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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 19.02.2004
Aktenzeichen: 1 BvR 417/98
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 5 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 417/98 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 27. Januar 1998 - 15 U 126/97 -,

b) das Urteil des Landgerichts Köln vom 11. Juni 1997 - 28 O 44/97 -

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Haas und den Richter Hoffmann-Riem

am 19. Februar 2004 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das Urteil des Oberlandesgerichts Köln vom 27. Januar 1998 - 15 U 126/97 - und das Urteil des Landgerichts Köln vom 11. Juni 1997 - 28 O 44/97 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Das Urteil des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 35.000,- Euro (in Worten: fünfunddreißigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die zivilrechtliche Verurteilung zur Unterlassung einer verdeckten Tatsachenbehauptung.

I.

1. Der Beschwerdeführer und Beklagte des Ausgangsverfahrens ist Journalist. Er befasst sich schwerpunktmäßig mit Kirchenfragen. Kläger waren 1. der Erzbischof von X, 2. das Erzbistum X, 3. der Generalvikar des Erzbistums und 4. der Hauptabteilungsleiter Seelsorge-Personal des Generalvikariates.

Unter dem 18. September 1996 wandte sich eine Einsenderin schriftlich an die Kläger zu 1 und 4 und teilte diesen mit, ihr sei bekannt, dass der Pfarrer einer großen Gemeinde seit Januar desselben Jahres eine minderjährige Jugendliche nötige, mit ihm sexuellen Kontakt aufzunehmen. Die Jugendliche sei etwa in der zehnten Woche schwanger. Nach derzeitigem Stand werde die Schwangerschaft in den nächsten Tagen abgebrochen. Nach Rückkehr des Klägers zu 1 von mehreren Tagungen und Auslandsaufenthalten antwortete der Kläger zu 4 unter dem 11. Oktober 1996, der Kläger zu 1 habe den Brief mit Bestürzung gelesen; der Kläger zu 1 und er selbst seien über den geschilderten Vorfall beunruhigt und bäten um Klärung des Sachverhalts.

Am 24. November 1996 berichtete der Beschwerdeführer in einer Rundfunksendung über den Fall. Er schilderte die Korrespondenz der Einsenderin mit den Klägern zu 1 und 4. In einem Artikel vom 28. November 1996, der in einer deutschen Zeitschrift erschien, setzte der Beschwerdeführer sich unter der Überschrift: "Fristenlösung ...", Untertitel: "Ein Priester schwängerte eine Minderjährige - Die katholische Kirche, davon unterrichtet, wartete - Bis nach der Abtreibung", erneut mit dem Fall auseinander. In einem weiteren, in Österreich veröffentlichten Artikel äußerte der Beschwerdeführer sich in ähnlichem Sinne. Die Beiträge weichen in Einzelheiten voneinander ab. Gemeinsam ist ihnen die Kritik an der aus Sicht des Beschwerdeführers verspäteten Reaktion auf das Schreiben vom 18. September 1996 und der unterbliebenen Verhinderung des angeblich vorgenommenen Schwangerschaftsabbruchs. In den beiden ersterwähnten Beiträgen heißt es zudem: " Der erpresserische Pfarrer übt sein Amt nach wie vor in seiner ... Pfarrei aus."

Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergaben keine verwertbaren Anhaltspunkte für einen tatsächlichen Hintergrund des von der Einsenderin behaupteten Geschehens.

2. Die Kläger verlangten mit der Klage von dem Beschwerdeführer die Unterlassung der wörtlichen oder sinngemäßen Behauptung,

a) das Erzbistum, der Erzbischof von X bzw. sein Vertreter, Generalvikar Y oder Prälat Z seien auf Grund des Schreibens ... vom 18.9.1996 in der Lage gewesen, den Schwangerschaftsabbruch der angeblich von einem Pfarrer geschwängerten Minderjährigen zu verhindern,

b) dem Erzbistum X, dem Erzbischof von X bzw. seinem Vertreter, Generalvikar Y oder Prälat Z, sei es möglich gewesen, den angeblich erpresserischen Pfarrer aus seinem Amt zu entfernen.

Zur Begründung ihres Klagebegehrens trugen sie vor, der Beschwerdeführer habe die zitierten Behauptungen verdeckt aufgestellt. Der Zuhörer beziehungsweise der Leser gehe auf Grund der Informationen des Beklagten fälschlich davon aus, dass ihnen der beschuldigte Pfarrer bekannt sei und sie trotzdem nichts gegen ihn unternommen hätten. Dies gelte auch für die Identität der Jugendlichen, da die vom Beschwerdeführer kritisierte, ausgebliebene Hilfeleistung eine Identifizierung voraussetze.

Das Landgericht gab der Klage in vollem Umfang statt. Die Berufung hatte nur insoweit Erfolg, als die Klage des Klägers zu 3 mangels Aktivlegitimation abgewiesen wurde (vgl. NJW-RR 1998, S. 1175, JURIS-Nr. KORE539459800).

3. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz GG. Vor allem die Annahme einer verdeckten Tatsachenbehauptung verletze sein Grundrecht.

4. Die Kläger des Ausgangsverfahrens und der Bundesgerichtshof haben zur Verfassungsbeschwerde Stellung genommen.

II.

Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die für eine Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen zur Reichweite von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bereits entschieden (vgl. BVerfGE 43, 130 <139>; 85, 1 <12 ff.>; 86, 122 <127 ff.>; 90, 145 <172 f.>; 94, 1 <8 ff.>; 97, 125 <148 f.>). Die Ausgangsgerichte haben Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit nicht hinreichend berücksichtigt.

1. Die dem Beschwerdeführer untersagten Äußerungen fallen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, der neben Werturteilen auch die Äußerung von Tatsachen schützt, die der Meinungsbildung dienen können (vgl. BVerfGE 90, 1 <15>). Die ursprünglichen Medienberichte des Beschwerdeführers fallen als Kundgabe von meinungsbezogenen Tatsachen und von Werturteilen ebenfalls in den Schutzbereich.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gilt nach Art. 5 Abs. 2 GG allerdings nicht schrankenlos. Beschränkungen müssen zur Erreichung des jeweils mit ihnen verfolgten Zwecks geeignet sowie erforderlich und das Verhältnis zwischen Rechtsgüterschutz und Beschränkung muss insgesamt angemessen sein (vgl. BVerfGE 90, 145 <172 f.>; 94, 1 <8 f.>; 95, 173 <185>; 100, 313 <373 ff.>). Als Schrankennormen haben die Ausgangsgerichte § 823 Abs. 1 und § 1004 Abs. 1 BGB angewandt und eine Beeinträchtigung der dort geschützten Ehre der Kläger bejaht. Dagegen ist von Verfassungs wegen nichts einzuwenden (vgl. BVerfGE 82, 272 <280>; 97, 125 <148 f.>). Die Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit genügt jedoch den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.

a) Ob eine Meinungsäußerung Rechtsgüter anderer verletzt und deswegen beschränkt werden darf, setzt die Klärung ihres Inhalts voraus. Das Unterlassungsgebot gilt hier einer Aussage, die so nicht ausdrücklich in den Medienberichten enthalten, aber nach Auffassung der Gerichte in ihnen verdeckt erfolgt ist. Dabei legt das Oberlandesgericht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGHZ 78, 9 <14 f.>; BGH, AfP 1994, S. 295 <297>; S. 299 <301>; NJW 2000, S. 656 <657>) dar, dass bei der Annahme solcher verdeckter Aussagen eine besondere Zurückhaltung geboten ist. Eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen enthaltene zusätzliche eigene Sachaussage des Autors muss die Grenzen des Denkanstoßes überschreiten und sich dem Leser als unabweisliche Schlussfolgerung nahe legen. Dies ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (vgl. auch BVerfGE 43, 130 <139>).

b) Die angegriffenen Urteile gehen aber über das zum Schutz der rechtlichen Interessen der Kläger des Ausgangsverfahrens Gebotene hinaus. Sie genügen jedenfalls dem Gebot der Erforderlichkeit nicht. Ob sie den Anforderungen der Angemessenheit gerecht werden, kann dahinstehen.

aa) Die Verurteilung zur Unterlassung einer Äußerung muss im Interesse des Schutzes der Meinungsfreiheit auf das zum Rechtsgüterschutz unbedingt Erforderliche beschränkt werden. Um überschießende Wirkungen, insbesondere eine rechtlich nicht gebotene Zurückhaltung oder gar eine Einschüchterung bei weiteren Äußerungen auszuschließen, muss die Verurteilung klar erkennen lassen, welche Aussage der Grundrechtsträger unterlassen soll. Wird eine durch Auslegung anderer Äußerungen ermittelte "verdeckte" Aussage untersagt, muss der Beklagte zweifelsfrei erkennen können, welche Teile der ursprünglichen Äußerung von dem Unterlassungsgebot erfasst sind. Andernfalls ist er dem Druck ausgesetzt, zur Vermeidung einer Vollstreckungsmaßnahme nach § 890 ZPO auch Äußerungen zu unterlassen, die unbedenklich sind.

Der Tenor der Entscheidung des Oberlandesgerichts führt auf, welche Aussagen der Beschwerdeführer unterlassen muss. Allerdings benennen die Unterlassungsgebote den Wortlaut von Aussagen, die der Beschwerdeführer so nicht getroffen hat. Von ihm wird erwartet, dass er die ursprünglichen Medienberichte oder bestimmte Teile nicht wiederholt, soweit in ihnen die untersagten Äußerungen verdeckt enthalten sein können. Davon geht jedenfalls das Oberlandesgericht aus, da es im Zusammenhang mit den Erwägungen zur Wiederholungsgefahr ausdrücklich die Möglichkeit einer verdeckten Wiederholung der untersagten Äußerungen erwähnt. Dies bezieht sich im Kontext der Entscheidungsgründe zumindest vorrangig auf die ursprünglichen Medienberichte. Welche konkreten Äußerungen aus diesen Berichten zu unterlassen sind, ist den Urteilen jedoch nicht, auch nicht unter Hinzuziehung der Gründe, zu entnehmen. Der Beschwerdeführer läuft mithin Gefahr, bei jedweder Wiederholung von Inhalten der streitigen Beiträge Vollstreckungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein.

bb) Eine derart weit gehende Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit ist nicht erforderlich, um die von einer Wiederholung der verdeckten Tatsachenbehauptungen ausgehende Beeinträchtigung der Kläger abzuwenden.

Die Gerichte haben nicht geprüft, ob weniger einschneidende Möglichkeiten des Rechtsgüterschutzes in Frage kommen. Insbesondere haben sie nicht erwogen, ob unter dem Aspekt einer falschen verdeckten Tatsachenbehauptung nicht diese selbst, sondern die ursprüngliche Äußerung, aus der sie durch Auslegung gewonnen wird, zu unterlassen ist (vgl. dazu BGHZ 78, 9 <17 ff.>; BGH NJW 2000, S. 656 <657>; NJW-RR 1994, S. 1242 <1244>; 1246 <1247>).

Eine Verurteilung hierzu wäre - die übrigen Voraussetzungen eines Unterlassungsanspruchs unterstellt - milder als die umfassende Verurteilung des Beschwerdeführers zur Unterlassung der verdeckten Tatsachenäußerung. Dem Anliegen der Kläger des Ausgangsverfahrens könnte beispielsweise durch das Gebot Rechnung getragen werden, nur diejenigen Teile einzelner Berichte nicht mehr zu verbreiten, aus denen sich die streitige verdeckte Tatsachenbehauptung ergibt, oder die ursprünglichen Beiträge nur mit klarstellenden Zusätzen zu veröffentlichen (vgl. BGHZ 78, 9 <18>). Dabei ist zu beachten, dass die Beiträge des Beschwerdeführers, auf die das Unterlassungsurteil gestützt worden ist, inhaltlich nicht völlig identisch sind. Da für die Ermittlung des Inhalts einer Aussage auf die Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums abzustellen ist (vgl. BVerfGE 93, 266 <295>), muss bei mehreren Beiträgen ihr jeweiliger Inhalt in der Regel für jeden Beitrag eigenständig ermittelt werden. Eine Gesamtwürdigung unterschiedlicher Beiträge, wie sie das Oberlandesgericht vorgenommen hat, ist nur möglich, wenn für sämtliche Beiträge von einem gemeinsamen Publikum auszugehen ist. Unter welchen konkreten Umständen dies der Fall sein könnte, bedarf im vorliegenden Verfahren der Verfassungsbeschwerde keiner Entscheidung.

3. Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Grundrechtsverletzung festzustellen. Die Aufhebung nach § 95 Abs. 2 BVerfGG braucht nur hinsichtlich des Berufungsurteils ausgesprochen zu werden. Das Oberlandesgericht kann als Tatsacheninstanz umfänglich neu entscheiden.

Der Beschwerdeführer hat nach § 34 a BVerfGG Anspruch auf Erstattung seiner Auslagen. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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