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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 29.12.2004
Aktenzeichen: 1 BvR 2851/04
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 12 | |
GG Art. 19 Abs. 4 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2820/04 - - 1 BvR 2851/04 -
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1. gegen a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 2004 - 13 B 2200/04 -,
b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. September 2004 - 26 L 2833/04 -,
c) den Bescheid der Bezirksregierung Düsseldorf vom 8. September 2004 - 24.20-23 Baltescu -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 1 BvR 2820/04 -,
2. gegen a) den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 2004 - 13 B 2199/04 -,
b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 30. September 2004 - 26 L 2832/04 -,
c) den Bescheid der Bezirksregierung Düsseldorf vom 8. September 2004 - 24.20-13 Baltescu -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 1 BvR 2851/04 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-gerichts durch die Richter Hömig, Bryde, Gaier gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 29. Dezember 2004 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Die sofortige Vollziehung der Verfügungen der Bezirksregierung Düsseldorf vom 8. September 2004 - 24.20-23 und 24.20-13 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden, längstens für die Dauer von sechs Monaten, vorläufig ausgesetzt.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für die Verfahren über die einstweiligen Anordnungen zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Anordnung des Ruhens seiner Approbationen als Zahnarzt und Arzt sowie der Einziehung seiner Approbationsurkunden.
1. Der Beschwerdeführer besitzt seit 1988 die Approbation als Zahnarzt und Arzt und betreibt seit 1989 eine Zahnarztpraxis. Ende September 2003 wurde gegen ihn ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Betruges eingeleitet. Es besteht der Verdacht, dass der Beschwerdeführer ihm eingeräumte Rabatte bei der Lieferung von Zahnersatz nicht weitergegeben hat. Er hat mittlerweile ein Eigenlabor für die Herstellung von Prothetik aufgebaut.
a) Mit Bescheiden vom 8. September 2004 ordnete die Bezirksregierung das Ruhen der zahnärztlichen und der ärztlichen Approbation und die sofortige Vollziehung der Verfügungen sowie die Herausgabe der Approbationsurkunden an. Die Bezirkregierung stützte ihre Entscheidung darauf, dass dem Beschwerdeführer im Ermittlungsverfahren Betrug in 41 Fällen zur Last gelegt werde. Er habe bei der Abrechnung von Zahnersatz Rückerstattungen seiner Lieferantin in Höhe von mindestens 55.296,21 € pflichtwidrig nicht an die Kassenzahnärztliche Vereinigung und an seine Patienten weitergegeben. Die Staatsanwaltschaft gehe sogar von einer Summe von mindestens 220.883,49 € aus. Die Verfehlungen seien so gravierend, dass sie die Annahme rechtfertigten, der Beschwerdeführer biete nicht länger Gewähr für die zuverlässige Erfüllung seiner beruflichen Pflichten. Zur Anordnung der sofortigen Vollziehung wird in den Bescheiden ausgeführt, die Abwehr von Vermögensschäden der Patienten und der Kassenzahnärztlichen Vereinigung durch unsachgemäß abgerechnete Leistungen habe im konkreten Fall ein größeres Gewicht als das Interesse des Beschwerdeführers an der aufschiebenden Wirkung eines etwaigen Rechtsmittels. Der ihm gemachte Tatvorwurf belege eine negative Einstellung gegenüber dem Schutz von Vermögen Dritter. Zudem liege in den dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten ein schwerer Verstoß gegen das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient und damit gegen seine ärztlichen Pflichten vor.
b) Das Verwaltungsgericht lehnte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche ab, die der Beschwerdeführer gegen die Anordnung des Ruhens seiner ärztlichen und zahnärztlichen Approbation erhob. Aus dem der inzwischen erhobenen Anklage zugrunde liegenden Sachverhalt ergebe sich die Unzuverlässigkeit und Unwürdigkeit des Beschwerdeführers. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung begegne keinen Bedenken. Zwar stehe der Beschwerdeführer nicht mehr in Geschäftsbeziehungen zu Zahnprothesenherstellern, die Einrichtung des Eigenlabors eröffne ihm aber die Möglichkeit, alle in seiner Praxis erbrachten Leistungen selbständig in Rechnung zu stellen. Erschwerend komme hinzu, dass der Beschwerdeführer durch Verbindlichkeiten in Höhe von 2,4 Millionen Euro in seiner wirtschaftlichen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit ganz erheblich eingeschränkt sei. Aufgrund der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen ergäben sich ferner Anhaltspunkte für weitere umfangreiche vermögensschädigende Falschabrechnungen. Angesichts dieser Situation bestehe die konkrete Gefahr, dass der Beschwerdeführer die ihm entgegengebrachte Vertrauensposition erneut dazu ausnutzen werde, seine persönlichen Gewinninteressen zu verfolgen. Diese Gefährdungsprognose bestehe auch angesichts des Verlusts der Kassenzulassung, zumal im Verhältnis zu Privatpatienten die Abrechnungen des Beschwerdeführers noch weniger kontrolliert würden. Seine pflichtgemäße Abrechnung von Leistungen unter dem Eindruck strafrechtlicher Ermittlungen sei kein Indiz für eine geänderte Einstellung.
c) Die gegen diese Beschlüsse eingelegten Beschwerden wies das Oberverwaltungsgericht zurück. Nach summarischer Prüfung bestünden keine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Ruhensanordnung und der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Das für die Anordnung des Sofortvollzuges erforderliche Gefährdungsrisiko sei zu bejahen. Der Beschwerdeführer könne zwar nicht mehr zahnprothetische Maßnahmen nach dem bisherigen System abrechnen. Seine betrügerische Vorgehensweise in der Vergangenheit deute aber auf einen gesteigerten Erwerbssinn und eine unangemessene Präferenz eigener Verdienstmöglichkeiten hin. Die Intensität und Planmäßigkeit lasse vor dem Hintergrund erheblicher finanzieller Belastungen und der Familiensituation den Schluss zu, dass es sich bei den Abrechnungsbetrügereien nicht um einen Einzelfall handele und eine Wiederholung in gleicher oder ähnlicher Weise nicht auszuschließen sei.
Die Bezirksregierung habe zudem ein weiteres Strafverfahren mitgeteilt, wonach der Beschwerdeführer Rechnungen mit Eigenlaborbeleg abgerechnet und Fremdleistungen nicht ausgewiesen habe. Dies könne nur dahin gedeutet werden, dass der Beschwerdeführer erneut falsche Angaben bei der Abrechnung gemacht habe. Das relativiere zugleich sein Vorbringen, dass infolge der Einrichtung des Eigenlabors nicht mehr mit Unregelmäßigkeiten zu rechnen sei. Der übersteigerte Erwerbssinn des Beschwerdeführers komme auch in den überproportional häufigen Notdiensten zum Ausdruck.
Der Beschwerdeführer habe damit Charaktereigenschaften offenbart, die auch weiterhin Verstöße gegen Berufspflichten befürchten ließen. Dass er um Schadenswiedergutmachung bemüht sei, rechtfertige keine günstige Prognose, sondern sei selbstverständlich. Das Wohlverhalten unter dem Eindruck des Strafverfahrens sei ebenfalls nicht geeignet, die Gefährdungsprognose positiv zu beeinflussen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Ruhensanordnung seien allein Folge des Fehlverhaltens des Beschwerdeführers, sie lägen deshalb allein in seinem Verantwortungsbereich.
2. Mit seinen Verfassungsbeschwerden rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 und Art. 19 Abs. 4 GG.
Er sei in seinem Grundrecht auf freie Berufswahl und Ausübung seines Berufs elementar betroffen, weil ihm jegliche Tätigkeit in seinem Beruf als Arzt untersagt sei. Bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ruhensanordnung habe die Bezirksregierung nicht die strengen Voraussetzungen für einen solchen Eingriff beachtet. Es werde in keiner der angegriffenen Entscheidungen ausgeführt, dass eine Ruhensanordnung im Interesse der Allgemeinheit oder zum Schutz der Patienten geboten sei. Auch seien keine über die bereits für die Anordnung des Ruhens der Approbation hinausgehenden Gründe für den Sofortvollzug angegeben worden. Die Ausführungen erschöpften sich in allgemeinen Darlegungen zu den Anforderungen an eine solche Maßnahme; eine Konkretisierung sei jedoch nicht erfolgt. Er werde einem allgemeinen Verdacht unredlichen Handelns ausgesetzt, der weit über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe hinausgehe und in keiner Weise konkretisierbar sei. Soweit das Verwaltungsgericht davon ausgehe, dass er wegen seiner hohen Verbindlichkeiten erneut fehlerhaft abrechnen könnte, fehle eine Bewertung seiner wirtschaftlichen Gesamtsituation. Ausführungen zu den Auswirkungen der Folgen des Sofortvollzuges fehlten ebenfalls. Es bleibe bei formelhaften Feststellungen.
3. Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begründet der Beschwerdeführer mit der Gefährdung seiner wirtschaftlichen Existenz. Das nach seiner Untersuchungshaft mit den Gläubigern ausgehandelte Sanierungskonzept setze voraus, dass er regelmäßige Zahlungen leisten könne. Im Falle einer endgültigen Schließung der Praxis verliere er seinen Patientenstamm und seine Angestellten. Dem stehe die abstrakte Gefahr von unrichtigen Abrechnungen gegenüber, die jedoch durch die Möglichkeit verstärkter Kontrollen, durch die inzwischen erfolgte Herstellung der Zahnprothetik im Eigenlabor und durch die jahrelange beanstandungsfreie zahnärztliche Tätigkeit als gering einzustufen sei. Die angefochtenen Entscheidungen übersähen zudem, dass trotz der Vorläufigkeit einer Ruhensanordnung faktisch die gleichen Wirkungen wie bei einem Widerruf einträten.
II.
Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind begründet.
1. Nach den §§ 32, 93 d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>).
2. Die Verfassungsbeschwerden sind weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Mit der Anordnung des Ruhens der Approbation, der Einziehung der Approbationsurkunde und der Anordnung der sofortigen Vollziehung beider Verfügungen wird in die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Eingriffe nur unter strengen Voraussetzungen zum Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl. BVerfGE 44, 105 <117 ff.>; stRspr). Überwiegende öffentliche Belange können es ausnahmsweise rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Wegen der gesteigerten Eingriffsintensität beim Sofortvollzug einer Approbationsentziehung sind hierfür jedoch nur solche Gründe ausreichend, die in angemessenem Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen und ein Zuwarten bis zur Rechtskraft des Hauptverfahrens ausschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24. Oktober 2003 - 1 BvR 1594/03 -, NJW 2003, S. 3618 f.). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt.
Ob die angegriffenen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren diesen Maßstäben Rechnung tragen, ist zweifelhaft und bedarf der Überprüfung im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Dabei wird zu prüfen sein, ob die Behörde und die Gerichte eine Gefahrenlage für wichtige Gemeinschaftsgüter, die den Sofortvollzug zu rechtfertigen vermag, mit konkreten Tatsachen nachvollziehbar belegt haben und ob die schwerwiegenden Folgen, die für den Beschwerdeführer mit der Anordnung des Sofortvollzuges verbunden sind, in angemessener Weise gegen die konkret zu befürchtenden Folgen im Fall des Eintritts der aufschiebenden Wirkung abgewogen wurden.
3. Die hinsichtlich der vor dem Bundesverfassungsgericht gestellten Anträge gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiesen sich die Verfassungsbeschwerden später aber als begründet, so entstünden dem Beschwerdeführer durch den Vollzug der Ruhensanordnungen und der Urkundeneinziehung schon jetzt schwere und kaum wiedergutzumachende wirtschaftliche Nachteile. Der Beschwerdeführer hätte nicht nur - spätestens mit dem Auslaufen der befristeten Vertretung seiner Vertragszahnarztpraxis - seine Praxis vorläufig zu schließen mit der Folge, dass er den Verlust seines Rufs und damit seines Patientenstammes zu befürchten hätte. Er könnte nicht einmal mehr im Angestelltenverhältnis als Arzt oder Zahnarzt arbeiten. Erginge die einstweilige Anordnung, hätten die Verfassungsbeschwerden später aber keinen Erfolg, könnte der Beschwerdeführer seine Praxis einstweilen weiterbetreiben mit den von den Behörden und Gerichten prognostizierten Gefahren.
Die Folgen einer solchen zeitlichen Verzögerung des Ruhens der Approbation sowie der Urkundeneinziehung fallen hier weniger ins Gewicht, weil keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der Beschwerdeführer seine ärztlichen oder zahnärztlichen Berufspflichten in nächster Zeit verletzen wird. Es fehlt jedenfalls derzeit an konkreten Anhaltspunkten dafür, dass der Beschwerdeführer seine zahnärztliche Tätigkeit zu vermögensschädigenden Handlungen zu Lasten Dritter ausnutzt. Das Fehlverhalten, das Gegenstand des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens ist, liegt in der Vergangenheit und ist seit Jahren abgeschlossen. Ob es nach der Beendigung des Zusammenwirkens mit der früheren Lieferantin zu weiteren Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung kam, ist auch mit Blick auf die Erkenntnisse aus dem weiteren staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren noch ungeklärt. Durch die Einrichtung eines Eigenlabors kann zumindest die konkrete Situation, die den Beschwerdeführer zu der beanstandeten Abrechnungsweise verleitete, nicht mehr auftreten.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG.
5. Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung des Antragsgegners des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Ende der Entscheidung
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