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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 22.07.2005
Aktenzeichen: 1 BvR 2872/04 (1)
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 6 Abs. 2
GG Art. 6 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 2872/04 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Bamberg vom 19. November 2004 - 7 UF 118/04 -

hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Rechtsanwältin Eva-Maria Tur, Bad Neustadt

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-gerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem am 22. Juli 2005 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Anträge der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und auf Gewährung von Prozesskostenhilfe werden abgelehnt.

Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Entziehung des Sorgerechts für ihren im Juni 1997 geborenen Sohn K.

Aus der Ehe der Beschwerdeführerin mit dem Kindesvater ist das Kind K. hervorgegangen. Mit in dem Haushalt der Kindeseltern lebte seine im Januar 1992 geborene Halbschwester S., die leibliche Tochter der Beschwerdeführerin. Nachdem die Kriminalpolizei gegen den Kindesvater Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs zu Lasten seiner Stieftochter aufgenommen hatte, entzog das Amtsgericht Bad Neustadt a.d. Saale im Mai 2003 den Kindeseltern mit einstweiliger Anordnung das Aufenthaltsbestimmungsrecht für K. Aufgrund der Ermittlungen der Kriminalpolizei und des Jugendamtes ergebe sich ein erheblicher Anfangsverdacht eines sexuellen Missbrauchs zum Nachteil S. Aus den von der Kriminalpolizei durchgeführten Vernehmungen ergebe sich weiter, dass beim Sohn ebenfalls erhebliche Auffälligkeiten seit Oktober 2002 vorlägen.

Mit Beschluss vom 15. März 2004 entschied das Amtsgericht unter Aufhebung der vorangegangenen Entscheidung, dass die elterliche Sorge für K. bei den Kindeseltern verbleibe und erteilte diesen die Auflage, das Kind auf der jetzigen Ganztagsschule zu lassen und einmal im Monat zum Jugendamt Kontakt aufzunehmen. Das Gericht gehe davon aus, dass pornographische Fotos und Handlungen vom Kindesvater an seiner Stieftochter durchgeführt worden seien. Dennoch sei das Gericht der Ansicht, dass ein Entzug der elterlichen Sorge und Trennung von der Familie nicht erforderlich sei, da allein aufgrund dieser Verfehlungen nicht auf eine entsprechende Gefährdung des Kindes K. geschlossen werden könne.

Nachdem das Jugendamt und die Verfahrenspflegerin hiergegen Beschwerde eingelegt hatten, teilte die Staatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht Bamberg auf Nachfrage mit, dass der Kindesvater nach Schluss der im Strafverfahren durchgeführten Hauptverhandlung vom 4. November 2004 verhaftet worden sei und das Strafurteil abgesetzt werde.

Mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Beschluss vom 19. November 2004 hob das Oberlandesgericht die sorgerechtliche Entscheidung des Amtsgerichts auf und entzog den Eltern das Sorgerecht für K. Entgegen der Ansicht des Erstgerichts könne nicht davon ausgegangen werden, dass eine Gefährdung des Wohls des Kindes K. nicht gegeben sei. Mit Urteil des Landgerichts Schweinfurt im November 2004 sei der Kindesvater wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Auch wenn sich die Taten nicht gegen K., sondern gegen S. gerichtet hätten, könne eine Gefährdung des Wohls des Kindes K. nicht ausgeschlossen werden, wie sich aus dem Zusatzgutachten des Sachverständigen Dr. F. vom 3. Dezember 2003 ergebe. Das jetzt fassbare Risiko von missbräuchlichen Handlungen dürfe nicht dem Kind auferlegt werden. Gerade diese Schwäche erfordere einen besonderen Schutz, der mit Kontrollbesuchen des Jugendamtes unter diesen Umständen nicht geleistet werden könne.

Das Kind ist seit 15. Dezember 2004 in einer Pflegefamilie untergebracht.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Rechte unter anderem aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Die angebliche Gefahr, die nach Auffassung des Oberlandesgerichts vom Vater für das Kind ausgehen könnte, bestehe nicht mehr, da er sich in Untersuchungshaft befinde und somit auf absehbare Zeit nicht mehr im Haushalt der Familie lebe. Soweit der Beschwerdeführerin durch das Jugendamt vorgeworfen worden sei, sie habe sich während der strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihren Ehemann hinter diesen gestellt, ihrer Tochter nicht geglaubt und sich damit als ungeeignet erwiesen, so könne dies nicht als Rechtfertigung dafür herangezogen werden, der Beschwerdeführerin auch die elterliche Sorge für K. zu entziehen und das Kind aus der Familie wegzunehmen.

Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt die Beschwerdeführerin die Aussetzung der Vollziehung des angegriffenen Beschlusses und beantragt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

II.

Der Antrag der Beschwerdeführerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.

1. Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das in der Hauptsache zu verfolgende Begehren, hier also die Verfassungsbeschwerde, erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; 103, 41 <42>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 185 <186>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>); stRspr).

Die hiernach anzustellende Interessenabwägung ergibt, dass eine einstweilige Anordnung nicht erlassen werden kann. Ergeht die einstweilige Anordnung nicht wie beantragt, stellt sich die Verfassungsbeschwerde aber nachträglich als begründet heraus, droht allerdings eine Entfremdung des Kindes von der Beschwerdeführerin.

Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist jedoch eine schwerer wiegende Gefährdung des Kindeswohls zu befürchten, sofern die einstweilige Anordnung wie beantragt ergeht und die Verfassungsbeschwerde sich nachträglich als unbegründet herausstellt. Das Kind befindet sich seit sechs Monaten in der Obhut einer Pflegefamilie. Zuvor war das Kind bereits während des sorgerechtlichen Verfahrens im Jahr 2004 in Pflege genommen worden. Es musste also schon mehrfach Wechsel seiner Hauptbezugsperson(en) erleiden. Ein erneutes Hin- und Herwechseln zwischen den Haushalten der Beschwerdeführerin und der Pflegefamilie brächte eine erhebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls mit sich, da das Kind wieder aus seinem Lebenszusammenhang gerissen würde, ohne jedoch die sichere Perspektive eines Bleibens zu erhalten, sondern belastet wäre mit der Möglichkeit eines weiteren Wechsels der Bezugspersonen.

2. Da der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung keinen Erfolg hat, ist der Beschwerdeführerin die Gewährung von Prozesskostenhilfe zu versagen.

Ende der Entscheidung

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