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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 11.11.1999
Aktenzeichen: 1 BvR 762/99
Rechtsgebiete: BVerfGG
Vorschriften:
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstabe b | |
BVerfGG § 93 c Abs. 1 Satz 1 | |
BVerfGG § 34 a Abs. 2 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
- 1 BvR 762/99 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau K...
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Markus Valerius und Partner, Wilhelm-Külz-Straße 15, Halle (Saale) -
gegen
a) den Beschluß des Landgerichts Halle vom 10. Juni 1999 - 2 S 352/98 -,
b) den Beschluß des Landgerichts Halle vom 4. Mai 1999 - 2 S 352/98 -,
c) den Beschluß des Landgerichts Halle vom 23. März 1999 - 2 S 352/98 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Kühling, die Richterin Jaeger und den Richter Steiner
am 11. November 1999 einstimmig beschlossen:
Tenor:
Die Beschlüsse des Landgerichts Halle vom 23. März 1999, 4. Mai 1999 und 10. Juni 1999 - 2 S 352/98 - verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Halle zurückverwiesen.
Das Land Sachsen-Anhalt hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen gerichtliche Entscheidungen, durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist für die Berufungsbegründung versagt und die Berufung verworfen worden ist.
I.
1. Die Beschwerdeführerin erhob beim Amtsgericht Klage auf Herausgabe einer Garage, die auf ihrem Grundstück steht. Das Amtsgericht wies die Klage ab. Die Beschwerdeführerin legte gegen das Urteil rechtzeitig Berufung ein, versäumte aber die Frist für die Berufungsbegründung. Ihren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begründete sie damit, die Berufungsbegründung am Tag vor Ablauf der Frist im Bereich des Ortsbestellverkehrs zur Post gegeben zu haben, so daß sie bei normaler Postlaufzeit am folgenden Tag beim Landgericht hätte eingehen müssen. Das werde eine Auskunft der Post bestätigen.
Das Landgericht wies den Antrag auf Wiedereinsetzung zurück und verwarf die Berufung, ohne eine Auskunft der Post eingeholt zu haben. Die Beschwerdeführerin könne sich nicht darauf berufen, daß die Berufungsbegründung bei normaler Postlaufzeit rechtzeitig beim Landgericht hätte eingehen müssen. Selbst bei störungsfreiem Betrieb müsse mit einer Postlaufzeit von bis zu drei Tagen gerechnet werden. Hinzu komme, daß die Post vor Feiertagen besonders stark in Anspruch genommen sei.
2. Die Beschwerdeführerin rügt die Verletzung ihres Rechtes aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Landgericht gehe ohne nachvollziehbare Anhaltspunkte davon aus, daß mit einer Postlaufzeit von bis zu drei Tagen gerechnet werden müsse. Verzögerungen im Postverkehr, gleich ob sie auf erhöhter Beanspruchung vor Feiertagen, höherer Gewalt oder Nachlässigkeit von Bediensteten beruhten, seien der Partei bei einer Entscheidung über Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Verfassungs wegen nicht zuzurechnen.
3. Die Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt hat mitgeteilt, daß sie von einer Stellungnahme absehe. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens hat sich nicht geäußert.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde ist nach § 93 a Abs. 2 Buchstabe b und § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG zur Entscheidung durch die Kammer anzunehmen. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Sie ist danach offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).
a) Im Rahmen der Anwendung von verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dürfen dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung durch die Deutsche Post Aktiengesellschaft nicht als Verschulden zugerechnet werden. Diesem Grundsatz muß jedes rechtsstaatliche Gerichtsverfahren, auch der Zivilprozeß, genügen, andernfalls liegt eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG vor. Der Bürger darf darauf vertrauen, daß die nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Post für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. Versagen diese Vorkehrungen, so darf das dem Bürger, der darauf keinen Einfluß hat, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt werden. In seinem Verantwortungsbereich liegt es allein, das zu befördernde Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post zu geben, daß es bei normalem Verlauf der Dinge den Empfänger fristgerecht erreichen kann. Schließlich dürfen die Gerichte die Wiedereinsetzung nicht mit der Begründung versagen, der Betroffene habe "nach Sachlage" oder "erfahrungsgemäß" mit einer Verzögerung der Sendung rechnen müssen. Vielmehr ist bei Zweifeln eine Auskunft der Post darüber vorzulegen oder von Amts wegen einzuholen, wie lange die Postlaufzeit nach deren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen bemessen ist (vgl. BVerfG, Beschluß der 2. Kammer des Ersten Senats vom 15. Mai 1995, NJW 1995, S. 2546 f. m.w.N.). Differenzierungen danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post, etwa vor Feiertagen, oder auf einer verminderten Dienstleistung der Post, etwa an Wochenenden, beruht, sind unzulässig (vgl. BVerfG, Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats vom 27. Februar 1992, NJW 1992, S. 1952 m.w.N.).
b) Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet. Das Landgericht hätte die Wiedereinsetzung nicht ohne Auskunft der Post und damit ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt mit der Begründung verweigern dürfen, daß selbst bei störungsfreiem Betrieb im Ortsbestellverkehr mit einer Postlaufzeit von bis zu drei Tagen gerechnet werden müsse. Die Differenzierung danach, ob die Verzögerung auf einer zeitweise besonders starken Beanspruchung der Leistungsfähigkeit der Post vor Feiertagen beruht, ist unzulässig.
2. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
Ende der Entscheidung
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