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Beginn der Entscheidung

Gericht: Bundesverfassungsgericht
Beschluss verkündet am 24.05.2006
Aktenzeichen: 1 BvR 984/02
Rechtsgebiete: GG, BGB


Vorschriften:

GG Art. 5
GG Art. 5 Abs. 1 Satz 1
GG Art. 12
GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 1 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT

- 1 BvR 984/02 -

In dem Verfahren

über

die Verfassungsbeschwerde

gegen

a) das Urteil des Kammergerichts vom 12. Dezember 2001 - 29 U 32/01 -,

b) das Urteil des Landgerichts Berlin vom 8. Januar 2001 - 11 O 312/00 -

und Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Präsidenten Papier, die Richterin Hohmann-Dennhardt und den Richter Hoffmann-Riem gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 24. Mai 2006 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Die Verfassungsbeschwerde wird unbeschadet des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe:

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sind zivilgerichtliche Entscheidungen, durch die der Beschwerdeführer zur Zahlung einer Geldentschädigung wegen einer von ihm getätigten Äußerung verurteilt wurde.

I.

1. Der Kläger des Ausgangsverfahrens (im Folgenden: Kläger) war von 1975 bis 1985 als Verbandsarzt des Deutschen Schwimmsportverbandes der DDR und im Anschluss als Chefarzt in der Sportärztlichen Hauptverwaltungsstelle Leipzig tätig. Er wirkte an der seit Ende 1974 staatlich vorgegebenen Vergabe anaboler Steroide an Leistungsschwimmerinnen mit.

In dem aus diesem Grund vor dem Landgericht gegen den Kläger geführten Strafverfahren wegen Körperverletzung vertrat der Beschwerdeführer die als Nebenklägerinnen auftretenden Dopingopfer. In einer Verhandlungspause auf dem Flur von einem Redakteur des Senders Freies Berlin danach befragt, wie er die Aussagen des Klägers empfinde, erklärte der Beschwerdeführer im Rahmen eines von einem Kameramann aufgezeichneten Interviews:

"Ja man muss ... ich bezeichne ihn auch als Mengele des DDR-Doping-Systems, denn auf der Ebene des Doping-Systems muss man sagen, er hat gespritzt, er hat die Nebenwirkungen gekannt, er wusste, was er den Mädchen antat, er hat Versuche gestartet, alles unter dem Ziel der Leistungssteigerung des Ganzen."

Die Passage "ich bezeichne ihn auch als Mengele des DDR-Doping-Systems" wurde am Abend in der Tagesschau der ARD um 20.00 Uhr wörtlich zitiert.

Das Landgericht befand den Kläger der Körperverletzung in 58 Fällen für schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten.

2. Mit der angegriffenen Entscheidung verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer wegen der mit der Bezeichnung als "Mengele des DDR-Doping-Systems" verbundenen Verletzung des Persönlichkeitsrechts zur Zahlung einer Geldentschädigung in Höhe von 15.000 DM. Die Schwere des Eingriffs ergebe sich zum einen unmittelbar aus dem Vergleich mit dem KZ-Arzt Mengele. Dessen Taten seien mit den Verfehlungen des Klägers auch nicht im Ansatz vergleichbar. Angesichts der mit dem Namen "Mengele" im allgemeinen Bewusstsein verbundenen Vorstellungen werde die Einschränkung des Vergleichs auf den Mengele "des DDR-Doping-Systems" voraussichtlich keine Beachtung finden und mindere die Schwere des Eingriffs daher nicht wesentlich. Die Auffassung des Beschwerdeführers, bei der Äußerung handle es sich lediglich um gesteigerte Polemik, sei unhaltbar. Der Holocaust könne und dürfe aus Verantwortung vor dessen Opfern nicht als Mittel der Polemik eingesetzt werden. Zur Schwere der Verletzung des Persönlichkeitsrechts trage der Grad der Verbreitung bei, mit dem der Beschwerdeführer habe rechnen müssen.

Das Recht des Beschwerdeführers auf freie Meinungsäußerung könne den Eingriff in das Persönlichkeitsrecht nicht rechtfertigen. Die streitige Äußerung enthalte einen derartig schweren Angriff auf die Menschenwürde des Klägers, dass der Schutz der Persönlichkeit Vorrang haben müsse, obwohl sich die Äußerung des Beschwerdeführers als Beitrag zum Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit berührenden Frage darstelle, für die die Vermutung der freien Rede spreche.

Auch mit der Wahrnehmung berechtigter Interessen könne die streitige Äußerung nicht gerechtfertigt werden, da sie nicht in einem sachlichen Zusammenhang mit der Vertretung der Nebenklägerinnen im Strafprozess gestanden habe, sondern vielmehr als persönliche Stellungnahme außerhalb des Prozesses getätigt worden sei. Die verständliche Empörung des Beschwerdeführers über die Einlassung des Klägers in der Hauptverhandlung stelle ebenfalls keinen Rechtfertigungsgrund für einen in Strafsachen erfahrenen Anwalt dar. Schließlich stehe dem Anspruch des Klägers nicht entgegen, dass sein Ruf infolge des medienwirksamen Strafverfahrens ohnehin bereits beschädigt war, denn auch der Angeklagte im Strafprozess genieße den von der Rechtsordnung garantierten Schutz seines Persönlichkeitsrechts. Die Vorbeschädigung des Rufes sei jedoch bei der Bemessung der Höhe der Entschädigung zu berücksichtigen.

Mit dem weiter angegriffenen Urteil änderte das Kammergericht die Höhe der zu zahlenden Entschädigung auf 5.000 DM ab. Dabei interpretierte es die streitige Äußerung als Werturteil, wonach der Kläger als Arzt und Mensch mit dem KZ-Arzt Mengele auf gleicher Stufe der Gewissenlosigkeit stehe. Allein das Maß der Strafe, die das Landgericht verhängt habe, zeige jedoch, dass die Verfehlungen des Klägers nicht annähernd die historische Dimension von ärztlichem Verbrechertum erreicht hätten, derer sich Mengele schuldig gemacht habe.

Der Beschwerdeführer könne sich auch nicht auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen berufen, denn seine Äußerung habe allenfalls in einem räumlichen Zusammenhang mit seiner Vertretung der Nebenklägerinnen gestanden. Ebenso wenig rechtfertige ihn seine emotionale Betroffenheit.

Bei der Bemessung der Entschädigungssumme sei einerseits das nicht geringe Gewicht der Verletzung des Persönlichkeitsrechts zu berücksichtigen. Andererseits müsse der Tatsache Rechnung getragen werden, dass es sich beim Kläger um eine kritikwürdige Arztpersönlichkeit handle, die als solche nicht denselben Schutz wie ein völlig integrer Arzt verdiene.

3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 5 und Art. 12 GG. Seine Äußerung enthalte keine Gleichsetzung des Klägers mit Mengele, sondern einen transponierenden Vergleich, mit dem lediglich abstrakte Eigenschaften Mengeles auf den Kläger übertragen würden. Solche transponierenden Vergleiche seien weit verbreitet und im Lichte des Art. 5 Abs. 1 GG zulässig. Die Gerichte hätten zudem verkannt, dass er in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt habe. Seine Äußerung habe in unmittelbarem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit seiner anwaltlichen Tätigkeit als Vertreter der Nebenklägerinnen gestanden.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Annahmegründe nach § 93 a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Einer Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in die Frist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG bedarf es nicht, denn die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Die in Rede stehende Äußerung fällt in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Meinungsfreiheit ist jedoch nicht vorbehaltlos gewährleistet. Sie findet ihre Grenzen nach Art. 5 Abs. 2 GG unter anderem in den allgemeinen Gesetzen, zu denen § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG als Grundlage des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes gehört.

2. Grundrechtsbeschränkende Vorschriften des einfachen Rechts sind ihrerseits wieder im Lichte des eingeschränkten Grundrechts auszulegen und anzuwenden, damit der wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit auch auf der Rechtsanwendungsebene Rechnung getragen wird (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; stRspr). Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts sind grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob diese den Grundrechtseinfluss ausreichend beachtet haben (vgl. BVerfGE 101, 361 <388>).

a) Mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist es unvereinbar, wenn ein Gericht an eine bestimmte Deutung einer in der Vergangenheit getätigten Äußerung straf- oder zivilrechtliche Sanktionen knüpft, obwohl diese Äußerung mehrdeutig ist und das Gericht andere mögliche, das Persönlichkeitsrecht nicht oder weniger beeinträchtigende Deutungsvarianten nicht mit schlüssigen Gründen ausgeschlossen hat (vgl. BVerfGE 82, 43 <52>; 93, 266 <295 f.>).

b) Auf der Ebene der Rechtsanwendung verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die dem Persönlichkeitsrecht auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite droht, bei der alle wesentlichen Umstände zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>; stRspr). Dabei muss die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn die Äußerung die Menschenwürde eines anderen antastet (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>). Lässt sich eine Aussage weder als Angriff auf die Menschenwürde noch als Formalbeleidigung oder Schmähung einstufen, so kommt es für die Abwägung auf die Schwere der Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter an. Handelt es sich bei der umstrittenen Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, so spricht eine Vermutung zugunsten der Freiheit der Rede. Abweichungen davon bedürfen einer Begründung, die der konstitutiven Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie Rechnung trägt (vgl. BVerfGE 93, 266 <294 f.>).

3. Die angegriffenen Entscheidungen sind nach diesen Maßstäben von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

a) Dies gilt zunächst in Bezug auf die von den Gerichten vorgenommene Deutung der streitigen Äußerung. Die Entscheidungen gehen nicht, wie der Beschwerdeführer rügt, von einer Gleichsetzung des Klägers mit dem KZ-Arzt Mengele in dem engen Sinne einer Unterstellung identischer Grausamkeiten aus. Vielmehr verstehen sie die streitige Aussage, wie der Beschwerdeführer selbst, als Zuschreibung von abstrakten Eigenschaften, die Mengele als Arzt und Mensch auszeichneten, namentlich ein erhebliches Maß an Gewissenlosigkeit. Eine das Persönlichkeitsrecht weniger beeinträchtigende Interpretation, welche die Gerichte verkannt hätten, ist nicht ersichtlich und hat auch der Beschwerdeführer nicht vorgetragen.

b) Es begegnet des Weiteren keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass die Gerichte dem Persönlichkeitsrecht des Klägers im Rahmen der Abwägung Vorrang vor der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers eingeräumt haben.

aa) Dabei kann dahinstehen, ob - wie das Landgericht annimmt - der Vergleich mit dem KZ-Arzt Mengele als Verletzung der Menschenwürde des Klägers einzustufen ist. Denn die Gerichte haben jedenfalls ergänzend eine Abwägung vorgenommen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt.

bb) Zugunsten der Meinungsfreiheit haben die Gerichte angenommen, dass es sich bei der Bewertung des DDR-Doping-Systems und der Verantwortung der beteiligten Ärzte um eine die Öffentlichkeit berührende Frage handle, weshalb eine Vermutung für die freie Rede und die Zulässigkeit der Äußerung des Beschwerdeführers spreche. Sie haben damit einen verfassungsrechtlich maßgeblichen Gesichtspunkt in die Abwägung eingestellt. Dass sie dem Schutz des Persönlichkeitsrechts gleichwohl den Vorrang eingeräumt haben, ist nicht zu beanstanden. Mit der Vermutung für die freie Rede ist kein absoluter Vorrang der Meinungsfreiheit verbunden. Den erhöhten Begründungsanforderungen für eine Abweichung von der Vermutungsregel genügen die Entscheidungen.

Zur Bewertung der Schwere der Persönlichkeitsrechtsverletzung haben die Gerichte zunächst das mit der Bezeichnung als "Mengele des DDR-Doping-Systems" verbundene Unwerturteil und die dem Kläger zur Last gelegten Verfehlungen gegenübergestellt. Insoweit sind sie zu dem Ergebnis gekommen, dass die Taten des Klägers mit Blick auf die in ihnen zum Ausdruck kommende Gewissenlosigkeit nicht annähernd jenen Mengeles vergleichbar sind. Sie haben damit in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise das Gewicht des Angriffs auf die äußere Ehre des Klägers, also auf seinen sozialen Geltungsanspruch, beurteilt. Bei der Bemessung der Entschädigungssumme fand zugunsten des Beschwerdeführers der Umstand Berücksichtigung, dass es sich beim Kläger gleichwohl um eine kritikwürdige Arztpersönlichkeit handelt, deren Ruf bereits beschädigt war.

Die von den Gerichten der Abwägung zugrunde gelegte Annahme, dass die Einschränkung des Vergleichs auf den Mengele "des DDR-Doping-Systems" in der öffentlichen Wahrnehmung keine wesentliche Beachtung finden werde, stellt eine vertretbare Einschätzung der Wirkung der Äußerung in der Öffentlichkeit dar. Diese Wirkung ist für die Intensität einer Persönlichkeitsrechtsverletzung mitentscheidend. Deshalb begegnet es des Weiteren auch keinen Bedenken, dass die Gerichte die Verbreitung des Zitats in der Tagesschau berücksichtigt und angenommen haben, dass die Rufschädigung hierdurch erheblich intensiviert wurde.

Dass die Gerichte schließlich die emotionale Betroffenheit des Beschwerdeführers nicht als Rechtfertigungsgrund anerkannt haben, ist angesichts der Schärfe der Kritik und der damit verbundenen Schwere der Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

Von einer weiteren Begründung wird abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.



Ende der Entscheidung

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