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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 22.05.2003
Aktenzeichen: 1 BvR 452/99
Rechtsgebiete: GG, BVerfGG


Vorschriften:

GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2
BVerfGG § 92
BVerfGG § 23 Abs. 1 Satz 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 452/99 -

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) das Urteil des Bundessozialgerichts vom 26. November 1998 - B 3 P 12/97 R -,

b) das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. September 1997 - L 4/3 P 28/96 -

hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, den Richter Steiner und die Richterin Hohmann-Dennhardt gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)

am 22. Mai 2003 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Leistungsansprüche von Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung, die an demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen leiden.

I.

Die soziale Pflegeversicherung des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) gewährt ihren Versicherten nur dann Leistungen, wenn Pflegebedürftigkeit vorliegt. Pflegebedürftig sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen (§ 14 Abs. 1 SGB XI). Zur Bestimmung des Umfangs von Leistungen werden pflegebedürftige Personen so genannten Pflegestufen nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit zugeordnet (§ 15 Abs. 1 SGB XI). Maßstab dafür ist der Zeitaufwand, der für Pflegeleistungen anfällt.

Hilfe im Sinne des § 14 Abs. 1 SGB XI besteht in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen (§ 14 Abs. 3 SGB XI). In § 14 Abs. 4 SGB XI ist definiert, was das Gesetz unter gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen versteht. Die Vorschrift lautet:

Gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Absatzes 1 sind:

1. im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung,

2. im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung,

3. im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung,

4. im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.

Damit findet nur diejenige Unterstützung Pflegebedürftiger im Leistungsrecht Berücksichtigung, die der Versicherte bei diesen gesetzlich abschließend benannten Verrichtungen benötigt. Darüber hinaus gehende Betreuungsleistungen sind für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit nicht maßgebend.

II.

1. Der 1970 geborene Beschwerdeführer ist in der sozialen Pflegeversicherung versichert. Als Folge eines frühkindlichen Hirnschadens ist er geistig behindert. Er wohnt bei seinen Eltern, die ihn versorgen und betreuen. Sein Vater erhielt als Bediensteter der Landesfinanzverwaltung für die Pflege des Beschwerdeführers, so lange die gesetzliche Pflegeversicherung noch nicht errichtet war, monatlich 400 DM von seinem Dienstherrn.

Der Beschwerdeführer hat ohne Erfolg versucht, von seiner Pflegekasse Leistungen bei häuslicher Pflege auf der Grundlage des SGB XI zu erhalten. Auch vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist er erfolglos geblieben. Die Ablehnung wurde jeweils darauf gestützt, der für die Pflegestufe I notwendige Hilfebedarf bei der Grundpflege von mehr als 45 Minuten wöchentlich im Tagesdurchschnitt werde nicht erreicht. Der Zeitaufwand, der für die allgemeine Beaufsichtigung des Beschwerdeführers anfalle, dürfe dabei nicht berücksichtigt werden.

2. Dagegen richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer sieht sich in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und wohl auch Absatz 2 GG, aus Art. 3 Abs. 1 und 3 Satz 2 GG sowie aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Nach seiner Auffassung hätten die Gerichte § 14 Abs. 4 SGB XI verfassungskonform auslegen müssen. Die Vorschrift sei nur dann mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn sie auch den allgemeinen Aufsichts- und Betreuungsbedarf bei geistig behinderten Menschen erfasse. Diese würden durch die strenge Verrichtungsbezogenheit des § 14 Abs. 4 SGB XI gegenüber Menschen mit somatischer Erkrankung oder Behinderung ungerechtfertigt benachteiligt. Sollte eine solche Auslegung nicht möglich sein, wäre die Norm verfassungswidrig. Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erblickt der Beschwerdeführer darin, dass die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des § 14 Abs. 4 SGB XI nach Art. 100 Abs. 1 GG eingeholt hätten.

III.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Voraussetzungen von § 93 a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Sie hat keine Aussicht auf Erfolg.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist nur zulässig, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG rügt. Im Übrigen hat der Beschwerdeführer entgegen §§ 92, 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten nicht substantiiert vorgetragen (vgl. BVerfGE 6, 132 <134>; stRspr).

2. Soweit der Beschwerdeführer die Verletzung von Verfassungsrechten zulässig gerügt hat, hat seine Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg. Weder die angegriffenen Gerichtsentscheidungen noch der ihnen zu Grunde liegende § 14 Abs. 4 SGB XI verletzen Grundrechte des Beschwerdeführers.

a) Der strenge Bezug des Begriffs der Pflegebedürftigkeit auf bestimmte Verrichtungen in § 14 Abs. 4 SGB XI verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Eine verfassungskonforme Auslegung ist nicht angezeigt.

aa) Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Das Grundrecht ist aber dann verletzt, wenn der Gesetzgeber eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 104, 126 <144 f.>; stRspr). Bei der notwendigen Grenzziehung, welche tatsächlichen Gegebenheiten die Leistungspflicht der sozialen Pflegeversicherung auslösen oder erhöhen, kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Geht es wie hier darum, die leistungsrechtlichen Grundentscheidungen eines Sozialleistungssystems festzulegen, sind vorwiegend sozialpolitische Entscheidungen grundsätzlicher Art zu treffen. Diese hat das Bundesverfassungsgericht hinzunehmen, solange die Erwägungen des Gesetzgebers weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind (vgl. BVerfGE 13, 97 <107, 110>; 14, 288 <301>; 89, 365 <376>).

Dabei ist die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit besonders groß, wenn ein Sozialleistungssystem - wie die soziale Pflegeversicherung - ohnehin nur die Teilabsicherung eines Risikos bewirken soll (vgl. zur Begrenzung der Höhe der Leistungen BVerfGE 103, 242 <244>; BTDrucks 12/5262, S. 90) und Lücken im Leistungskatalog unter bestimmten Voraussetzungen teilweise anderweitig geschlossen werden können, hier durch die Hilfe zur Pflege nach §§ 68 ff. BSHG (vgl. dazu im Einzelnen Lachwitz in: Schulin, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 4, Pflegeversicherungsrecht, 1997, § 9 Rn. 75 ff.). Keinesfalls kann das Bundesverfassungsgericht prüfen, ob der Gesetzgeber unter mehreren möglichen Lösungen die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste gewählt hat (vgl. BVerfGE 81, 156 <206>). Ebenso wenig kann es im Rahmen der verfassungsrechtlichen Prüfung darauf abstellen, was aus Sicht der Menschen, die einen nachvollziehbaren Unterstützungsbedarf haben, und aus der Sicht ihrer Angehörigen wünschenswert oder gar unerlässlich erscheint.

bb) Die vom Beschwerdeführer gerügte Ungleichbehandlung besteht darin, dass bei Menschen mit somatischen Erkrankungen oder Behinderungen auf Grund des verrichtungsbezogenen Begriffs des Pflegebedarfs der Betreuungsbedarf insgesamt in höherem Maß bei der Ermittlung der Pflegebedürftigkeit relevant ist als der von Menschen mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen.

cc) Diese Ungleichbehandlung ist durch sachlich einleuchtende Gründe gerechtfertigt. Da die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise nur als Teilabsicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit ausgestaltet worden sind, hatte der Gesetzgeber festzulegen, was die soziale Pflegeversicherung zu leisten hat und was nicht. Er hat sich dafür entschieden, dass der Bedarf an allgemeinen Betreuungs- und Hilfeleistungen nicht die Pflegebedürftigkeit begründen oder zu einer erhöhten Pflegebedürftigkeit führen kann. Das ist im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden.

(1) Maßgebend für den Gesetzgeber war zum einen der Gesichtspunkt der Gesetzesklarheit und der Anwendungssicherheit im Leistungsrecht (vgl. BTDrucks 12/5262, S. 95). Die strenge Verrichtungsbezogenheit des § 14 Abs. 4 SGB XI bewirkt, dass der leistungsberechtigte Personenkreis relativ einfach und schnell festgestellt werden kann. Eine Berücksichtigung allgemeiner Betreuungs- und Hilfeleistungen bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit würde diesem auch rechts- wie sozialstaatlich gleichermaßen erheblichen Vorteil entgegenwirken (vgl. BTDrucks 13/9528, S. 10 und 26).

(2) Der Gesetzgeber durfte sich bei der Definition der Pflegebedürftigkeit auch von der Erwägung leiten lassen, nur eine verhältnismäßig enge Fassung sei finanzwirtschaftlich zu verantworten (vgl. zu diesem Aspekt Marschner, Kommentar zum Pflege-Versicherungsgesetz, § 14 SGB XI Rn. 1 <Stand: Januar 2001>; BTDrucks 13/9528, S. 53). Es war sein Ziel, die Beitragssätze dauerhaft auf einem vertretbaren Niveau zu halten (vgl. BTDrucks 12/5262, S. 133). Im Rahmen einer Gesamtabwägung, bei der insbesondere gesamtwirtschaftliche Überlegungen zu berücksichtigen waren, hatte der Gesetzgeber zu entscheiden, in welchem Umfang er den an der Finanzierung der Pflegeversicherung Beteiligten finanzielle Lasten aufbürden wollte. Der von ihm eingeschlagene Weg, die Beitragsbelastung auch mit Hilfe der Definition der Pflegebedürftigkeit in Grenzen zu halten, liegt im Rahmen seines politischen Gestaltungsspielraums (vgl. BVerfGE 75, 78 <101>; 96, 330 <342> m.w.N.) und ist nicht durch Vorgaben des Verfassungsrechts versperrt.

(3) Die Leistungsstruktur, welche die soziale Pflegeversicherung durch diese Grenzziehung erhalten hat, wird auch im übrigen verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht.

(a) Innerhalb der Ausformung der Leistungstatbestände in der sozialen Pflegeversicherung eröffnet sich für jeden Versicherten prinzipiell die gleiche Möglichkeit, Versicherungsleistungen zu erhalten. Das Risiko, bei den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen irgendwann im Laufe des Lebens Hilfe zu benötigen, besteht für alle Versicherten grundsätzlich in gleichem Maß. § 14 und § 15 SGB XI sind im Übrigen auch keineswegs auf Menschen mit somatischen Krankheiten oder Behinderungen zugeschnitten; vielmehr sind die besonderen Hilfsformen "Anleitung" und "Beaufsichtigung" (vgl. § 14 Abs. 3 SGB XI) hauptsächlich für psychisch kranke, demente und hirnverletzte Menschen von Bedeutung (vgl. BTDrucks 12/5262, S. 81). Das haben die bisherigen praktischen Erfahrungen bestätigt. Nach dem Ersten Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung (BTDrucks 13/9528) "erreichen" die Regelungen der Absätze 1 und 3 des § 14 SGB XI psychisch Kranke und geistig Behinderte in großem Umfang. Regionale Untersuchungen hätten ergeben, dass deren Anträge auf Leistungen der Pflegeversicherung eher seltener abgelehnt und sie im Vergleich zu Personen mit körperlichen Erkrankungen höheren Pflegestufen zugeordnet würden. Hirnorganische und psychische Erkrankungen machten in den Pflegestufen I und II über 30 vom Hundert der pflegebegründenden Erkrankungen aus, in Pflegestufe III sogar über 50 vom Hundert (vgl. BTDrucks, a.a.O., S. 25/26).

(b) Es ist auch nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber systemwidrig und inkonsequent vorgegangen ist. Die gesetzlichen Kriterien, die für den Versicherungsfall maßgebend sind, orientieren sich am Zweck der sozialen Pflegeversicherung und werden dem Problem der Betreuung und Unterstützung pflegebedürftiger Menschen vom Grundsatz her gerecht. Ob der Gesetzgeber dabei die allerbeste Lösung gewählt hat, ist vom Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden. Der Gesetzgeber war insbesondere vom Grundgesetz nicht gehalten, das, was nach allgemeinem Sprachgebrauch unter "Pflege" zu verstehen ist, vollständig im Leistungsrecht zu berücksichtigen. Auch bilden die so genannten Einweisungsvorschriften, also die §§ 1 bis 13 SGB XI (vgl. Peters in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 1 SGB XI Rn. 2 <Stand: August 2001>), nicht höherrangiges Recht, an dem die folgenden Regelungen zu messen wären. Dies gilt auch für den Vorrang häuslicher Pflege nach § 3 SGB XI.

b) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht verletzt. Für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bestand angesichts der Ausführungen unter a) kein Anlass, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG einzuholen.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Ende der Entscheidung

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