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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 11.02.2005
Aktenzeichen: 1 BvR 276/05
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 12 Abs. 1 | |
GG Art. 103 Abs. 1 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES
- 1 BvR 276/05 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 2. Dezember 2004 - AnwZ (B) 72/02 -,
b) den Beschluss des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs vom 25. September 2002 - BayAGH I - 28/01 -,
c) den Bescheid der Rechtsanwaltskammer für den Oberlandesgerichtsbezirk München vom 21. August 2001 - P 30615 -,
2. mittelbar gegen § 27 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 der Bundesrechtsanwaltsordnung hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-gerichts durch den Präsidenten Papier und die Richter Steiner, Gaier gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 11. Februar 2005 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Die Vollziehung des Beschlusses des Bundesgerichtshofs vom 2. Dezember 2004 - AnwZ (B) 72/02 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen ausgesetzt.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die einstweilige Anordnung zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen den Widerruf seiner Zulassung zur Rechtsanwaltschaft.
1. Der Beschwerdeführer ist seit 1991 zur Rechtsanwaltschaft zugelassen. Ihm wurde 1999 die örtliche Zulassung bei dem Amtsgericht München, den Landgerichten München I und II und dem Oberlandesgericht München erteilt. In München war der Beschwerdeführer zunächst als angestellter Rechtsanwalt einer Rechtsanwaltsgesellschaft tätig. Im Jahr 2001 wurde ihm nach gesellschaftsinternen Streitigkeiten der Zugang zu den Kanzleiräumen der Rechtsanwaltsgesellschaft verweigert.
Die Rechtsanwaltskammer forderte ihn daraufhin auf, nähere Auskünfte über die Einrichtung und den Ort seiner neuen Kanzlei zu erteilen. Nachdem der Beschwerdeführer auf mehrere Anschreiben nicht reagiert haben soll, widerrief die Rechtsanwaltskammer unter Berufung auf § 35 Abs. 1 Nr. 5 BRAO und § 14 Abs. 2 Nr. 6 BRAO seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft. Er habe seine Kanzlei in München aufgegeben, ohne von der Kanzleipflicht befreit zu sein. Eine Mitteilung über die Änderung der Kanzleianschrift oder die Einrichtung einer neuen Kanzlei sei nicht erfolgt. Damit sei zugleich auch die Zulassung des Beschwerdeführers bei dem Amtsgericht München, den Landgerichten München I und II sowie dem Oberlandesgericht München erloschen.
2. Der Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung wurde vom Anwaltsgerichtshof zurückgewiesen. Die dagegen beim Bundesgerichtshof eingelegte sofortige Beschwerde hatte keinen Erfolg.
3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG. Mit dem Antrag auf einstweilige Anordnung erstrebt er, die Wirksamkeit des Beschlusses des Bundesgerichtshofs auszusetzen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
1. Nach den §§ 32, 93 d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>). Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.
a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Da der Widerruf der Rechtsanwaltszulassung einen Eingriff in die Berufsfreiheit bedeutet, muss diese Maßnahme strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Ein Widerruf kann mithin nicht undifferenziert bei jedem Verstoß gegen die mit der Kanzleipflicht verbundenen Obliegenheiten eines Rechtsanwalts erfolgen. Dem trägt das Gesetz dadurch Rechnung, dass es den Widerruf der Zulassung bei einem Gericht nach § 35 Abs. 1 Nr. 5 BRAO einer Ermessensentscheidung überlässt (vgl. BVerfGE 72, 26 <32 f.>). Ob die angegriffenen Entscheidungen den danach zu beachtenden Anforderungen gerecht werden, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob der Widerruf der Zulassung zum Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter zwingend erforderlich ist. Zweifelhaft ist namentlich, ob sich der Widerruf der Zulassung des Beschwerdeführers mit Blick auf die Möglichkeit milderer anwaltsgerichtlicher Maßnahmen (vgl. § 114 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 BRAO) mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbaren lässt (vgl. BVerfGE 72, 26 <33>). Diese Fragen müssen im anschließenden Verfassungsbeschwerdeverfahren geklärt werden.
b) Die hiernach gebotene Folgenabwägung rechtfertigt den Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünden dem Beschwerdeführer durch den Verlust der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erhebliche und kaum wiedergutzumachende Nachteile. Aufgrund des Widerrufs ist der Beschwerdeführer nicht mehr befugt, eine Anwaltstätigkeit auszuüben (§§ 36, 32 BRAO). Die deshalb notwendige Abwicklung der Kanzlei kann bei seinen Mandanten berechtigte Zweifel daran wecken, ob der Beschwerdeführer angesichts des schwebenden Verfahrens noch in der Lage sein wird, die Mandate selbst zu einem Abschluss zu bringen. Mit zunehmendem Zeitablauf droht zudem der endgültige Verlust der Mandantschaft. Damit wäre die gegenwärtige berufliche Existenzgrundlage des Beschwerdeführers entfallen. Erginge dagegen die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, könnte der Beschwerdeführer seine Tätigkeit vorübergehend weiter ausüben. Die Folgen einer solchen zeitlichen Verzögerung des Widerrufs fallen - auch unter Berücksichtigung des zu wahrenden Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtspflege - weniger ins Gewicht als der zeitweilige Verlust der Zulassung. Dem Beschwerdeführer wird lediglich vorgeworfen, er habe organisatorische Maßnahmen unterlassen, um seine Kanzlei für das rechtsuchende Publikum erkennbar zu machen. Dass hierdurch in erheblicher Weise Interessen des Gemeinwohls berührt werden, ist weder festgestellt noch sonst ersichtlich.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG.
3. Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Ende der Entscheidung
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