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Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 30.12.1999
Aktenzeichen: 1 BvR 809/95
Rechtsgebiete: GG, SGB I, AFG, SGB IV, BVerfGG
Vorschriften:
GG Art. 14 | |
GG Art. 2 | |
GG Art. 3 Abs. 1 | |
SGB I § 30 Abs. 1 | |
SGB I § 30 Abs. 2 | |
SGB I § 37 Satz 1 | |
AFG § 168 | |
AFG § 173 a | |
AFG §§ 100 f. | |
SGB IV § 3 | |
BVerfGG § 93 a Abs. 2 Buchstabe b | |
BVerfGG § 93 c Abs. 1 Satz 1 | |
BVerfGG § 95 Abs. 2 | |
BVerfGG § 34 a Abs. 2 |
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 809/95 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau M...
- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Ulrich Molwitz, Heinrichsallee 8, Aachen -
gegen a) den Beschluss des Bundessozialgerichts vom 8. März 1995 - 7 BAr 192/94 -,
b) das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Juli 1994 - L 8 Al 318/90 -,
c) das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25. Juli 1990 - S 13 Al 229/90, 232/90 -,
d) die Bescheide des Arbeitsamtes Aachen vom 14. Februar 1989 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 23. März 1989 (III 08-9032-W 710/89) und vom 13. Februar 1990 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 22. März 1990 (III 08-9032-W 891/90)
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Richter Kühling, die Richterin Jaeger und den Richter Steiner
am 30. Dezember 1999 einstimmig beschlossen:
Tenor:
1. Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 27. Juli 1994 - L 8 Al 318/90 -, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25. Juli 1990 - S 13 Al 229/90, 232/90 - sowie die Bescheide des Arbeitsamts Aachen vom 14. Februar 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. März 1989 sowie vom 13. Februar 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. März 1990 verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil des Landessozialgerichts wird aufgehoben und die Sache dorthin zurückverwiesen.
Der Beschluss des Bundessozialgerichts vom 8. März 1995 - 7 BAr 192/94 - ist damit gegenstandslos.
2. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Frage, ob eine grenznah zur Bundesrepublik Deutschland wohnende Angehörige eines Staates, der nicht Mitglied der Europäischen Gemeinschaft ist, Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit hat, wenn sie in der Arbeitslosenversicherung der Bundesrepublik pflichtversichert war und - vorbehaltlich ihres Wohnsitzes - die Leistungsvoraussetzungen erfüllt.
I.
1. Die Beschwerdeführerin wurde aus Anlass ihrer Eheschließung 1968 österreichische Staatsangehörige; die deutsche Staatsangehörigkeit verlor sie. Nach Scheidung der Ehe kehrte sie in die Bundesrepublik Deutschland zurück und nahm im Mai 1980 in Aachen eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf. 1985 verlegte sie ihren Wohnsitz in eine grenznah gelegene belgische Gemeinde, behielt aber ihre versicherungspflichtige Beschäftigung in Aachen bei.
Zum 1. April 1988 wurde die Beschwerdeführerin arbeitslos. Sie beantragte Arbeitslosengeld. Das Arbeitsamt lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 14. Februar 1989; Widerspruchsbescheid vom 23. März 1989), weil sie ihren Wohnsitz nicht im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuchs habe. Nach einer fünfmonatigen Zwischenbeschäftigung - wiederum in Deutschland - stellte sie erneut einen Antrag auf Arbeitslosengeld, den das Arbeitsamt wiederum, unter Berufung auf den ausländischen Wohnsitz der Beschwerdeführerin ablehnte (Bescheid vom 13. Februar 1990; Widerspruchsbescheid vom 22. März 1990).
Die dagegen gerichteten Klagen (S 13 Al 229/90; 232/90) hat das Sozialgericht zur gemeinsamen Entscheidung verbunden und abgewiesen. Die Berufung wies das Landessozialgericht zurück. Dem Anspruch der Beschwerdeführerin auf Leistungen nach §§ 100 ff. des Arbeitsförderungsgesetzes in der massgeblichen Fassung vom 18. Juni 1994 (AFG; mit Wirkung zum 1. Januar 1998 ersetzt durch die Nachfolgeregelung in §§ 117 ff. des Dritten Buches des Sozialgesetzbuches - SGB III) stehe § 30 Abs. 1 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) entgegen. Die Beschwerdeführerin habe ihren Wohnsitz nicht im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuchs. Eine Durchbrechung des Wohnortprinzips ergebe sich auch nicht aus §§ 30 Abs. 2, 37 Satz 1 SGB I. Die Beschwerdeführerin erfülle auch nicht die Voraussetzungen für den Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit nach dem Recht der Europäischen Gemeinschaft, weil sie nicht Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates dieser Gemeinschaft sei.
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision verwarf das Bundessozialgericht als unzulässig.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 2 GG, Art. 3 Abs. 1 GG sowie des Sozialstaatsprinzips. Die Anwartschaft auf Arbeitslosengeld stehe unter dem Schutz von Art. 14 GG; die Erbringung der Leistung müsse daher gewährleistet sein. Diesem verfassungsrechtlichen Gebot werde § 30 Abs. 1 SGB I nicht gerecht. Das dort verankerte Territorialitätsprinzip müsse hinter den Schutz der Eigentumsgarantie zurücktreten, wenn die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs nach §§ 100 f. AFG gegeben seien, der Anspruch also nur am Auslandswohnsitz der Berechtigten scheitere.
Auch der allgemeine Gleichheitssatz sei verletzt. Zwischen Personen mit Inlandswohnsitz und solchen mit grenznahem Auslandswohnsitz bestehe kein Unterschied von solcher Art und solchem Gewicht, dass ihre ungleiche Behandlung im Hinblick auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung gerechtfertigt sei.
II.
Zur Verfassungsbeschwerde haben der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung namens der Bundesregierung und der Präsident des Bundessozialgerichts Stellung genommen. Der Bundesminister hält die mittelbar zur Prüfung gestellte Regelung des § 30 Abs. 1 SGB I für verfassungsrechtlich unbedenklich und eine Verletzung von Grundrechten der Beschwerdeführerin nicht für gegeben. Der Präsident des Bundessozialgerichts hat eine Äußerung des 7. Senats übersandt, in der eine Verletzung von Grundrechten der Beschwerdeführerin verneint wird.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung maßgebliche Frage nach der Bedeutung des Gleichheitssatzes für die auf Beiträgen beruhenden Ansprüche auf eine entsprechende Sozialleistung ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (vgl. BVerfGE 51, 1 <23 f.>; 92, 53 <71 f.>).
1. Nach den in diesen Entscheidungen entwickelten Maßstäben ist die den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegende Auslegung des § 30 Abs. 1 SGB I mit Art. 3 Abs. 1 GG insoweit unvereinbar, als Grenzgänger unter Hinweis auf ihren Wohnsitz auch dann keine Leistungen bei Arbeitslosigkeit erhalten, wenn im übrigen alle Voraussetzungen nach §§ 100 ff. AFG (jetzt: §§ 117 ff. SGB III) erfüllt sind.
a) Zwar kann eine durch § 30 Abs. 1 SGB I bewirkte Ungleichbehandlung der Personen mit Auslandswohnsitz im Vergleich zu den Personen mit Inlandswohnsitz sachlich gerechtfertigt sein (vgl. BVerfGE 51, 1 <24>; 81, 208 <222>). Es ist ein verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstandendes Ziel nationaler Sozialpolitik, sozial relevante Tatbestände im eigenen Staatsgebiet zu formen und zu regeln (vgl. BVerfG, NJW 1998, S. 2963 <2964> = NZS 1998, S. 518). Der Gesetzgeber kann den Wohn- und Aufenthaltsort als Kriterium wählen, nach dem sich neben anderen Voraussetzungen die Gewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit bestimmt. Er kann auch für die Beitragspflicht an den Beschäftigungsort (§§ 168, 173 a AFG i.V.m. § 3 SGB IV) oder an den Wohn- oder Aufenthaltsort (vgl. die Ermächtigung nach § 173 AFG) anknüpfen. Er ist aber nicht frei darin, ohne gewichtige sachliche Gründe den Anknüpfungspunkt zwischen Beitragserhebung und Leistungsberechtigung zu wechseln.
Das hat in der Arbeitslosenversicherung vor allem Bedeutung für Personen mit grenznahem Auslandswohnsitz, die im Inland beschäftigt und versichert sind (Grenzgänger). Deren besondere Situation ist durch ihre Nähe zum Staatsgebiet der Bundesrepublik, ihre zwangsweise Einbeziehung in das nationale Sicherungssystem des Beschäftigungsorts und nicht des Wohnsitzes mit entsprechender Beitragspflicht und durch den fortbestehenden Bezug zum Inlandsarbeitsmarkt gekennzeichnet.
Gründe, die für die Gruppe der so genannten Grenzgänger einen Wechsel des Anknüpfungssachverhalts rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Steht das Wohnsitzprinzip dem Eingriff durch Auferlegung von Beiträgen nicht entgegen, so können territoriale Gründe nicht erstmals gegen die Einlösung des mit Beiträgen erworbenen Versicherungsschutzes ins Feld geführt werden.
b) Unter diesen Voraussetzungen ist von Verfassungs wegen eine Auslegung geboten, die den aus Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Anspruch des Grenzgängers auf eine seiner Beitragszahlung entsprechende Sozialleistung zur Geltung bringt (vgl. BVerfGE 92, 53 <71 f.>). Der notwendige und verfassungsrechtlich unbedenkliche Bezug zum Geltungsbereich des Gesetzes ergibt sich aus den allgemeinen Leistungsvoraussetzungen für das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe (§§ 100 f., 134 f. AFG; jetzt: §§ 117 f. und 190 f. SGB III). Dazu gehört vor allem die subjektive und objektive Verfügbarkeit (§ 103 AFG; jetzt: Beschäftigungssuche nach § 119 SGB III) bezogen auf den inländischen Arbeitsmarkt. Die Vermittlungsfähigkeit lässt sich insbesondere anhand der Sprachkenntnisse, persönlicher Bindungen und des Verlaufs des bisherigen Berufs- und Erwerbslebens objektivieren (vgl. EuGH, Slg. 1986, S. 1837 <1852>). Die Leistungsvoraussetzungen erhalten insgesamt eine spezifische - mit der beitragsrechtlichen Anknüpfung in Einklang stehende - Ausprägung des Territorialitätsprinzips, die die Reichweite des allgemeinen Wohnsitzprinzips nach § 30 Abs. 1 SGB I einschränkt. Erfüllt ein zuvor in Deutschland beitragspflichtiger Grenzgänger nach den allgemeinen Vorschriften den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, so steht der Auslandswohnsitz als solcher dem Anspruch nicht entgegen.
2. Da die angegriffenen Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen auf einer mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Auslegung des § 30 Abs. 1 SGB I beruhen, ist ihre Verfassungswidrigkeit festzustellen. Auf die Frage der Verletzung anderer Grundrechte und sonstiger grundgesetzlicher Normen kommt es danach nicht mehr an. Das Urteil des Landessozialgerichts ist aufzuheben und die Sache dorthin zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der Beschluss des Bundessozialgerichts wird gegenstandslos (vgl. BVerfGE 63, 80 <88>).
IV.
Die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin hat der Freistaat Bayern zu erstatten (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG).
Ende der Entscheidung
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