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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 12.03.2004
Aktenzeichen: 1 BvR 540/04
Rechtsgebiete: GG
Vorschriften:
GG Art. 12 Abs. 1 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT IM NAMEN DES VOLKES
- 1 BvR 540/04 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
gegen
a) den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 24. Februar 2004 - 8 ME 224/03 -,
b) den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 01. Dezember 2003 - 5 B 6121/03 -,
c) den Bescheid der Bezirksregierung Hannover vom 11. November 2003 - 108.3-41013-19/03 -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin Jaeger und die Richter Hömig, Bryde gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 12. März 2004 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung der Bezirksregierung Hannover vom 11. November 2003 - 108.3-41013-19/03 - wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, vorläufig ausgesetzt.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die einstweilige Anordnung zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Anordnung des Ruhens seiner Approbation als Zahnarzt.
1. Der Beschwerdeführer ist seit 1989 niedergelassener Zahnarzt in Niedersachsen. In der Zeit von Juni 1999 bis Oktober 2001 betrieb er zugleich eine weitere Zahnarztpraxis in Italien.
Im Oktober 2001 wurde der Beschwerdeführer wegen des Verdachts des unerlaubten Waffenbesitzes und der Brandstiftung in Italien verhaftet. Die italienischen Strafverfolgungsbehörden warfen ihm vor, eine Schusswaffe ohne Erlaubnis bei sich geführt sowie seine Praxis vorsätzlich in Brand gesetzt zu haben, um die Versicherungssumme aus der Feuerversicherung zu erlangen. Bezüglich des Vorwurfs des unerlaubten Waffenbesitzes erhielt der Beschwerdeführer nach italienischem Recht im Wege einer so genannten einvernehmlichen Strafzumessung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, sowie eine Geldstrafe in Höhe von 400.000 Lire. Hinsichtlich der Brandstiftung erhob die Staatsanwaltschaft in Italien Anklage gegen den Beschwerdeführer. Die Hauptverhandlung wurde aufgrund einer verfahrensrechtlichen Änderung ausgesetzt.
Im August 2003 erhob die Staatsanwaltschaft in Niedersachsen Anklage gegen den Beschwerdeführer wegen gewerbsmäßigen Betrugs. Der Beschwerdeführer habe von 1999 bis 2001 nicht erbrachte Leistungen gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung abgerechnet und dadurch unberechtigte Einkünfte in Höhe von 65.000 Euro erzielt.
Durch Verfügung vom 11. November 2003 ordnete die Bezirksregierung daraufhin das sofortige Ruhen der Approbation des Beschwerdeführers sowie die sofortige Vollziehbarkeit dieser Anordnung an. Der Beschwerdeführer beantragte die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab. Zur Begründung führte es aus, die nach § 80 Abs. 5 VwGO vom Verwaltungsgericht zu treffende Abwägung falle zulasten des Beschwerdeführers aus, weil die summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage ergeben habe, dass seine Klage wohl unbegründet sei.
Die gegen diesen Beschluss eingelegte Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht zurück. Für die im Eilverfahren erforderliche Ermessensentscheidung habe das Verwaltungsgericht zutreffend auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache abgestellt. Zudem sei die Einschätzung richtig, dass die Klage aller Voraussicht nach keinen Erfolg haben werde. Das Vorbringen des Beschwerdeführers sei bei der in diesem Verfahren nur möglichen summarischen Prüfung nicht geeignet, die Einschätzung, dass eine Verurteilung wegen des angeklagten Abrechnungsbetrugs hinreichend wahrscheinlich sei, ernstlich in Zweifel zu ziehen. Daher sei davon auszugehen, dass schon die Einleitung dieses Strafverfahrens die Ruhensanordnung rechtfertige. Das gelte umso mehr, als sich nicht nur aus dem Abrechnungsbetrug, sondern auch aus den dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Straftaten der Brandstiftung und des Versicherungsbetruges dessen Unwürdigkeit und Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Zahnarztberufs ergeben könne. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Ruhens der Approbation begegne ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken, weil sie zur Abwehr konkreter Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter erforderlich sei. Die Bezirksregierung habe insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass bei einem jahrelangen Abrechnungsbetrug eine Wiederholungsgefahr gegeben sei. Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten deuteten auf eine nicht unerhebliche kriminelle Energie hin. Außerdem sprächen sie dafür, dass der Beschwerdeführer charakterlich zur Ausübung seines Berufes nicht geeignet sei.
2. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG. Zur Begründung trägt er vor, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit in sein Recht auf Berufsfreiheit in unverhältnismäßiger Weise eingreife. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts komme der Sofortvollzug einer Zulassungsentziehung nur in Betracht, wenn ein besonderes öffentliches Interesse vorliege, welches über dasjenige hinausgehe, das den Verwaltungsakt rechtfertige. Diese Rechtsprechung müsse erst Recht für die Anordnung des Ruhens einer Approbation gelten. Die angegriffenen Entscheidungen gingen jedoch ohne Benennung einer konkreten Gefahr davon aus, dass die Volksgesundheit sowie das besondere Vertrauen der Bevölkerung in die Ärzteschaft gefährdet seien. Zudem hätten die Gerichte übersehen, dass die angeklagten Betrugshandlungen sich auf die außergewöhnliche Situation einer doppelten Praxisführung bezögen, deren Wiederholung nicht zu erwarten sei. Im Übrigen habe er seit Bekanntwerden der Ermittlungen keinerlei Anlass zur Beanstandung mehr gegeben.
3. Zugleich mit der Verfassungsbeschwerde hat der Beschwerdeführer Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG gestellt, mit dem er die Aussetzung der sofortigen Vollziehung des Bescheides der Bezirksregierung erstrebt. Seine Verfassungsbeschwerde sei weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Die erforderliche Folgenabwägung ergebe, dass - wenn die einstweilige Anordnung nicht ergehe - seiner Zahnarztpraxis die wirtschaftliche Grundlage in irreparabler Weise entzogen werde. Demgegenüber drohten der Allgemeinheit keine gravierenden Nachteile, falls die einstweilige Anordnung ergehe, der Verfassungsbeschwerde aber später der Erfolg versagt bleibe. Es seien keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er der Volksgesundheit oder dem Vertrauen der Bevölkerung in den Arztberuf schade.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
1. Nach den §§ 32, 93 d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>).
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
Mit der Anordnung des Ruhens der Approbation sowie der Anordnung der sofortigen Vollziehung wird in die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Eingriffe nur unter strengen Voraussetzungen zum Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl. BVerfGE 44, 105 <117 ff.>; stRspr). Überwiegende öffentliche Belange können es ausnahmsweise rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Wegen der gesteigerten Eingriffsintensität beim Sofortvollzug einer Anordnung des Ruhens der Approbation sind hierfür jedoch nur solche Gründe ausreichend, die in angemessenem Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen und ein Zuwarten bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptverfahrens ausschließen (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 2003, S. 3618 f., sowie BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, Pharma Recht 1997, S. 298 ff.). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt.
Ob die angegriffenen Entscheidungen diesen Maßstäben Rechnung getragen haben, ist zweifelhaft und bedarf der Überprüfung im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Denn die Gerichte haben die Beurteilung der Ermessensentscheidung über die sofortige Vollziehbarkeit der Ruhensanordnung im Wesentlichen anhand der Erfolgsaussichten in der Hauptsache vorgenommen. Die Frage, ob darüber hinaus eine Gefahrenlage besteht, die auch den Sofortvollzug zu rechtfertigen vermag, haben die Gerichte bejaht, ohne dies im konkreten Einzelfalls anhand von Tatsachen zu belegen und ohne gesondert die Folgen, die bei einem Aufschub der Maßnahmen für die Dauer des Rechtsstreits zu befürchten sind, und diejenigen, welche demgegenüber bei dem Beschwerdeführer wegen des Sofortvollzugs eintreten, gegeneinander abzuwägen.
3. Die hinsichtlich des vor dem Bundesverfassungsgericht gestellten Antrags gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, so entstünden dem Beschwerdeführer durch den Vollzug der Anordnung des Ruhens der Approbation schon jetzt schwere und kaum wiedergutzumachende wirtschaftliche Nachteile. Der Beschwerdeführer hätte seine Praxis zu schließen mit der Folge, dass er seinen Patientenstamm sowie auch seine Angestellten möglicher Weise auf Dauer verlöre. Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, könnte der Beschwerdeführer seine Praxis weiter betreiben mit den von den Behörden prognostizierten Gefahren.
Die Folgen einer solchen zeitlichen Verzögerung des Ruhens der Approbation fallen hier weniger ins Gewicht, weil keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass der Beschwerdeführer die Gesundheit sowie das Vertrauen der Bevölkerung in die Ärzteschaft in nächster Zeit gefährden wird. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass die Situation der doppelten Praxisführung, die möglicherweise zu mehreren Fällen von Abrechnungsbetrug verleitet hat, aller Voraussicht nach nicht wieder auftreten wird. Auch ist es seit Beginn der strafrechtlichen Ermittlungen im Jahre 2001 nicht mehr zu Beanstandungen gekommen. Nach diesem Sachverhalt ist die Gefahrenprognose nur schwach fundiert. Sie rechtfertigt nicht die vorläufige Praxisschließung. Zudem ist es den Behörden unbenommen, den Beschwerdeführer während der Dauer der aufschiebenden Wirkung der Rechtsbehelfe verstärkt zu überwachen.
4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG.
5. Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung des Antragsgegners des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Ende der Entscheidung
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