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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 13.04.2007
Aktenzeichen: 1 BvR 3174/06
Rechtsgebiete: GG, BVerfGG


Vorschriften:

GG Art. 5 Abs. 1 Satz 1
BVerfGG § 93 c Abs. 1 Satz 1
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstabe b
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

IM NAMEN DES VOLKES

- 1 BvR 3174/06 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 9. November 2006 - 20 WF 143/06 -,

b) den Beschluss des Amtsgerichts Bruchsal vom 18. Juli 2006 - 2 F 489/03 GÜ -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem am 13. April 2007 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Amtsgerichts Bruchsal vom 18. Juli 2006 - 2 F 489/03 GÜ - und der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 9. November 2006 - 20 WF 143/06 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Der Beschluss vom 9. November 2006 wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Karlsruhe zurückverwiesen.

Das Land Baden-Württemberg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Festsetzung eines Ordnungsgelds wegen ungebührlichen Verhaltens (§ 178 Abs. 1 GVG) während einer familiengerichtlichen Verhandlung.

I.

1. Zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann war ein seit längerem andauerndes Ehescheidungsverfahren anhängig. Die Beschwerdeführerin beantragte, das Güterrechtsverfahren abzutrennen. Ihr Ehemann erklärte sich damit nicht einverstanden. In der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht wies der Vorsitzende darauf hin, dass er dazu neige, den Verfahrensverbund vorerst aufrechtzuerhalten. Daraufhin sprang die Beschwerdeführerin auf und schrie den Vorsitzenden an: "Diese Verhandlung ist eine Farce".

Wegen dieser Äußerung verhängte das Amtsgericht gegen die Beschwerdeführerin ein Ordnungsgeld in Höhe von 250 €. Die Beschwerdeführerin verließ im Anschluss zeitweilig das Sitzungszimmer. Dabei schrie sie den Vorsitzenden erneut unter anderem mit den Worten an: "Sie sind eine Schande für die deutsche Richterschaft".

Die Beschwerdeführerin legte gegen die Verhängung des Ordnungsgelds Beschwerde ein, die das Oberlandesgericht zurückwies. Die Beschwerdeführerin habe sich gegenüber dem Richter ungebührlich verhalten. Sie habe auch schuldhaft gehandelt. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, bei der Äußerung habe es sich um einen spontanen Gefühlsausbruch gehandelt, sei durch ihr weiteres Verhalten in der Verhandlung widerlegt. Sie habe auch nach Verkündung des Ordnungsgeldbeschlusses eine weitere beleidigende Äußerung getätigt. Die Beschwerdeführerin habe die Erwartungen an ihr Verhalten vor Gericht gekannt.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Gerichte hätten zu Unrecht davon abgesehen, das Interesse an der Sicherstellung der zur Durchführung der Verhandlung notwendigen Ordnung mit ihrer Meinungsfreiheit abzuwägen. Die Äußerung der Beschwerdeführerin sei nicht als Schmähkritik anzusehen, sondern habe auf eine Auseinandersetzung in der Sache abgezielt.

3. Die Regierung des Landes Baden-Württemberg hat von einer Stellungnahme abgesehen.

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits beantwortet.

1. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen das durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistete Grundrecht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung.

a) Die Festsetzung des Ordnungsgelds greift in die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin ein. Die Meinungsfreiheit ist jedoch nicht vorbehaltlos gewährleistet, sondern findet nach Art. 5 Abs. 2 GG ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen § 178 Abs. 1 GVG gehört. Allerdings sind bei der Auslegung und Anwendung der allgemeinen Gesetze verfassungsrechtliche Anforderungen zu beachten, die sich aus der wertsetzenden Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben (vgl. BVerfGE 93, 266 <292>).

b) Gegen die Auslegung des § 178 Abs. 1 GVG durch die Gerichte bestehen keine Bedenken. Das Oberlandesgericht hat insoweit ausgeführt, ungebührlich sei ein Verhalten, das geeignet sei, die Rechtspflegeaufgabe des Gerichts zu verletzen und die Ordnung der Gerichtsverhandlung zu stören. Die Beschwerdeführerin hat keine Gründe vorgetragen, warum diese Auslegung der Norm, die der herrschenden Meinung entspricht (vgl. Kissel/Mayer, GVG, 4. Aufl., 2005, § 178 Rn. 6 ff.; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl., 2006, § 178 GVG Rn. 2; Gummer, in: Zöller, ZPO, 26. Aufl., 2007, § 178 GVG Rn. 2; alle m.w.N.), den Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht genügen sollte. Solche Gründe sind auch nicht ersichtlich.

c) Dagegen genügt die Anwendung von § 178 Abs. 1 GVG durch die Gerichte im vorliegenden Fall nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

aa) Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt eine Gewichtung und Zuordnung des grundrechtlich geschützten Interesses an freier Meinungsäußerung zu den gegenläufigen Interessen, um deretwillen die Meinungsfreiheit beschränkt werden soll. Dabei ist der Schutzzweck des allgemeinen Gesetzes zu berücksichtigen, das als Grundlage der Beschränkung herangezogen werden soll.

Schutzgut von § 178 Abs. 1 GVG ist ein geordneter, die Sachlichkeit der gerichtlichen Verhandlung gewährleistender Verfahrensablauf (vgl. BerlVerfGH, Beschluss vom 20. Dezember 1999 - VerfGH 56 A/99, 56/99 -, NJW-RR 2000, S. 1512 <1513>; Kissel/Mayer, GVG, § 178 Rn. 6 ff.). Eine Ordnungsstörung kann sich aus Äußerungen wie auch aus anderen Verhaltensweisen ergeben. Soweit § 178 Abs. 1 GVG Äußerungen erfasst, kann sowohl der Inhalt als auch die Form der Äußerung als Ungebühr anzusehen sein.

Soll eine Äußerung in einem gerichtlichen Verfahren als Ungebühr geahndet werden, fällt nicht nur die Meinungsfreiheit des sich Äußernden, sondern auch das Rechtsstaatsprinzip ins Gewicht. Ein wirkungsvoller Rechtsschutz setzt voraus, dass der Rechtsuchende gegenüber den Organen der Rechtspflege, ohne Rechtsnachteile befürchten zu müssen, jene Handlungen vornehmen kann, die nach seiner von gutem Glauben bestimmten Sicht geeignet sind, sich im Prozess zu behaupten. Nicht entscheidend ist, ob der Betreffende seine Kritik anders hätte formulieren können (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 11. April 1991 - 2 BvR 963/90 -, NJW 1991, S. 2074 <2075>). Im "Kampf um das Recht" darf ein Verfahrensbeteiligter auch starke, eindringliche Ausdrücke und sinnfällige Schlagworte benutzen, um seine Rechtsposition zu unterstreichen (vgl. BVerfGE 76, 171 <192>; BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 16. März 1999 - 1 BvR 734/98 -, NJW 2000, S. 199 <200>). Ehrverletzende Äußerungen, die in keinem inneren Zusammenhang zur Ausführung oder Verteidigung der geltend gemachten Rechte stehen oder deren Unhaltbarkeit ohne weiteres auf der Hand liegt, sind allerdings nicht privilegiert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. April 1991, a.a.O.).

Die Sanktionierung einer Äußerung wegen Ungebühr setzt unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit voraus, dass die Äußerung nach Zeitpunkt, Inhalt oder Form den ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in nicht unerheblichem Ausmaß gestört hat und die Sanktion dem Anlass angemessen ist. Einer Sanktion kann entgegenstehen, dass die Verfahrensstörung eine Spontanreaktion auf ein zumindest aus Sicht des Betroffenen beanstandenswürdiges Fehlverhalten der prozessualen Gegenseite oder des Gerichts war (vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 178 GVG Rn. 3 a). In einer solchen Situation kann es jedenfalls dann unverhältnismäßig sein, eine Ordnungsmaßnahme nach § 178 Abs. 1 GVG zu ergreifen, wenn der Betroffene vorher nicht ermahnt worden ist (vgl. Kissel/Mayer, GVG, § 178 Rn. 42).

bb) Nach diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

(1) Aus den Beschlüssen ergibt sich, dass die Verhängung des Ordnungsgelds in erster Linie wegen des Inhalts der Äußerung erfolgte. Im Protokoll der amtsgerichtlichen Verhandlung ist zur Begründung des Ordnungsmittels lediglich von einer "Missachtung des Gerichts" die Rede. Das Oberlandesgericht stellt gerade auch auf den Wortlaut der Äußerung ab und verweist darauf, dass die Beschwerdeführerin später eine weitere "beleidigende" Äußerung getätigt habe. Das verdeutlicht, dass auch das Oberlandesgericht die Äußerung, der Prozess sei eine Farce, aufgrund ihres Inhalts als Ordnungsstörung ansah.

Die angegriffenen Beschlüsse lassen jedoch nicht erkennen, dass die Gerichte die wesentlichen Umstände in eine umfassende Abwägung einbezogen hätten. Der amtsgerichtliche Beschluss enthält nur die Feststellung, es handele sich bei der Äußerung der Beschwerdeführerin um eine Missachtung des Gerichts. Das Oberlandesgericht, das im Rahmen des Beschwerdeverfahrens selbstständig über die Angemessenheit des Ordnungsgelds zu entscheiden hatte (vgl. Gummer, in: Zöller, ZPO, § 181 GVG Rn. 5), hält das Verhalten der Beschwerdeführerin für ungebührlich, ohne sich auch nur im Ansatz mit dem Grundrechtsschutz des Äußerungsinteresses der Beschwerdeführerin und dem auch rechtsstaatlich begründeten Schutz des Rechts, zur Rechtsverteidigung eindringliche Ausdrücke benutzen zu dürfen, auseinander zu setzen.

(2) Die Beschlüsse lassen auch nicht erkennen, warum auf eine vorherige Ermahnung der Beschwerdeführerin hätte verzichtet werden dürfen. Eine solche Ermahnung ist im Protokoll nicht aufgeführt.

Die Beschwerdeführerin hat ihre Äußerung, wie sich aus dem Protokoll ergibt, im Zustand erheblicher Erregung getan. Aus Sicht der Beschwerdeführerin beteiligte sich das Amtsgericht an einer Verschleppung des Scheidungsverfahrens durch ihren Ehemann. Derartige familiengerichtliche Verfahren sind ohnehin typischerweise als psychisch besonders belastend anzusehen. Angesichts dieser Umstände durfte ein ungebührliches Verhalten der Beschwerdeführerin - jedenfalls wenn es, wie vorliegend, nicht besonders schwerwiegend war - nicht ohne vorherige Ermahnung durch das Gericht mit einem Ordnungsmittel nach § 178 Abs. 1 GVG geahndet werden.

Das Sitzungsprotokoll und der in ihm niedergelegte amtsgerichtliche Beschluss enthalten keine Aussage dazu, dass zuvor eine Ermahnung erfolgt wäre. Diesem Beschluss und dem des Oberlandesgerichts ist nicht zu entnehmen, warum die Sanktion auch ohne vorherige Ermahnung verhältnismäßig sein sollte. Das Oberlandesgericht hat seine Entscheidung auch nicht auf einen "Bearbeitungsvermerk" des Amtsrichters gestützt, nach dem die Beschwerdeführerin vorher ermahnt worden war. Damit ist das Oberlandesgericht der von der Beschwerdeführerin im Verfahren vorgebrachten herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur gefolgt, wonach ein Ordnungsgeld im Beschwerderechtszug nur auf protokollierte Vorgänge gestützt werden darf, nicht etwa auf dienstliche Äußerungen des Richters des Ausgangsgerichts (vgl. Gummer, in: Zöller, ZPO, § 182 GVG Rn. 2; Kissel/Mayer, GVG, § 182 Rn. 5; Meyer-Goßner, StPO, § 182 GVG Rn. 1; alle m.w.N.).

2. Die Entscheidungen beruhen auf den Fehlern. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gerichte bei einer Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch hinsichtlich des Fehlens einer vorherigen Ermahnung zu einem anderen Ergebnis gekommen wären. Die Grundrechtsverletzung ist festzustellen. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 357 <361 ff.>; 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.



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