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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 21.06.2001
Aktenzeichen: 1 BvR 436/01
Rechtsgebiete: GG


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 103 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 436/01 -

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen den Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main vom 8. Februar 2001 - 2-15 S 245/00 -

hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Jaeger und die Richter Hömig, Bryde

am 21. Juni 2001 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss des Landgerichts Frankfurt am Main vom 8. Februar 2001 - 2-15 S 245/00 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.

Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 10.000 DM (in Worten: zehntausend Deutsche Mark) festgesetzt.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verwerfung einer Berufung unter Ablehnung eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

I.

1. Im Ausgangsverfahren wies das Amtsgericht die Klage des Beschwerdeführers auf Zahlung von 10.000 DM ab und stellte auf die Widerklage des Beklagten fest, dass der Beschwerdeführer auch nicht Zahlung weiterer 3.000 DM verlangen könne. Auf dessen Antrag verlängerte das Landgericht die Frist zur Begründung der Berufung bis 20. Januar 2001. Sie lief am Montag, dem 22. Januar 2001, ab. Am 23. Januar 2001 ging die Berufungsbegründung beim Landgericht ein. Am selben Tag beantragte der Beschwerdeführer unter Abgabe eidesstattlicher Versicherungen und Vorlage von Faxsendeberichten seines Prozessbevollmächtigten, dessen Kanzlei vom Sitz des Landgerichts etwa 300 km entfernt liegt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Mitarbeiterin des Prozessbevollmächtigten habe am 22. Januar 2001 bis kurz vor 18 Uhr und der Prozessbevollmächtigte selbst bis 23.49 Uhr versucht, die Berufungsbegründungsschrift an das Gericht zu faxen. Das Empfangsgerät sei nicht angesprungen. Um 18.05 Uhr habe der Prozessbevollmächtigte die Zentrale des Landgerichts angerufen. Dort sei ihm erklärt worden, es könne nichts unternommen werden. Nach Aufforderung durch das Landgericht hat der Prozessbevollmächtigte weitere eidesstattliche Versicherungen vorgelegt und seine Bemühungen näher geschildert, die Berufungsbegründung dem Gericht noch am 22. Januar 2001 zu übermitteln.

Das Landgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt und die Berufung verworfen. Wiedereinsetzung sei dem Beschwerdeführer nicht zu gewähren. Eine unverschuldete Fristversäumnis sei von ihm nicht dargelegt worden. Seinem Vortrag sei nicht zu entnehmen, dass dem Prozessbevollmächtigten, dessen Verschulden sich der Beschwerdeführer zurechnen lassen müsse, nach Erkennen der Erfolglosigkeit der Übermittlungsversuche per Fax nicht noch andere zumutbare Wege der fristgerechten Übermittlung zur Verfügung gestanden hätten. Soweit Fristen grundsätzlich bis zum letzten Tag ausgenutzt werden könnten, sei damit eine Erhöhung der Sorgfaltspflichten verbunden. Sollte, was offen bleiben könne, eine Störung des Empfangsgeräts des Landgerichts vorgelegen haben, habe dies den Prozessbevollmächtigten nicht davon befreit, nach Erkennen der Störung alle noch möglichen und zumutbaren anderen Maßnahmen zur fristgemäßen Übermittlung des Schriftsatzes zu ergreifen. Alternativwege seien umso eher zu benutzen, je weiter die Zeit fortgeschritten sei.

Dem Vortrag des Beschwerdeführers fehle es auch an der konkreten Angabe, wann mit den Übermittlungsversuchen begonnen worden sei. Rückschlüsse auf den Zeitpunkt des sicheren Erkennens der Störung seien deshalb nicht möglich. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass bei maßgeblich vor 17.50 Uhr begonnenen Übermittlungsversuchen das Scheitern des gewählten Übermittlungswegs zu einem Zeitpunkt erkennbar gewesen wäre, als noch Alternativwege, insbesondere die Beauftragung eines anderen beim Landgericht zugelassenen Rechtsanwalts, offen gestanden hätten. Bei erst kurz vor 17.50 Uhr unternommenen Übermittlungsversuchen hätte dagegen aufgrund der dann schon fortgeschrittenen Zeit und der deswegen gesteigerten Sorgfaltspflicht schon frühzeitig ein - dann noch möglicher und zumutbarer - Alternativweg versucht werden müssen. Auch hier hätte sich vor allem die Beauftragung eines beim Landgericht zugelassenen Anwalts angeboten.

Soweit sich aus dem Vortrag des Prozessbevollmächtigten ergebe, dass er nach dem Erkennen des Scheiterns der gewählten Übermittlungsart noch versucht habe, Kontakt zu seinem Korrespondenzanwalt aufzunehmen, könne dessen Unerreichbarkeit den Beschwerdeführer nicht entlasten. Unabhängig davon, dass der Vortrag insoweit unsubstantiiert sei, hätte die zumutbare Möglichkeit bestanden, einen anderen Anwalt mit der Übermittlung des Schriftsatzes zu betrauen.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und von Art. 103 Abs. 1 GG. Es könne keine Rede davon sein, dass er nicht hinreichend dargelegt habe, wann mit den Übermittlungsversuchen begonnen worden sei. Da der erste Sendeversuch nach dem Sendeprotokoll um 17.51 Uhr nach etwa eineinhalb Minuten abgebrochen worden sei, sei dies um 17.48 oder 17.49 Uhr gewesen. Das Landgericht habe auch nicht zur Kenntnis genommen, dass aus den ersten Sendeversuchen überhaupt nicht auf eine Störung des gerichtlichen Faxgeräts habe geschlossen werden können. Der Prozessbevollmächtigte habe versichert, dass zunächst nur ein Besetztzeichen gekommen sei; dies sei bis nach 18 Uhr der Fall gewesen.

Der lange nach diesem Zeitpunkt unternommene Versuch, ein Telegramm zu senden oder einen vertrauten Anwalt am Sitz des Landgerichts einzuschalten, sei im Übrigen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht erforderlich gewesen. Nur schwer nachvollziehbar sei die Rechtsauffassung des Landgerichts, der Prozessbevollmächtigte habe noch einen anderen dort zugelassenen Rechtsanwalt beauftragen sollen. Es übersehe, dass es um einen Berufungsbegründungsschriftsatz gegangen sei, der von einem am Gerichtsort ansässigen Anwalt noch hätte überprüft werden müssen, damit er die Verantwortung dafür habe übernehmen können.

3. Das Hessische Ministerium der Justiz und die Beklagte des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht schon entschieden.

a) Danach dürfen bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannt werden (vgl. BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>). Denn der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes, der für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgt (vgl. BVerfGE 85, 337 <345> m.w.N.), verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung vorgesehenen Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 <26>; 69, 381 <385>; 88, 118 <123 ff.>). Eine derartige Erschwerung liegt aber vor, wenn von einem Rechtsuchenden oder seinem Prozessbevollmächtigten, der sich und seine organi-satorischen Vorkehrungen darauf eingerichtet hat, einen Schriftsatz weder selbst noch durch Boten oder per Post, sondern durch Fax zu übermitteln, beim Scheitern der gewählten Übermittlung infolge eines Defekts des Empfangsgeräts oder wegen Leitungsstörungen verlangt wird, dass er innerhalb kürzester Zeit eine andere als die gewählte, vom Gericht offiziell eröffnete Zugangsart sicherstellt (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1996, S. 2857).

Die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ist in allen Gerichtszweigen uneingeschränkt zulässig. Wird dieser Übermittlungsweg durch ein Gericht eröffnet, dürfen die aus den technischen Gegebenheiten dieses Kommunikationsmittels herrührenden besonderen Risiken nicht auf den Nutzer dieses Mediums abgewälzt werden. Dies gilt im Besonderen für Störungen des Empfangsgeräts im Gericht. In diesem Fall liegt die entscheidende Ursache für die Fristsäumnis in der Sphäre des Gerichts. Aber auch Störungen der Übermittlungsleitungen sind dem gewählten Übermittlungsmedium immanent, weil ein Telefax nur über sie zum Empfangsgerät gelangt. Auch bei einer Leitungsstörung versagt daher die von der Justiz angebotene Zugangseinrichtung. Der Nutzer hat mit der Wahl eines anerkannten Übermittlungsmediums, der ordnungsgemäßen Nutzung eines funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der Empfängernummer das seinerseits zur Fristwahrung Erforderliche getan, wenn er so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, dass unter normalen Umständen mit ihrem Abschluss bis zum Ablauf der Frist zu rechnen ist (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Ersten Senats, a.a.O., S. 2857 f.). Dabei ist in letzterer Hinsicht zu berücksichtigen, dass häufig gerade die Abend- und Nachtstunden wegen günstigerer Tarife oder wegen drohenden Fristablaufs genutzt werden, um Schriftstücke noch fristwahrend per Telefax zu übermitteln. Dem ist vom Rechtsuchenden gegebenenfalls durch einen zeitlichen "Sicherheitszuschlag" Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, 3. Kammer des Zweiten Senats, NJW 2000, S. 574).

b) Diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht.

Das Landgericht hat nicht ausgeschlossen, dass die verspätete Übermittlung des Berufungsbegründungsschriftsatzes des Beschwerdeführers auf eine Störung des im Gericht für Telefaxe vorgesehenen Empfangsgeräts und damit auf einen in der Gerichtssphäre liegenden Umstand zurückzuführen ist. Es stellt eine Überspannung der an den Beschwerdeführer zu stellenden Sorgfaltsanforderungen dar, wenn das Landgericht bei dieser Sachlage zum einen verlangt, der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers hätte sich noch darum bemühen müssen, einen beim Landgericht zugelassenen Anwalt mit der Übermittlung des Berufungsbegründungsschriftsatzes zu beauftragen, und zum anderen in formeller Hinsicht beanstandet, der Prozessbevollmächtigte habe schon nicht vorgetragen, dass ihm nach dem Erkennen erfolgloser Übermittlungsversuche andere zumutbare und mögliche Wege der fristgerechten Übermittlung des Schriftsatzes nicht zur Verfügung gestanden hätten.

Mit der Wahl des Faxes als eines anerkannten Übermittlungsmediums, der ordnungsgemäßen Nutzung eines funktionsfähigen Sendegeräts und der korrekten Eingabe der Empfängernummer hatte der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers das seinerseits zur Fristwahrung Erforderliche getan. Er hat mit der Übermittlung des Berufungsbegründungsschriftsatzes auch zu einem Zeitpunkt begonnen, zu dem er unter normalen Umständen mit einem Eingang der Sendung bei Gericht vor Fristablauf hat rechnen dürfen. Ausweislich der Sendeberichte, deren Richtigkeit das Landgericht nicht in Frage gestellt hat, ist gut sechs Stunden vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist mit dem Versuch begonnen worden, die Berufungsbegründungsschrift per Fax zu versenden; dem Beschwerdeführer kann deshalb nicht entgegengehalten werden, mit der Übermittlung zu lange gewartet zu haben.

c) Der angegriffene Beschluss beruht auf dem Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist gewährt hätte und in eine Sachbehandlung eingetreten wäre, wenn es das Recht des Beschwerdeführers auf eine rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung beachtet hätte.

2. Da die angegriffene Entscheidung schon wegen Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aufzuheben ist, kann offen bleiben, ob sie auch Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO in Verbindung mit den vom Bundesverfassungsgericht dazu entwickelten Grundsätzen (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).

Ende der Entscheidung

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