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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 05.08.1998
Aktenzeichen: 1 BvR 264/98
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 264/98 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

der Deutschen Telekom AG,

vertreten durch den Vorstand Dr. Ron Sommer, Frerich Görts, Dr. Hagen Hultzsch, Dr. Joachim Kröske, Carl-Friedrich Meißner, Gerd Tenzer, Dr. Herbert May, Friedrich-Ebert-Allee 140, Bonn,

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Heinrich F. Curschmann und Partner, Baumwall 7, Hamburg -

gegen

das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 7. März 1995 - 3 AZR 321/94 -

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Kühling, die Richterin Jaeger und den Richter Steiner gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 5. August 1998 einstimmig beschlossen:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, mit dem der Ausschluß teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer aus einer betrieblichen Altersversorgung wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG für rechtsunwirksam erklärt worden war. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG), weil das Bundesarbeitsgericht den Rechtsstreit nicht dem Europäischen Gerichtshof zur Beantwortung der Frage vorgelegt habe, ob das für das Lohndiskriminierungsverbot des Art. 119 EGV vom Europäischen Gerichtshof entwickelte und im Barber-Protokoll festgestellte Rückwirkungsverbot auch bei deutschen Diskriminierungsverboten (hier: Art. 3 GG und § 2 Abs. 1 BeschFG 1985) Geltung beansprucht.

1. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens war vom 14. März 1966 bis 28. Februar 1993 bei der Beschwerdeführerin, einem Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost, als Arbeiterin beschäftigt. Seit dem 1. März 1993 bezieht sie gesetzliche Altersrente und eine Zusatzversorgung von der Versorgungsanstalt der Deutschen Bundespost (VAP). Gemäß § 24 des von der Deutschen Bundespost mit der Deutschen Postgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrages für Arbeiter der Deutschen Bundespost (TV Arb) sind die Arbeiter bei der VAP nach Maßgabe des Versorgungstarifvertrages der Deutschen Bundespost (VersorgungsTV) in seiner jeweiligen Fassung zu versichern. Dieser sah in § 3 eine Versicherungspflicht nur bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vor, deren durchschnittliche Wochenarbeitszeit mindestens die Hälfte der jeweils geltenden regelmäßigen Wochenarbeitszeit eines entsprechend vollbeschäftigten Arbeitnehmers betrug. Ab 1. Januar 1988 reichte für die Versicherungspflicht eine Wochenarbeitszeit von mindestens 18 Stunden aus. Seit dem 1. April 1991 besteht die Versicherungspflicht bereits dann, wenn der Arbeitnehmer nicht nur im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB IV geringfügig beschäftigt ist. Während der Beschäftigungszeit der Beschwerdeführerin schwankte deren Wochenarbeitszeit zwischen 12 und 43 Stunden. Auf der Grundlage der einschlägigen tarifvertraglichen Anspruchsvoraussetzungen versicherte die Beschwerdeführerin die Klägerin daher nur in der Zeit zwischen dem 9. Mai 1966 und dem 29. Februar 1976.

2. Mit ihrer vor dem Arbeitsgericht erhobenen Klage vertrat die Klägerin den Rechtsstandpunkt, ihr zeitweiser Ausschluß aus der Zusatzversorgung der VAP verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz sowie gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 3 Abs. 2 und 3 GG und Art. 119 EG-Vertrag. Sie beantragte daher, die Beschwerdeführerin zu verurteilen, ihr eine Versorgung nach Maßgabe der Satzung der VAP zu verschaffen, als wäre sie von ihr auch in der übrigen Zeit versichert worden. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht entschieden antragsgemäß. Auf die Revision der Beschwerdeführerin verwies das Bundesarbeitsgericht die Sache an das Landesarbeitsgericht zurück, weil noch weiterer Bedarf für eine Sachaufklärung bestehe. Einen Anspruch der Klägerin auf Verschaffung einer Versorgungsrente hielt es grundsätzlich für gegeben an, weil die Regelungen in § 3 des VersorgungsTV gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstießen. Es sah dabei keinen Anlaß, den Versorgungsverschaffungsanspruch im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 119 EWGV/EGV im Falle Barber und das Barber-Protokoll für Zeiten vor dem 17. Mai 1990, dem Tag des Erlasses des Urteils Barber, auszuschließen.

Dazu führte es sinngemäß aus, Art. 119 EGV sorge auf europäischer Ebene für einen sozialen Mindeststandard. Ein weitergehender sozialer Schutz durch nationales Recht werde dadurch nicht ausgeschlossen. Auch die in Maastricht beschlossene Protokollerklärung zu Art. 119 EGV (Barber-Protokoll) führe zu keinem anderen Ergebnis. Aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Protokolls ergebe sich zweifelsfrei, daß damit nur eine Beschränkung der rückwirkenden Belastungen aus der Entwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 119 EGV erreicht werden sollte. Die Mitgliedstaaten hätten auf diese Weise lediglich die zeitliche Wirkung des Art. 119 EGV eingeschränkt, aber nicht darüber hinaus auf die nationalen Rechtsordnungen eingewirkt. Diese Auslegung der Protokollerklärung sei derart offenkundig, daß auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Europäischen Gerichtshof selbst kein Raum für einen vernünftigen Zweifel am Auslegungsergebnis bleiben könne.

II.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, soweit darin für das Berufungsgericht bindend festgestellt wird, daß der Klägerin ein Versorgungsverschaffungsanspruch auch für die Zeit vor dem 17. Mai 1990 zusteht. Sie sieht darin einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 2 GG. Das Bundesarbeitsgericht hätte die Frage, ob Art. 119 EWGV/EGV und das Barber-Protokoll eine rückwirkende Anwendung auch nationaler Diskriminierungsvorschriften für die Zeit vor dem 17. Mai 1990 verbiete, nicht selbst entscheiden dürfen, sondern sie dem dafür zuständigen Europäischen Gerichtshof vorlegen müssen. Es habe sich seiner Vorlagepflicht aus Art. 177 Abs. 3 EGV nicht mit dem Hinweis entziehen können, es könne keinen vernünftigen Zweifel an der Richtigkeit seines Auslegungsergebnisses geben. Das könne angesichts der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Vroege und im Hinblick auf die Vorlagen von Gerichten anderer Mitgliedstaaten, die dem Europäischen Gerichtshof zahlreiche Fragen zur Reichweite des Barber-Protokolls vorgelegt hätten, nicht behauptet werden. Auch der Umstand, daß das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Beschluß vom 10. Februar 1995, 3 Sa 2116/93) die Frage dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt habe, sei ein Beleg für die noch bestehenden Zweifel hinsichtlich der Reichweite der zeitlichen Beschränkung des Art. 119 und des Barber-Protokolls gegenüber nationalen Diskriminierungsverboten. Es liege daher - zumindest objektiv - ein Fall offensichtlich unhaltbarer Handhabung der Vorlagepflicht vor.

III.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen.

1. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Die mit ihr aufgeworfenen Fragen sind in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung wie folgt geklärt worden:

Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Art. 177 EWGV/EGV weist ihm die Aufgabe zu, in Vorabentscheidungsverfahren das Gemeinschaftsrecht einheitlich auszulegen. Das nationale Gericht ist unter den Voraussetzungen des Art. 177 Abs. 3 EWGV/EGV von Amts wegen gehalten, den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Diese Pflicht ist kraft der durch die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 24 Abs. 1 und Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erteilten Rechtsanwendungsbefehle Teil der innerstaatlichen deutschen Rechtsordnung und daher von den deutschen Gerichten zu beachten (BVerfGE 82, 159 <192, 193>).

Die grundrechtsähnliche Gewährleistung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG läßt das Bundesverfassungsgericht nicht zu einem Kontrollorgan werden, das jeden einem Gericht unterlaufenen, die Zuständigkeit des Gerichts berührenden Verfahrensfehler korrigieren müßte (BVerfGE 82, 159 <194>; vgl. auch schon BVerfG, Beschluß der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987, 2 BvR 808/82, in: EuGRZ 1988, S. 109 <110>). Es beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen daher nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Davon geht das Bundesverfassungsgericht auch aus, soweit Art. 177 EWGV/EGV den Europäischen Gerichtshof funktional in die Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten eingliedert (BVerfGE 82, 159 <194, 195>).

Die Vorlagepflicht wird nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht seine Vorlageverpflichtung grundsätzlich verkennt. Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewußt von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (BVerfGE 82, 159 <195, 196>).

2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung des als verletzt bezeichneten Grundrechts angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), denn sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Beschwerdeführerin wird durch die angegriffene Entscheidung nicht in ihren Rechten aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

Das Bundesarbeitsgericht hat seine Vorlageverpflichtung mit zumindest vertretbarer Begründung verneint.

a) Zur Geltung eines aus Art. 119 EWGV/EGV und dem Barber-Protokoll folgenden Rückwirkungsverbot gegenüber nationalen Diskriminierungsverboten hat sich der Europäische Gerichtshof bislang nicht geäußert.

Die von der Verfassungsbeschwerde herangezogene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Vroege (EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-57/93, BetrAV 1994, S. 252 ff.) ist nicht einschlägig. In diesem Verfahren ging es nur um die Frage, ob auch der Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem, der Teilzeitbeschäftigten verwehrt worden war und daher gegen Art. 119 EWGV verstieß, den vom Europäischen Gerichtshof im Falle Barber zu Art. 119 EWGV entwickelten und im Barber-Protokoll festgeschriebenen zeitlichen Beschränkungen unterlag, ob also ein den Barber-Fällen vergleichbarer Sachverhalt vorlag. Der Europäische Gerichtshof hat diese Frage verneint. Weitergehende Aussagen zur Anwendung nationaler Diskriminierungsverbote, die denselben Sachverhalt regeln, enthält das Urteil nicht.

b) Die Nichtvorlage an den Europäischen Gerichtshof ist auch nicht deshalb unvertretbar, weil das Bundesarbeitsgericht der von der Beschwerdeführerin vertretenen Gegenauffassung nicht gefolgt ist.

Die vom Bundesarbeitsgericht in der angegriffenen Entscheidung vertretene Auffassung, daß der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegende Fall des Ausschlusses teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer von der betrieblichen Altersversorgung nicht zu den Fällen gehört, in denen die Barber-Rechtsprechung und das Barber-Protokoll eine Rückwirkungsbegrenzung vorsehen, leuchtet ein, ist jedenfalls aber gut vertretbar (1). Dasselbe gilt für die Annahme, das europarechtliche Rückwirkungsverbot schließe die Anwendung nationaler Diskriminierungsverbote nicht aus (2).

(1) Die von der Beschwerdeführerin als vorlagepflichtig angesehene Frage nach der Reichweite des vom Europäischen Gerichtshof für die Barber-Fälle europarechtlich entwickelten Vertrauensschutzes im Hinblick auf nationale Diskriminierungsverbote hängt davon ab, daß ein den Barber-Fällen vergleichbarer Sachverhalt vorliegt. Der Europäische Gerichtshof hat jedoch wiederholt entschieden, daß die zeitlichen Wirkungen des Urteils Barber nur die Formen von Diskriminierungen betreffen, die die Arbeitgeber und die Rentensysteme aufgrund der vorübergehenden Ausnahmeregelungen, die das auf Betriebsrenten anwendbare Gemeinschaftsrecht vorsieht, vernünftigerweise als zulässig ansehen konnten (EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-57/93, Vroege, BetrAV 1994, S. 252 <253>; EuGH, Urteil vom 24. Oktober 1996, Rs. C-435/93, Dietz, NZA 1997, S. 83 <84>; EuGH, Urteil vom 11. Dezember 1997, Rs. C-246/96, Magorrian/Cunningham, NZA 1998, S. 361 <362>). Mit dieser Ausnahmeregelung meint der Europäische Gerichtshof in erster Linie Art. 9 der Richtlinie 86/378/EWG (ABl. Nr. L 225/40), mit dem nach Ansicht des Gerichts ein Vertrauenstatbestand hervorgerufen wurde, der eine zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils Barber erforderte. Art. 9 der Richtlinie befaßt sich nur mit der Festsetzung des Rentenalters und der Hinterbliebenenrenten, nicht dagegen mit der Frage des Ausschlusses Teilzeitbeschäftigter von einem System der betrieblichen Altersversorgung. Demgemäß hat der Europäische Gerichtshof entschieden, daß die zeitliche Beschränkung der Wirkungen des Urteils Barber für den zuletzt genannten Fall nicht gilt (vgl. die oben genannten Entscheidungen in Sachen Vroege, Dietz und Magorrian/Cunningham). Statt dessen hat er hinsichtlich des Anspruchs Teilzeitbeschäftigter auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem darauf hingewiesen, es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, daß sich die betroffenen Verkehrskreise über die Anwendbarkeit von Art. 119 EWGV/EGV irren konnten. Das sei seit Erlaß des Urteils in Sachen Bilka (EuGH, Urteil vom 13. Mai 1986, Rs. 170/74, NJW 1986, S. 3020) klar. Die Wirkungen dieses Urteils habe er zeitlich nicht beschränkt. Eine Begrenzung komme lediglich für den Zeitpunkt des Erlasses des Urteils in Sachen Defrenne (EuGH, Urteil vom 8. April 1976, Rs. 43/75, NJW 1976, S. 2068) in Betracht, in dem erstmals die unmittelbare Wirkung des Art. 119 EWGV anerkannt worden sei (vgl. die oben angeführten Entscheidungen des EuGH in Sachen Vroege, Dietz und Magorrian/Cunningham).

Das Barber-Protokoll dient der Präzisierung und Begrenzung der Reichweite des Barber-Urteils und enthält erkennbar keine weitergehenden Festlegungen (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 28. September 1994, Rs. C-128/93, Fisscher, NZA 1994, S. 1123 <1125>; Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, München 1996, S. 117, 118). Ist das zu verneinen, stellt sich die Vorlagefrage nicht mehr. Eine der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts eindeutig vorzuziehende Gegenauffassung gibt es schon deshalb insoweit nicht.

(2) Die von der Beschwerdeführerin vertretene Auffassung, das europarechtliche Rückwirkungsverbot gelte auch für nationale Diskriminierungsverbote, ist dem vom Bundesarbeitsgericht vertretenen gegenteiligen Standpunkt jedenfalls nicht eindeutig vorzuziehen.

Eine ausdrückliche Anordnung in diesem Sinne enthalten weder Art. 119 EWGV/EGV noch das Barber-Protokoll. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem Beschluß vom 27. November 1997 zum Hamburger Ruhegeldgesetz gegen eine solche Annahme ausgesprochen (1 BvL 12/91, Umdruck S. 21 f.). Diese Auffassung wird auch von Teilen der Literatur vertreten (Louven, a.a.O., S. 121; Langohr-Plato, Auswirkungen des europarechtlichen Lohngleichheitsgrundsatzes auf das deutsche Betriebsrentenrecht, EuZW 1995, S. 239 <241>; Rühmann, Auswirkungen der neueren EuGH-Rechtsprechung auf die Gestaltung berieblicher Versorgungsregelungen, BetrAV 1994, S. 107 <109>; Thannheiser, Anmerkung zum Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 16. Janur 1996, AiB 1997, S. 125 <128>; Colneric, Neue Entscheidungen des EuGH zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen, EuZW 1991, S. 75 <76>).

Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des Barber-Protokolls und des Art. 119 EWGV/EGV bestätigen die Gegenansicht der Beschwerdeführerin nicht. Sowohl die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als auch die Vereinbarung des Barber-Protokolls waren darauf angelegt, die nach dem Wortlaut weitreichenden Folgen des Barber-Urteils zu begrenzen. Schon das spricht dagegen, dem Protokoll Aussagen über die zeitliche Geltung nationalen Rechts zu entnehmen. Der Europäische Gerichtshof hat außerdem klargestellt, daß die zeitliche Einschränkung des Barber-Urteils auf einer durch Art. 9 der Richtlinie 86/378/EWG geschaffenen Vertrauensgrundlage beruhe. Zur Existenz und Bedeutung von Vertrauensgrundlagen und zum Vorliegen schutzwürdigen Vertrauens auf nationaler Ebene, die sich ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen einzelstaatlich sehr unterschiedlich darstellen können, hat sich der Europäische Gerichtshof nicht geäußert (Louven, a.a.O., S. 121). Auch dies spricht gegen die Annahme, der Europäische Gerichtshof habe den europarechtlich begründeten Vertrauensschutz auf nationale Vorschriften ausdehnen wollen, bei denen ganz andere Vertrauensgrundlagen maßgebend sein können.

Schließlich berechtigt der Gedanke, die wettbewerbsrechtliche Zielsetzung des Art. 119 EWGV/EGV verlange, daß die aus der Barber-Rechtsprechung und dem Barber-Protokoll folgende zeitliche Beschränkung auch gegenüber nationalen Schutzvorschriften gelten müsse, nicht zu der Annahme, die Auffassung der Beschwerdeführerin sei eindeutig vorzuziehen. Der Europäische Gerichtshof hat seine Barber-Entscheidung nicht damit begründet, daß es in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Diskriminierungsverbote gebe, deren rückwirkende Anwendung vor dem 17. Mai 1990 zwecks Herstellung gleicher Wettbewerbschancen untersagt werden müsse. Sinn und Zweck des Art. 119 EWGV/EGV liegen vielmehr darin, die Schaffung und Anwendung solcher Diskriminierungsverbote auf nationaler Ebene zu befördern und zu erreichen. Die eingeschränkte zeitliche Geltung des Art. 119 EWGV/EGV für bestimmte Diskriminierungsfälle, in denen aufgrund europarechtlicher Regelungen Vertrauensschutz gewährt werden muß, kann daher nicht ohne weiteres zur Einschränkung nationaler Diskriminierungsverbote führen, für die ein solcher Vertrauensschutz nicht oder jedenfalls nicht in gleichem Maße geboten ist.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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