauen durch die Regelung zugefügten Nachteile sind noch zumutbar, zumal die Möglichkeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme der Altersrente sogar erweitert wurde. Dass es zu diesen Nachteilen als Folge einer veränderten Altersgrenze kommen würde, war seit 1989 bekannt. Für die rentennahen Jahrgänge wurde die alte Staffelung beibehalten. Allen anderen Betroffenen stand eine erneute Anpassungszeit von mindestens fünf Jahren offen, bei der Beschwerdeführerin sogar der Zeitraum von Mai 1996 bis zu ihrem nach dem RRG 1992 eröffneten Rentenbeginn im Juni 2002. Dieser Zeitraum kann bei generalisierender Betrachtungsweise als noch ausreichend angesehen werden, um schon getroffene Dispositionen an die neue Rechtslage anzupassen.

3. Von einer weiteren Begründung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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