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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 07.01.2004
Aktenzeichen: 1 BvR 31/01
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 31/01 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen das Urteil des Kammergerichts vom 6. November 2000 - 8 U 4358/99 -

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Jaeger und die Richter Hömig, Bryde am 7. Januar 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Kammergerichts vom 6. November 2000 - 8 U 4358/99 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Das Urteil wird aufgehoben.

Die Sache wird an das Kammergericht zurückverwiesen.

Das Land Berlin hat der Beschwerdeführerin die im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Nichtzulassung einer Revision nach § 546 Abs. 1 Satz 2 ZPO in der bis zum In-Kraft-Treten des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001 (BGBl I S. 1887) gültig gewesenen Fassung (im Folgenden: ZPO a.F.). I.

1. Die Beschwerdeführerin ist Mieterin von Räumen eines im Ostteil Berlins belegenen Gebäudes, die sie für zwei Gastronomiebetriebe nutzt. Sie nimmt die Treuhandliegenschaftsgesellschaft mbH (TLG) als Vermieterin auf Erstattung von Aufwendungen in Anspruch.

1994 erließ die Treuhandanstalt nach § 11 des Vermögenszuordnungsgesetzes (VZOG) einen Vermögenszuordnungsbescheid und ordnete das Eigentum an Teilflächen des Grundstücks, auf dem sich das genannte Gebäude befindet, der Bundesrepublik Deutschland zu. An dem diesem Bescheid zugrunde liegenden Verfahren war die Beschwerdeführerin nicht beteiligt. Im selben Jahr beanspruchte die Bundesrepublik das Grundstück als Finanzvermögen im Sinne des Einigungsvertrags und erhob Klage auf Räumung. Die Klage wurde nach einem Teilerfolg in der Berufungsinstanz, für den der Zuordnungsbescheid nach der damaligen Rechtsauffassung des Kammergerichts zu § 2 Abs. 3 VZOG nicht entscheidend war, durch den Bundesgerichtshof wegen Fehlens der Aktivlegitimation abgewiesen (vgl. WM 1998, S. 987).

Das Landgericht wies die Klage der Beschwerdeführerin auf Erstattung der im Ausgangsverfahren streitigen Aufwendungen ab. Mit der Berufung hatte die Beschwerdeführerin teilweise Erfolg. Erfolglos blieb das Rechtsmittel hinsichtlich der Aufwendungen, die nach Erklärung einer nach der Rechtsauffassung des Kammergerichts wirksamen ordentlichen Kündigung getätigt wurden. Der Bundesgerichtshof gab der Revision der Beschwerdeführerin gegen dieses Urteil statt und verwies die Sache im Umfang der Aufhebung des Berufungsurteils an das Kammergericht zurück (vgl. NJW 1999, S. 2517). Das Berufungsgericht habe rechtsfehlerhaft weitere Erstattungsansprüche wegen der ordentlichen Kündigung verneint. Feststellungen zu den getätigten Aufwendungen seien vom Kammergericht noch nicht getroffen worden.

Daraufhin hat dieses mit dem angegriffenen Urteil die TLG aus Anerkenntnis zu einer Teilzahlung verurteilt, die weiter gehende Klage aber erneut abgewiesen. Für die noch streitgegenständlichen Ansprüche sei die TLG nicht passivlegitimiert. Der Vermögenszuordnungsbescheid habe das Eigentum am Mietobjekt auf die Bundesrepublik Deutschland übertragen. Gemäß § 8 Abs. 1 a Satz 3 VZOG, der auch für diesen Fall gelte, sei daher § 571 BGB a.F. anwendbar. Damit seien der Mietvertrag auf die Bundesrepublik übergegangen und die Haftung der TLG für danach entstandene Ansprüche aus dem Mietvertrag erloschen. Dieser Würdigung stünden weder das zurückverweisende Revisionsurteil im anhängigen Rechtsstreit noch das Urteil des Bundesgerichtshofs in dem Räumungsprozess zwischen der Beschwerdeführerin und der Bundesrepublik Deutschland entgegen, in dem der TLG der Streit verkündet worden war. Nach Aufhebung seines Berufungsurteils in dem Räumungsrechtsstreit halte das Kammergericht nicht mehr an der dort geäußerten Rechtsauffassung fest, der Vermögenszuordnungsbescheid wirke nur zwischen den im Zuordnungsverfahren Beteiligten. Die Voraussetzungen des § 546 Abs. 1 Satz 2 ZPO a.F. für eine Zulassung der Revision lägen nicht vor.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin unter anderem die Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG im Hinblick auf die Nichtzulassung der Revision durch das Kammergericht.

Die Revision hätte wegen Divergenz zugelassen werden müssen. Das Kammergericht sei von tragenden Begründungselementen des im Ausgangsverfahren erlassenen Revisionsurteils und der im Räumungsprozess ergangenen Entscheidung des Bundesgerichtshofs abgewichen. In beiden Urteilen habe der Bundesgerichtshof zumindest inzident auf den Rechtssatz abgestellt, dass der Bestand eines Vermögenszuordnungsbescheids sich auf die zivilrechtliche Eigentumslage nicht auswirke. Zudem sei auch der Revisionszulassungsgrund des § 546 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZPO a.F. gegeben gewesen, weil die Rechtsfrage, ob sich ein Vermögenszuordnungsbescheid auf die zivilrechtliche Rechtslage auswirke, grundsätzliche Bedeutung habe. Das Vorliegen der Revisionszulassungsgründe sei willkürlich verneint worden.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium der Finanzen namens der Bundesregierung und der Bundesgerichtshof Stellung genommen. Das Bundesministerium hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Nach Einschätzung des Bundesgerichtshofs hätte eine Zulassung der Revision nahe gelegen.

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des grundrechtsgleichen Rechts der Beschwerdeführerin aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor. Die Nichtzulassung der Revision durch das Kammergericht hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf den gesetzlichen Richter verletzt. a) Auch die Entscheidung eines Gerichts, die Revision nicht zuzulassen, verstößt, wenn sie willkürlich ist, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 19, 38 <42 f.> m.w.N.; 87, 282 <284 f.>; BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, FamRZ 2003, S. 589). Danach ist hier Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Die schriftlichen Gründe des angegriffenen Urteils lassen nicht erkennen, dass die der Nichtzulassung der Revision durch das Kammergericht zugrunde liegende Rechtsauffassung, die Frage nach der Bedeutung eines Vermögenszuordnungsbescheids in einem Zivilrechtsstreit mit einer am Zuordnungsverfahren nicht beteiligten Person sei nicht im Sinne von § 546 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZPO a.F. grundsätzlich bedeutsam, auf sachgerechten Erwägungen beruht.

aa) Die Frage, ob und inwieweit sich ein Vermögenszuordnungsbescheid auf die zivilrechtliche Eigentumslage auswirkt, hat Bedeutung für eine Vielzahl von Streitverfahren im Beitrittsgebiet. Sie stellt sich auch für das Ausgangsverfahren. Das Kammergericht hat seine Entscheidung maßgeblich auf die privatrechtsgestaltende Wirkung des zugunsten der Bundesrepublik Deutschland ergangenen Zuordnungsbescheids gestützt, obwohl es nicht festgestellt hat, dass die Beschwerdeführerin - entgegen den Feststellungen im Räumungsrechtsstreit mit der Bundesrepublik - am Zuordnungsverfahren beteiligt war. Das Gericht hat auch nicht etwa angenommen, dass das Bekanntwerden des Zuordnungsbescheids in dem Räumungsprozess einer formellen Bekanntgabe im Zuordnungsverfahren gleichzuerachten sei. Damit hat es seiner Entscheidung den abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt, dass dem Vermögenszuordnungsbescheid auch gegenüber einer am Zuordnungsverfahren nicht beteiligten Person privatrechtsgestaltende Wirkung zukommt.

bb) Zu der Frage, ob ein Zuordnungsbescheid auch gegenüber einem am Zuordnungsverfahren nicht Beteiligten wirkt, gab es zum Zeitpunkt des Ergehens der angegriffenen Entscheidung weder höchstrichterliche Entscheidungen noch eine einheitliche und eindeutige Meinung des Schrifttums.

(1) In der Literatur wird zwar einhellig angenommen, dass einem Vermögenszuordnungsbescheid über den Restitutionsanspruch einer öffentlichrechtlichen Körperschaft nach § 11 VZOG konstitutive und damit auch privatrechtsgestaltende Wirkung zukommt und dass er auch in zivilgerichtlichen Verfahren zu beachten ist (vgl. Wilhelms, VIZ 1994, S. 465 ff.; Schmidt-Räntsch/Hiestand, in: Clemm und andere, Rechtshandbuch Vermögen und Investitionen in der ehemaligen DDR, Band II, § 2 VZOG Rn. 27 ff., 39 <Stand: 13. Erg.-Lfg.>; Lammert/Rauch/Teige, Rechtsfragen der Vermögenszuordnung, 1996, S. 21, 42; Schmitt-Habersack/Dick, in: Kimme, Offene Vermögensfragen, Band II, § 2 VZOG Rn. 18, 39 <Stand: November 1996>). Unklarheiten und Zweifel können sich jedoch daraus ergeben, dass es in § 2 Abs. 3 VZOG heißt, der (Zuordnungs-) Bescheid wirke für und gegen alle an dem Verfahren Beteiligten. Die zitierte Kommentarliteratur setzt sich nicht damit auseinander, ob daraus im Umkehrschluss zu folgern ist, dass der Bescheid gegenüber einem am Verfahren nicht Beteiligten keine Wirkung hat. Allein Wilhelms lehnt einen solchen Umkehrschluss ausdrücklich ab (vgl. a.a.O., S. 467, sowie VIZ 1994, S. 200 <201>).

(2) Die Rechtsprechung hat sich mehrfach, aber mit unterschiedlichem Ergebnis, mit der Frage befasst, ob ein Vermögenszuordnungsbescheid in einem zivilgerichtlichen Verfahren für die am Zuordnungsverfahren Beteiligten bindend ist (dagegen OLG Dresden, VIZ 1994, S. 488; KG, VIZ 1994, S. 31; dafür BGH, VIZ 1995, S. 592 <593>; OLG Jena, VIZ 2000, S. 374 f.; LG Dresden, VIZ 1994, S. 199). Für nicht am Verfahren Beteiligte hat der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zwar mit Urteil vom 23. Februar 2001 (vgl. VIZ 2001, S. 384 <385>) die Bindung verneint, dies aber nur knapp mit einem Hinweis auf § 2 Abs. 3 VZOG begründet. Abgesehen davon lag zum Zeitpunkt des Erlasses des angegriffenen Urteils eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs zu dieser Frage noch nicht vor. Auch das Oberlandesgericht Dresden hat eine Bindungswirkung des Zuordnungsbescheids gegenüber nicht am Zuordnungsverfahren beteiligten Personen abgelehnt (vgl. OLG Dresden, VIZ 1999, S. 111 <113>). Dieselbe Ansicht hatte ursprünglich auch das Kammergericht vertreten. Es hat diese Rechtsmeinung aber im vorliegenden Verfahren ausdrücklich aufgegeben und damit selbst unterschiedliche Auffassungen mehrerer Oberlandesgerichte zu dieser Rechtsfrage herbeigeführt.

cc) Die Entscheidung des Kammergerichts, die Revision nicht zuzulassen, ist nicht mit einer über die pauschale Verneinung der Zulassungsvoraussetzungen hinausgehenden Begründung versehen. Auch den Rechtsausführungen zu § 2 Abs. 3 VZOG lässt sich nicht entnehmen, dass die Nichtzulassung der Revision auf sachgerechte Erwägungen gestützt ist. Die dem angegriffenen Urteil zugrunde liegende Rechtsauffassung, der Vermögenszuordnungsbescheid wirke auch gegenüber einem am Zuordnungsverfahren nicht Beteiligten, ist allein damit begründet, es werde an der bisherigen Rechtsmeinung nicht mehr festgehalten, "nachdem" das Urteil des Kammergerichts im Räumungsprozess mit der Bundesrepublik Deutschland durch den Bundesgerichtshof aufgehoben worden sei. Da diese Aufhebung nicht mit einem Rechtsfehler in Bezug auf die Frage nach der personalen Reichweite eines Vermögenszuordnungsbescheids nach § 2 Abs. 3 VZOG begründet worden war (vgl. WM 1998, S. 987 <988 ff.>), bleibt die Argumentation ohne eine weitere Begründung unverständlich. Das Kammergericht konnte sich für seine geänderte Rechtsauffassung auch nicht auf die Rechtsprechung anderer Gerichte oder eine gefestigte Meinung des Schrifttums berufen. Es hätte deshalb, zumal es jetzt eine Ansicht vertritt, die sich nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 VZOG jedenfalls nicht ohne weiteres aufdrängt, die Revision zulassen müssen. Auch für das Gericht selbst offensichtlich hat es über eine Rechtsfrage entschieden, die im Interesse der einheitlichen Rechtsanwendung und der Rechtsklarheit einer Klärung durch das Revisionsgericht bedurfte. Da es diese Klärung ohne erkennbaren sachgerechten Grund verhindert hat, ist seine Entscheidung, die Revision nicht zuzulassen, bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich und damit offensichtlich unhaltbar (vgl. BVerfGE 82, 159 <194>).

b) Das angegriffene Urteil beruht auf dem damit gegebenen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Es ist nicht auszuschließen, dass der Bundesgerichtshof nach Zulassung der Revision die Frage nach der personalen Reichweite des § 2 Abs. 3 VZOG auch im Ausgangsverfahren (vgl. VIZ 2001, S. 384 <385>) anders entschieden hätte als das Kammergericht. Es sind deshalb nach § 93 c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG die angegriffene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Kammergericht zurückzuverweisen.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

Ende der Entscheidung

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